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11. Juni 2014 3 11 /06 /Juni /2014 14:12

Vortrag im Rahmen der Ethik-Vorlesung an der Hochschule Esslingen (Fakultät Soziale Ar­beit) am 27.5.2014

 

Statt Hilfe und Unterstützung erfuhren sie Unrecht und Leid – Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung der Vierziger-Siebzigerjahre.

 

Zunächst eine Vorbemerkung zu den Grundlagen meines Vortrags:

- Berufserfahrung als junger Sozialpädagoge in der Heimerziehung in den Jahren 1960 – 1968

- Supervisor von pädagogischen Fachkräften in Heimen und sozialpädagogischen Wohngemeinschaften

- Lehrtätigkeit in Ausbildungs- und Studiengängen (Fachschulen, Fachhochschulen, Universitäten)

- Beteiligung an der Kritik der Heimerziehung Ende der Sechzigerjahre (Heimkam­pagne) und an der Entwicklung von Alternativen

- Wissenschaftliche und publizistische Arbeiten zur Heimerziehung (1. Veröffentli­chung 1964 in der Fachzeitschrift „Unsere Jugend“ – jüngste Veröffentlichung in der Zeitschrift „Widersprüche“ im März 2014 und in der TAZ vom 3.3.2014)

- Sachverständiger im Petitionsausschuss und im Familienausschuss des Bundestages

- Mitglied im Fachbeirat des AFET (Bundesarbeitsgemeinschaft für erzieherische Hil­fen) 2004 – 2012

- Mitglied im Fachbeirat der Berliner Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder (West und Ost)

- Moderation der Berliner Gruppe ehemaliger Heimkinder bis Juli 2012

- Unterstützung der Initiative ehemaliger Heimkinder für ihre Rehabilitation und Entschädigung seit 2005.

Mit der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 wurde auch die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe und Jugendpflege (AGJJ – heute AGJ) als Dachverband der Jugendhilfe gegründet. Gründungsmitglieder waren alle großen öffentlichen und freien Träger der Jugendhilfe. In der von Franz Josef Strauß, dem damaligen Leiter des Referats Jugend­hilfe im Bayrischen Innenministerium, unterschriebenen Gründungsurkunde heißt es: „Durch die Arbeitsgemeinschaft soll die Tätigkeit der Behörden, der Verbände und Verei­nigungen zusammengefasst und für die Jugendwohlfahrt fruchtbar gemacht werden. Es sollen damit alle Kräfte, die in echter Verantwortung dem Wohl und der Förderung unse­rer Jugend dienen, nach den Grundrechten, die im Grundgesetz der Bundesrepublik ver­ankert sind, sich in wirksamer Weise für dieses Ziel frei entfalten können“. Aber trotz der Bindung an das GG und obwohl der Schutz der Menschenwürde und der Persönlich­keitsrechte durch die Grundrechte in der Verfassung seit der Gründung der Bundesrepu­blik Deutschland ohne Einschränkungen auch für die Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder und Jugendlichen galt die in Heimen leben mussten. Für den Schutz diese Kinder und Ju­gendlichen, die die Fürsorge und Geborgenheit einer Familie entbehren mussten, hatte der Staat eine besondere Verpflichtung: das staatliche Wächteramt nach Art. 6 GG, des­sen Ausübung die wichtigste Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe hätte sein müssen. Dennoch wurden sie in den Heimen der Jugendhilfe (damals Jugendfürsorge) wie bis 1945 weiterhin zu Ausgelieferten, die keine Chance hatten, sich gegen die ihnen zuge­fügte Erniedrigung, Unterdrückung und Ausbeutung zu wehren. Es gab keine Instanz, kei­ne Person die ihnen zugehört oder gar geglaubt hätte.

Nicht erst aus dem historischen Abstand von heute aus gesehen ist klar, dass die Jugend­hilfe ihre Verpflichtung und Selbstverpflichtung auf die Grundrechte der Verfassung, auf Menschenwürde und Menschenrechte, wie sie in dem Gründungsdokument der AGJJ aus dem Jahr 1949 formuliert wurde, in der Alltagspraxis der Heimerziehung während der ersten drei Jahrzehnte der Bundesrepublik nicht eingelöst hat.

Die mit den zentralen Grundlagen eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates in krassem Widerspruch stehenden Zustände in der Heimerziehung waren der Fachöffent­lichkeit und der Kinder- und Jugendpolitik zu jedem Zeitpunkt der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte bekannt. Es gab auch zu jedem Zeitpunkt einzelne Einrichtungen und Modellprojekte, die zeigen konnten, dass eine die Würde und die Rechte von Kin­dern/Jugendlichen achtende, ihre individuelle Entwicklung fördernde Erziehungspraxis in Heimen möglich war. Aber die unselige „Tradition“ der Fürsorgeerziehung als Zwangs­erziehung, die durch die NS-Jugendfürsorge noch eine Zuspitzung erfahren hatte, welt­anschaulich-ideologische Barrieren und fehlender politischer Wille verhinderten über dreißig Jahre die flächendeckende Umsetzung von Alternativen und führten dazu, dass ca. 800 000 Mädchen und Jungen, ein erheblicher Teil von ihnen auch in Baden-Württem­berg, in Heimen leben mussten, die zum Typus der Totalen Institutionen (Goffman 1967) gehörten.

Erziehungsheime für Jugendliche

Lange bevor diese soziologische Kategorie für auf Zwang beruhende und ihre „Regeln“ mit Gewalt gegen die in ihr „untergebrachten“ Menschen durchsetzende Systeme entwi­ckelt wurde und zu einem festen Begriff in den Gesellschaftswissenschaften werden konnte, hatten Kritiker der Heimerziehung im Nachkriegsdeutschland genau beschrie­ben, was eine Totale Institution ist und was sie den ihr Ausgelieferten antut.

Elisabeth Bamberger, die in den ersten Jahren nach Krieg und Faschismus das Jugendamt in München leitete, forderte schon 1948 die Abschaffung der Fürsorgeerziehung und die Streichung des unbestimmten Rechtsbegriffs Verwahrlosung aus dem Jugendwohlfahrts­gesetz (JWG). Die Praxis der Fürsorgeerziehung hielt sie für pädagogisch kontraproduktiv und politisch mit einer demokratischen Gesellschaftsordnung nicht vereinbar. Sie kriti­sierte auch die bürokratische „seelenlose Aktenführung“ und Berichterstattung über Kin­der, Jugendliche und ihre Familien in Jugendämtern und Heimen.. In dem Standardwerk „Handbuch der Heimerziehung“ wurde 1955 der „Zwangscharakter“ der Fürsorgeerzie­hung scharf kritisiert: „Sie erfordert eine rationale Durchgestaltung der Erziehung. Die Methode herrscht. Die Ordnung des Zusammenlebens erstrebt die erhöhte Brauchbarkeit des Zöglings. Das Erzieher-Zöglings-Verhältnis ist autoritär. Lehrer, Meister und Erzieher fordern als Vertreter objektiver Ansprüche Gehorsam. Deshalb gilt die gehorsame Unter­ordnung unter den Anspruch der Ordnung als Erziehungserfolg. Die menschliche Zuord­nung dient den Ordnungs-, Lehr- und Arbeitsansprüchen. Unerbittlich hart werden Ord­nungs- und Arbeitsgewöhnung organisiert. Die Dressur überwiegt das Bedürfnis, Einsicht zu wecken. Die Entschlossenheit der Macht, die das Ordnungssystem schützt, lässt über­all den Strafcharakter noch durchschimmern. Die eindeutige Ausrichtung auf ein arbeits­hartes Leben macht die Anstalt klar, einfach und durchsichtig. Der Apparat garantiert die Ordnung, die Leitung ordnet die Arbeit an, überwacht sie und bricht den Widerstand mit Gewalt. Drill, blinder Gehorsam und die Entpersönlichung des Verkehrs werden auf die Spitze getrieben. Der Anstaltsapparat mit seinem pädagogisch unvorgebildeten Aufseher­stab bildet den äußeren Rahmen des versachlichten Lebens. Es wird unentwegt gearbei­tet, um die Kraft der anderen Triebe zu schwächen. Die Arbeit richtet sich gegen körper­liche Verweichlichung. Schwere körperliche Arbeit wird bevorzugt. Die Ausbildung in spezialisierter Arbeit von Lehr- und Anlernberufen wird als seltene Vergünstigung und als Arbeitsantrieb benutzt.“

Entgegen der Forderung der ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch Heimerziehung (RTH) wurde diese „Arbeit“ von der Mehrheit der Institutionenvertreter am RTH nicht als nach dem Grundgesetz verbotene Zwangsarbeit anerkannt, obwohl die im Abschlussbe­richt des Gremiums dargestellten Fakten und alle bekannten Forschungsergebnisse die Bewertung als Zwangsarbeit rechtfertigen würden.. Diese Nichtanerkennung ist einer der Gründe für die Verweigerung einer angemessenen finanziellen Entschädigung und eine der Hauptursachen für die große Unzufriedenheit vieler ehemaliger Heimkinder mit den „Empfehlungen“ des RTH, die auf der Basis des Bundestagsbeschlusses vom Juli 2011 ge­genwärtig durch den Fonds Heimerziehung und die Anlauf- und Beratungsstellen der Bundesländer umgesetzt werden.

Der Reformpädagoge und Mitbegründer der Gilde Soziale Arbeit Professor Hanns Eyferth charakterisierte schon 1950 die Verhältnisse in den Erziehungsheimen für Jugendliche folgendermaßen: „Sie richten sich auf eine Erziehung des durch Gehorsam erzwungenen vorschriftsmäßigen Verhaltens. Hier wirken sowohl ältere traditionelle Erziehungsauffas­sungen von der selbstverständlichen Gehorsamspflicht, wie konfessionelle Vorstellungen und schließlich militärische Vorbilder. Dabei haben wir aber nicht Aufseher, sondern Er­zieher vor uns“.

1970 veröffentlichte der in Sachen Erziehung renommierte Klett-Verlag (Stuttgart) eine empirische Studie zu drei Fürsorgeerziehungsheimen für männliche Jugendliche in Ba­den-Württemberg: einem staatlichen, einem katholischen und einem evangelischen. Die Befunde seiner Untersuchung, so der Autor Herrman Wenzel, seien lediglich eine Bestäti­gung seit langem bekannter Tatbestände. Je mehr Untersuchungen gleiche Missstände und Mängel aufzeigten, desto gültiger und dringender werde das Postulat, in der Erzie­hungshilfe neue Wege zu gehen. Der Misserfolg der Heimerziehung liege weitgehend im Versagen der Heime und Behörden begründet, das nicht mit fehlenden finanziellen Mit­teln in den öffentlichen Haushalten entschuldigt werden könne. Wenzel zitiert die schar­fe Kritik einer Delegation der britischen Regierung an der Praxis der Heimerziehung in Deutschland aus dem Jahre 1947 und vergleicht diese Kritik mit seinen Untersuchungser­gebnissen. Sein Resümee: „Inzwischen sind mehr als zwei Jahrzehnte verflossen; die Kritik der britischen Delegation hat aber nichts an ihrer Aktualität eingebüßt“.

1971 führte Professor Klaus Mollenhauer, einer der bedeutendsten Sozialpädagogen der „alten“ Bundesrepublik, eine empirische Untersuchung in sechs Erziehungsheimen durch. Ich zitiere das Ergebnis dieser Studie: „Eine Erziehung, die an den spezifischen Erzie­hungsbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert wäre, konnte in keinem der untersuchten Heime beobachtet werden. Die ermittelten Zielvorstellungen und die be­obachteten ihnen zugeordneten Methoden sind zugeschnitten auf abstrakte Normen, Ein­stellungs- und Verhaltensmuster, ohne dass deren Gültigkeit problematisiert würde, we­der generell, noch in Bezug auf die Population auf die sie gemünzt sind.

In diesem institutionellen und personellen Organisationszusammenhang werden die Kin­der und Jugendlichen als Störfaktoren definiert. Wenn Anpassung an die Erfordernisse der Organisation somit de facto als der Erziehungszweck des Heimes ausgemacht werden kann, so entspricht dem, dass eine im eigentlichen Sinne pädagogische Konzeption ent­weder gar nicht oder nur in unzulänglichen Ansätzen vorhanden ist“.

Kinderheime

Die Situation in den Heimen für schulpflichtige Kinder beschreibt Prof. Hanns Eyferth 1950 in seinem Buch „Gefährdete Jugend“: In diesen Heimen müssen die Kinder die gan­ze Hausreinigung, die grobe Küchenarbeit, das Holzhauen, die Botengänge und den größ­ten Teil der Arbeit in den Gärten und in der heimeigenen Landwirtschaft bewältigen. Durch die Arbeit der Kinder wurden Personalkosten eingespart. Die Kinderarbeit beurteil­te Eyferth als eine Gefährdung ihrer schulischen Bildung. Sie ließ den Kindern auch keine Zeit für selbstbestimmtes Spielen, dessen große Bedeutung für die emotionale und intel­lektuelle Entwicklung von Kindern auch schon 1950 zu den gesicherten Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und der Erziehungswissenschaft gehörte.

Es kann heute nicht mehr bestritten werden, dass die Kinder mit der ihnen abgezwunge­nen Arbeit die Binnenstrukturen der Heime aufrechterhalten mussten, in die sie durch die Jugendämter eingewiesen wurden. Staatliche und kirchliche Träger der Jugendhilfe betrieben also in großem Umfang verbotene Kinderarbeit. Diese gesetzwidrige Ausbeu­tung der Kinder ist eine der Hauptursachen für die den Heimkindern vorenthaltene schu­lische und berufliche Bildung. Ein erheblicher Teil von ihnen wurde ohne Volksschul- bzw. Hauptschulabschluss aus der Heimerziehung entlassen. Nach einer Untersuchung des Heimreformers Martin Bonhoeffer besuchten 1973 nur 1% der in Heimen lebenden Kinder und Jugendlichen eine weiterführende Schule. Dass sehr viele ehemalige Heimkinder heute in Altersarmut leben müssen und auf Grundsicherung bzw. ALG II angewiesen sind, ist darauf zurückzuführen. Wie die Zwangsarbeit von Jugendlichen ist auch die verbote­ne Kinderarbeit einer der Gründe für die Forderung der ehemaligen Heimkinder am RTH nach einer finanziellen Entschädigung in Höhe von anrechnungsfreien 300 Euro mtl. ge­wesen, die bekanntlich von der Mehrheit der Institutionenvertreter am RTH (Bund, Län­der, Kirchen) abgelehnt wurde.

Die einzige finanzielle Leistung aus dem Fonds Heimerziehung mit Bezug auf die wäh­rend der Unterbringung in Heimen geleisteten Arbeit, ist die sog. Rentenersatz- bzw. Rentenausgleichszahlung in Höhe von 300 Euro für jeden Monat, für den vom Heimträger keine Beiträge an die Rentenversicherung abgeführt wurden. Das gilt aber nur für Ju­gendliche ab dem 14. Geburtstag, die nicht mehr dem Verbot der Kinderarbeit unter­lagen. Für die den Kindern abgezwungene Arbeit gibt es keinen Cent. Ein Beispiel: In ei­ner großen diakonischen Einrichtung mussten die Kinder ab dem 10. Lebensjahr, nach dem Besuch der Heimschule am Vormittag, nachmittags an jedem Werktag vier Stunden in der Landwirtschaft der Anstalt arbeiten. Die selbe Arbeit mussten sie auch nach dem 14. Geburtstag als Jugendliche verrichten. Ein mir bekannter Ehemaliger, der mit sieb­zehn aus dieser Anstalt entlassen wurde, kann für die drei Jahre, die er als Jugendlicher in diesem Heim zur Arbeit gezwungen wurde, Geld aus dem Fonds bekommen. Für die vier Jahre verbotener Kinderarbeit in diesem Heim bekommt er nichts. Ein anderer Ehe­maliger, der schon als Sechsjähriger in der heimeigenen Landwirtschaft eines kirchlichen Heimes arbeiten musste, dann als Vierzehnjähriger in eine Handwerkslehre „mit Kost und Logis“ entlassen wurde, bekommt für die acht Jahre verbotener Kinderarbeit keinen Cent aus dem Fonds. Obwohl er ein begabtes Kind war, durfte er nur die „Hilfsschule“ besuchen, aber auch nur dann, wenn es die jahreszeitlich schwankenden „Bedürfnisse“ der Landwirtschaft des Heimes zuließen.

Diese vollständige Nichtanerkennung der erzwungenen Kinderarbeit in den Heimen durch den RTH, den Bundestag und die Bund-Länder-Kirchen-Vereinbarung zur Errichtung des Fonds Heimerziehung hat neues schweres Unrecht gegenüber ehemaligen Heimkindern geschaffen, das eine Quelle großer Enttäuschung und Unzufriedenheit ist.

Die Entschädigungsfrage

In den 40er bis 70er Jahren haben Hunderttausende Kinder und Jugendliche durch die ih­nen in den Heimen der Jugendhilfe der damaligen Bundesrepublik abgezwungene Arbeit in der Haus- und Landwirtschaft der Heime selbst, in Eigenbetrieben der Heimträger und als an Fremdfirmen Ausgeliehene mehrstellige Milliardenbeträge erwirtschaftet. Mit die­sem Geld wurden Jahr für Jahr die Budgets der Jugendhilfe entlastet und damit zuletzt der Steuerzahler. Der RTH hätte diesen Sachverhalt mit einer wirtschaftswisssenschaftli­chen Expertise aufklären können und damit eine Grundlage für eine politisch zu vertre­tene und der Öffentlichkeit zu vermittelnde angemessene finanzielle Entschädigung ehe­maliger Heimkinder bekommen. Aber obwohl von den ehemaligen Heimkindern am RTH die Anerkennung der verbotenen Kinderarbeit und der Zwangsarbeit von Jugendlichen vom ersten bis zum letzten Tag der Arbeit des RTH eingefordert wurde, obwohl die wirt­schaftliche Bedeutung dieser Arbeit von ihnen immer wieder betont wurde und obwohl sie den direkten Zusammenhang zwischen der erzwungenen Arbeit und der ihnen vorent­haltenen Bildung immer wieder dargelegt haben, wurde diese Expertise von der Leitung des RTH nicht in Auftrag gegeben und dem Bundestag empfohlen, die diesbezüglichen Forderungen der ehemaligen Heimkinder zurückzuweisen. Der Versuch von mir und ande­ren Sachverständigen, in der die Plenumsentscheidung vorbereitenden Sitzung des Fami­lienausschusses diese folgenreiche Fehlentscheidung zu korrigieren, scheiterte an der Weigerung der Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages, die „Empfehlungen“ des RTH noch einmal daraufhin zu überprüfen, ob sie, wie es den ehemaligen Heimkindern am Beginn dieses Prozesses in Aussicht gestellt worden ist, wirklich einen angemessenen Beitrag zu ihrer Rehabilitation und Entschädigung leisten und für den sozialen Frieden in dieser Gesellschaft förderlich sind.

Säuglings- und Kleinkinderheime

Obwohl für viele ehemalige Heimkinder ihre sog. Heimkarriere (ein schreckliches und zy­nisches Wort, weil mit Karriere eigentlich eine individuelle Erfolgsgeschichte gemeint ist) in den Säuglings- und Kleinkinderheimen begann, spielten diese Heime in der „Aufar­beitung“ am RTH und in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle. Das liegt unter ande­rem daran, dass die Erfahrungen der ersten drei bis vier Lebensjahre bei den meisten Menschen im Gedächtnis nicht gespeichert werden. In den autobiografischen Berichten ehemaliger Heimkinder die von Geburt an in Heimen leben mussten, finden sich daher kaum Hinweise auf die Praxis der Pflege und Erziehung von Säuglingen und Kleinkindern in diesen Heimen. Allerdings sind die Auswirkungen der sog. Massenpflege international schon seit den Dreißigerjahren und in der Bundesrepublik verstärkt in den Fünfzigerjah­ren umfassend erforscht worden und unter dem Stichwort Hospitalismusschäden nicht nur unter Fachleuten seither bekannt.

In der internationalen Fachliteratur werden seit langem die depravierenden Langzeitfol­gen der bis in die Siebzigerjahre üblichen Massenpflege in Säuglings-mund Kleinkinder­heimen genau beschrieben. Ihre Bedeutung für die Entstehung von Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) ist durch die Psychotraumatologie belegt. Die Forschungser­gebnisse zum Deprivationssyndrom zeigen, dass Heim- bzw. Klinikaufenthalte von Säug­lingen schon nach einer Dauer von wenigen Monaten schwere Traumatisierungen mit le­benslangen Folgen bewirken können.

Der AGJJ-Fachausschuss Erziehung im frühen Kindesalter befasste sich 1956 mit der Si­tuation von Säuglingen und Kleinkindern in Heimen. In seinem Bericht werden die Bedin­gungen der Massenpflege – „Der ganze Umfang des Mangels von dem das Heimkind be­troffen wird“ – detailliert beschrieben. Auch die Auswirkungen dieser Mangelsituation auf die kleinen Kinder werden klar und eindringlich dargestellt: „Kinder aus solchen Heimen bleiben in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung weit zurück, sodass sie nicht sel­ten wie Schwachsinnige wirken. (…) Nicht nur in der äußeren Entwicklung nimmt es (das kleine Kind, M.K.) Schaden, es entbehrt entscheidende, die Person des Menschen prägen­de Erfahrungen. Die Auswirkungen dieser menschlichen Verkümmerung, zum Beispiel Kontaktmangel, Misstrauen, vermindertes Selbstbewusstsein, Abwehrreaktion, reichen tief und weit in das spätere Leben hinein. Wir wissen heute, dass die Gesamthaltung zum Leben von diesen ersten Erfahrungen abhängt“. Der Ausschuss kam zu dem Fazit: „Aus solchen Erkenntnissen ergibt sich zwingend, dass das Problem der Heimerziehung der Säuglinge und kleinen Kinder neu gesehen werden muss und nach neuartigen, besse­ren Lösungen verlangt“. Der Ausschuss forderte die Ersetzung der Säuglings- und Klein­kinderheime durch Kleinstheime, Mutter-Kind-Einrichtungen, Ausbau des Pflegekinder­wesens, einen Personalschlüssel von zwei ausgebildeten Fachkräften für fünf Kinder und eine weitreichende Reform der Erzieherausbildung. Allen Mitgliedsverbänden der AGJJ, unter ihnen alle großen freien und öffentlichen Träger der Heimerziehung und der Bun­desregierung wurden die Ergebnisse der Arbeit dieses AGJJ-Auschusses zugeleitet. In den AGJJ-Akten findet sich keine einzige Reaktion der Heimträger und der zuständigen Minis­terien des Bundes der Länder und der Landesjugendämter auf diesen erschütternden Be­richt. Die Forderungen wurden insgesamt ignoriert. Auch vom Land Baden-Württemberg und den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden, die in staatlichem Aftrag mehr als 70% der Heime betrieben , kam keine Reaktion.

1958 veröffentlichte die Kinder- und Jugendpsychiaterin Annemarie Dührssen ihre aufse­henerregende empirische Studie Heimkinder und Pflegekinder in ihrer Entwicklung. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung bestätigten die Erkenntnisse des AGJJ-Ausschusses, waren allerdings bezogen auf die traumatisierenden Folgen der Massenpflege in den Säuglings- und Kleinkinderheimen noch genauer und weitreichender. Die Autorin kam zu folgendem Resümee: „Halten wir uns all die schlimmen Dinge vor Augen, dann wird uns deutlich, dass nur ein großzügig angelegtes Doppelprogramm wirklich Abhilfe schaffen kann, bei dem die Vermehrung des Personalbestandes unbedingt mit sorgfältiger fachlicher Ausbil­dung der notwendigen Hilfskräfte Hand in Hand geht. Dazu müssten umfangreiche wirt­schaftliche Mittel zur Verfügung gestellt werden, was aber nicht geschehen wird. (…) Womit wir unbedingt aufhören müssen, das ist die Beschwichtigung unseres Verantwor­tungsgefühls mit der Vorstellung, dass die Schäden, die bei der bisherigen Form entste­hen, nicht so schlimm seien, dass sie sich auswachsen oder dass sie letzten Endes konsti­tutionsbedingt seien.“ Dührssen kritisierte, dass sich die Verantwortlichen für die Misere der Säuglings- und Kleinkinderheime um ihr Versagen zu verschleiern „mit Hilfe von ne­belhaften Vorstellungen über wissenschaftliche Einsichten“ hinwegsetzten, „die mindes­tens seit einem halben Jahrhundert zum Kenntnisstand der Medizin, der Psychologie und der Reformpädagogik gehören“. Während meiner 1959 begonnenen sozialpädagogischen Ausbildung war dieses Buch für mich ein Schlüsseltext, der wesentlich zu meiner Sensibi­lisierung für die unhaltbaren Zustände in der Heimerziehung und zu meinem Entschluss, nach der Ausbildung selbst in die Heimerziehung zu gehen und an der Veränderung dieser Verhältnisse zu arbeiten, beigetragen hat. Leider traf die Voraussage von Annemarie Dührssen zu: die notwendigen Mittel wurden nicht zur Verfügung gestellt; die men­schenunwürdige und das zukünftige Leben von Säuglingen und kleinen Kindern zerstören­de Praxis der Massenpflege wurde, in vollem Bewusstsein der Folgen, nicht abgeschafft.

Auf dem zweiten Deutschen Jugendhilfetag im Jahr 1966 befasste sich eine Arbeitsgrup­pe unter der Leitung des Münchener Sozialpädagogen Andreas Mehringer mit dem „Erzie­hungsheim als Bildungsträger“. In ihrem Bericht beklagen die Mitglieder der AG, dass die Heimerziehung bezogen auf Säuglinge und kleine Kinder nach wie vor versage: „Der im­mer noch blühende Säuglingshospitalismus ist eine der stärksten Wurzeln für Erfolgslosig­keit im Bildungsbemühen der Heimerziehung“. Und es sollte noch einmal ein gutes Jahrzehnt dauern, bis Ende der Siebzigerjahre diese Heime endlich abgeschafft wurden.

Bei Tausenden Kindern wurden die durch die Heimerziehung hergestellten Hospitalismus­schäden umgemünzt in Scheindiagnosen von erblich bedingtem Schwachsinn, Lernbehin­derungen, Schwererziehbarkeit etc. Die Kinder wurden zwischen Heimen der Jugendhil­fe, der Psychiatrie und Einrichtungen für behinderte Kinder hin und her geschoben und viele von ihnen wurden als „bildungsunfähig“ etikettiert. Diese Stigmatisierung haftet ihnen ein ganzes Leben an. Diese „Zusammenarbeit“ zwischen Jugendhilfe und Psychia­trie und ihre schlimmen Folgen für die von ihr betroffenen Kinder und Jugendlichen, ein­schließlich des Schicksals der in Heimen der sog. Behindertenhilfe untergebrachten, wur­de vom RTH nicht aufgeklärt. Für die ehemaligen Heimkinder, die in Heimen der „Behin­dertenhilfe“ leben mussten sah sich das Gremium nicht zuständig und zum Verhältnis von Psychiatrie und Jugendhilfe hätten ihm, so heißt es im Abschlussbericht des RTH, keine Forschungsergebnisse zur Verfügung gestanden. Diese Praxis war aber allen Fach­kräften und Verantwortlichn der Kinder- und Jugendhilfe jener Jahre bekannt.

Die Wege ins Heim

Kinder und Jugendliche wurden nicht erst hinter den Türen der Heime zu entrechteten Opfern von demütigender Willkür und Gewalt. Solche Erfahrungen mussten sie schon während der ganzen Prozedur machen, an deren Ende die „Unterbringung“ stand. Darum ist die Frage, wie die Kinder und Jugendlichen in die Heime kamen, von ebenso großer Bedeutung wie die Frage nach den Lebensbedingungen und der Erziehungspraxis inden Heimen. Beides gehört zusammen, wenn es um eine realistische Beurteilung der Heimer­ziehung der Vierziger- bis Siebzigerjahre geht.

Auf mannigfachen Wegen wurde die Aufmerksamkeit des örtlichen Jugendamtes auf Fa­milien, Kinder und Jugendliche gerichtet. Die soziale Kontrolle bezogen auf die Einhal­tung der von der Mittelschicht geprägten normativen Erwartungen der Gesellschaft, war in der Bundesrepublik bis in die Siebzigerjahre in Abwehr der kulturellen Liberalisie­rungstendenzen in der Gesellschaft sehr dicht. Vor allem in ländlichem und kleinstädti­schem und stark religiös bestimmtem Milieu wie in Bayern, war diese moralisch engher­zige und bigotte Kontrolle unmittelbar wirksam. Nachbarn, LehrerInnen, Kirchengemein­den, Lehrherren gaben Hinweise oder es handelte sich um Kinder/Jugendliche aus im Gemeinwesen bekannten sogenannten Problemfamilien.

Eine immer von Heimerziehung bedrohte große Gruppe waren unehelich geborene Kin­der, die besonders in religiös bestimmten Milieus von vornherein als „Kinder der Sünde“ von „gefallenen Mädchen und Frauen“ diskriminiert wurden. Diese Kinder standen als „Amtsmündel“ von Geburt an unter der Aufsicht des Jugendamtes und des Vormund­schaftsgerichtes. Dieser Automatismus wurde erst um 1970 durch eine Verbesserung der Rechtsstellung der „unehelichen Mutter“ gemildert. Sehr viele dieser Kinder wurden un­mittelbar nach ihrer Geburt von ihren Müttern getrennt und in Säuglings- und Kleinkin­derheime gebracht, in denen ihr Anteil immer zwischen 70% bis 80% schwankte. In den Heimen für Schulkinder und Jugendliche stellten sie immer eine große Gruppe. Ihr Schicksal in den zu 70% von den Kirchen bzw. ihren Orden und Wohlfahrtsverbänden be­triebenen Heimen, in denen als ErzieherInnen Nonnen, Ordensbrüder, Diakonissen und Diakone arbeiteten, die zum großen Teil keine Fachausbildung hatten, war besonders be­drückend, da sie zusätzlich noch unter der nie endenden Diskriminierung als „Hurenkin­der“ und „Kinder der Sünde“ leiden mussten und ihre Mütter, von denen sie strikt fern­gehalten wurden, von den religiösen ErzieherInnen als „unkeusche Flittchen“ deren sün­diges Erbe sie in sich trügen, verteufelt wurden. Diese Kinder waren der Willkür der Jugendämter, die leider durch die Vormundschaftsgerichte nicht gestoppt und kontrol­liert wurden, schutzlos ausgeliefert und wurden in die Heime regelrecht „entsorgt“, wo sie ein besonderes Schattendasein führten. Sie hatten i.d.R. überhaupt keinen Anschluss an eine Herkunftsfamilie, wussten oft nichts über ihre Herkunft, und konnten sich auf Grund ihrer kompletten Heimsozialisation gegen die Willkür des Heimpersonals noch we­niger wehren als andere Kinder und Jugendliche. 1976 sorgte ein Untersuchungsbericht über „Vergessene Heimkinder“ für einen bundesweit diskutierten Skandal. Im Jugendamt einer norddeutschen Provinzstadt wurde bei einer Aktenrevision entdeckt, dass 131 Ju­gendliche bereits 10 bis 15 Jahre in Heimen lebten, ohne dass seit der Heimeinweisung jemals überprüft worden war, ob die Gründe für die damalige Entscheidung noch bestan­den. Bei einigen Jugendlichen fanden sich in den Akten keine Hinweise darauf, in wie vielen und welchen Heimen sie schon gewesen waren, bei anderen konnte nicht ermit­telt werden seit wann sie im Heim lebten und bei 39 Kindern fanden sich keine Angaben über die Gründe für die Heimunterbringung. Bei 81 Jugendlichen fanden sich keine Ent­wicklungsberichte. Von all diesen „Versäumnissen“ waren überproportional die Jugendli­chen betroffen, die als „Amtsmündel“ unter Amtsvormundschaft des Jugendamtes stan­den und für die die Vormundschaftsgerichte die letzte Verantwortung trugen. In der Fol­ge dieses Skandals wurden in weiteren Jugendämtern der Republik ebenfalls „Vergessene Heimkinder“ entdeckt, so dass diese Bezeichnung für einige Zeit zu einem in der Jugend­hilfe geläufigen Begriff wurde.

Das wichtigste juristische Instrument bei den Entscheidungen der Jugendämter und Vor­mundschaftsgerichte über Heimeinweisungen von Kindern und Jugendlichen, ja sogar von Säuglingen, war die Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe Verwahrlosung und drohende Verwahrlosung, (und wenn es um die Anordnung von Fürsorgeerziehung /FE ging oft in Verbindung mit Gefahr im Verzuge), die in § 63 des Reichsjugendwohlfahrts­gesetzes (RJWG) bzw. ab 1962 in § 64 JWG geregelt waren. Elisabeth Bamberger hatte die Tilgung der Verwahrlosungsparagrafen aus dem RJWG gefordert, weil sie in der Praxis der Jugendämter und Gerichte völlig unkontrolliert mit den subjektiven Vorstellungen von Moral, Sitte und Anstand der ihn handhabenden Beamten und Richter aufgeladen wurden, die ihrerseits weitgehend vom „gesunden Volksempfinden“ und ihrer eigenen Mittelschichtsozialisation geprägt waren. In einer Veröffentlichung des Evangelischen Reichserziehungsverbandes (EREV) schrieb 1958 ein Psychologe: „Man versteht unter Verwahrlosung, ganz allgemein gesagt, eine Summe von Verhaltensweisen eines Men­schen, die aus dem Rahmen des sozial Üblichen herausfallen. Verwahrloste Kinder und Jugendliche zeigen in ihrem Verhalten auffällige Erscheinungen, die zwar in sich oft wi­dersprüchlich sein können und individuell unterschiedliche Stärkegrade haben können, die aber doch so viel Gemeinsames aufweisen, dass der Sammelbegriff ‚Verwahrlosung’ durchaus gerechtfertigt erscheint (…). So sind Verwahrloste zunächst einmal in jedem Fall unfähig, sich in die Gemeinschaft einzugliedern, sich den sozialen Ordnungen und Verbindlichkeiten zu fügen und verantwortlich zu handeln. Sie erscheinen ohne Pflicht­bewusstsein, sie sind egozentrisch und unberechenbar, launisch, undiszipliniert und Ge­mütsregungen sind, mindestens nach außen hin, selten ersichtlich. Ihr Mangel an Halt, an Willen, an Leistungsbereitschaft, an echter Kontaktfähigkeit kennzeichnet sie in ih­rem Verhalten zur Umwelt. Sie haben einen Hang zum Stehlen, Lügen, Betrügen und zu sexuellen Fehlhaltungen; ihre egoistische Anspruchshaltung treibt sie zu frechem, ro­hem, oft brutalem Benehmen. (…) Damit sie ihre materiellen Wünsche befriedigen kön­nen und weil sie sittlichen Forderungen gegenüber taub sind, verfallen sie leicht der Pro­stitution. Ihr Verhältnis zur Arbeit ist gekennzeichnet durch einen Mangel an Ausdauer. Sie bummeln, schwänzen die Schule, bleiben der Arbeit fern, wie es ihnen passt. Schon bei geringen Belastungen, Anforderungen oder Reibungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen kommt es zu Weglaufen und nächtlichem Herumstreunen. Sie weichen fort­während der Wirklichkeit aus, die sie als Last und Einengung empfinden“. Der Autor kon­frontiert in diesem „Fernschulungsbrief“ seine LeserInnen – ErzieherInnen in Heimen der Diakonie – um ihnen einen Spiegel vorzuhalten. Im „Banne moralpädagogischer Auffas­sungen“, schreibt er, beurteilen Erzieher das Verhalten ihrer Zöglinge von einem „mora­lisch-wertenden Standpunkt aus“ mit Vokabeln wie „faul, arbeitsscheu, verschlagen, die­bisch, lügnerisch, heimtückisch, mannstoll, sittlich verkommen, frech, unverschämt, schmutzig, gemeinschaftsstörend usw.“. Alle diese Vokabeln habe er „in zahlreichen Be­urteilungsberichten an die Behörden lesen“ können – ein ganzes Wörterbuch der diskri­minierenden, demütigenden und verächtlich machenden pädagogischen Sprache, die bis weit in die Siebzigerjahre hinein in Einrichtungen und Behörden der Jugendhilfe gespro­chen wurde. Sie kennzeichnete einen hermetischen Kreis von Ämtern, Gerichten, Trä­gern und Heimen , in den die Heimkinder unentrinnbar eingeschlossen waren. Diese Sprache der Verunglimpfung, gesprochen von Personen mit öffentlichem Ansehen „die es ja wissen mussten“, produzierte und verstetigte das öffentliche Bild vom „verwahrlosten und schwererziehbaren Heimkind“, das den solchermaßen Stigmatisierten ein Leben lang anhaftet und eine der Hauptursachen für das jahrzehntelange Schweigen der ehemaligen Heimkinder war, das mit ihrer 2003 begonnenen Initiative für ihre Rehablitierung und Entschädigung, die auch zu unserer heutigen Veranstaltung geführt hat, jetzt endlich ge­brochen wird.

Zu den „Wegen ins Heim“ wäre noch viel zu sagen. Besonders zu den oft brutalen und täuschenden Methoden der „Überführung“, „Überstellung“, „Zuführung“, „Aufgreifung und Rückführung“ (nach erfolglosen Fluchten) – aber dazu reicht die Zeit für diesen Vor­trag nicht. Ich habe in der Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (ZJJ) Nr.3/ 2011 ausführlich darüber berichtet. Heute will ich zu den „Wegen ins Heim“ Sonja Djurovic zitieren, die als ehemaliges Heimkind am RTH mitgearbeitet hat. Sie berichtet aus eigener Erfahrung: „1964, ich war gerade 14 Jahre, entschied ein Gericht in Bayern, dass ich in einem geschlossenen ‘Mädchenerziehungsheim’ untergebracht werden soll. Ich selbst war die Letzte, die darüber informiert wurde. Ich erfuhr erst avon, als ich von zu Hause abgeholt wurde. Es war eine schlimme Situation für mich (…). Ich wude mit der Heimeinweisung dafür bestraft, dass der Freund meiner Mutter mich täglich sexuell nö­tigte, zu vergewaltigen versuchte und mich immer wieder verprügelte (…). Wie in tau­senden von Akten von Heimindern der damaligen Zeit, stand auch in meiner Akte, dass eine ‘sittliche Verwahrlosung’ drohe und ich nicht anpassungsfähig sei (…). Diese Unge­rechtigkeit und große Missachtng der Wahrheit war sehr schmerzlich für mich. Sie betraf nicht nur die Ignoranz einem Kind gegenüber – es war so, als hätte ich keine Rechte, als sei ich wertlos. Ich fühlte mich hilflos, machtlos und allein gelassen (…). Eines morgens (…) kam eine Mitarbeiterin des für mich zuständigen Jugendamtes, um mich abzuholen. (…). Ich wurde abgeholt und wusste nicht einmal wohin die Reise ging. Ich musste auf dem Rücksitz eines Autos sitzen. Der Fahrer und die Jugendamtsmitarbeiterin saßen vor­ne im Wagen. Sie schwiegen. Es herrschte eine eisige Kälte. Keine meiner Fragen wurde beantwortet. Nach einer schier endlos langen Fahrt gelangten wir zum Ziel der Reise, ei­nem geschlossenen Mädchenheim. Ich wurde der Oberschwester des von Diakonissen ge­führten Heimes übergeben wie ein Paket. Ihr wurden meine Unterlagen ausgehändigt. Dann fiel die Türe hinter mir ins Schloss und ich war gefangen in einer ‘Erziehungsanstalt’“. (Djurovic, Sonja, Im Mädchenerziheungsheim – Erlebnisse, Erfahrun­gen und Folgen geschlossener Unterbringung, in: Sozial Exra 2/2014).

Schlussbemerkung

Für Alles was ich hier vorgetragen habe werden die Belege in den Archiven der Landesju­gendämter, des zuständigen Ministeriums, der Jugendämter, der kirchlichen Träger und im Staatsarchiv zu finden sein. Ganz bewusst habe ich nur „politisch unverdächtige“ Quellen zitiert und darauf verzichtet, aus den umfangreichen Materialien der von der Außerparlamentarischen Opposition der späten Sechzigerjahre getragenen Heimkampa­gne zu berichten, der nicht zuletzt das historische Verdienst zukommt, mit ihrer radika­len Kritik der Heimerziehung wichtige Anstöße zu ihrer Reform und zur Veränderung des Jugendhilferechts gegeben zu haben. Diese Reform war ein langer Weg. In dem schließ­lich 1990/91 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG / SGB VIII) wur­den der „Verwahrlosungsbegriff“, die „Fürsorgeerziehung“ und die „Geschlossene Unter­bringung“ ersatzlos gestrichen.. Allerdings sehe ich mit Trauer und mit Beklemmung, dass, während wir hier in der Hochschule Esslingen uns des Leids und des Unrechts ver­gewissern, dass den heute zwischen fünfzig und achtzig Jahre alten Frauen und Männern in ihrer Kindheit und Jugend in Heimen der Jugendhilfe angetan wurde, in diversen Bun­desländern sukzessive wieder freiheitsentziehende Maßnahmen in der Jugendhilfe gegen Jugendliche angeordnet werden und die Geschlossene Unterbringung – jetzt als „ver­bindliche Unterbringung“ oder als „pädagogisch-therapeutische Intensivmaßnahme“ sprachlich kosmetisiert – wieder hoffähig wird. Auch das unsägliche Wort „Verwahrlo­sung/verwahrlost“ wird von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe zunehmend wieder gesagt, so, als hätte es die einhellige Kritik der Jugendhilfe der Siebziger- und Achtziger­jahre an dieser verwahrlosten und verwahrlosenden Sprache nie gegeben. Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, wird sich die Kinder- und Jugndhilfe in zwanzig oder dreißig Jahren mit dem Unrecht und Leid befassen müssen, was Kindern und Jugendli­chen gegenwärtig und zukünftig in ihren Einrichtungen zugefügt wird. Dazu ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: In der „Hausordnung“ von Heimen des Trägers „Haasen­burg“, die im vergangenen Herbst vom Landesjugendamt Brandenburg, nach anhaltender Kritik in den Medien und sehr langem Zögern, geschlossen wurden, heißt es:

1.„Ich höre auf alle Erzieher und Mitarbeiter der Haasenburg!

2.Dem Erzieher gegenüber antworte ich mit >JANEIN< und nenne ihn beim Namen!

3.Es herrscht angemessene Lautstärke in den Wohnräumen, der Schule, auf dem Gelände und auf dem Pausenhof!

4.Ich rede nicht über das Weglaufen und mache es auch nicht!

5.Ich diskutiere nur in angemessenen Situationen, mit einem angemessenen Ziel in ausgemessenem Tonfall!

6.Ich halte Distanz und habe keinen Körperkontakt!

7.Wenn die Jugendlichen wartend in der Reihe stehen, ist der Mund geschlossen und der Blick ist nach vorn gerichtet. Es wird ca. eine Armlänge Abstand zum Vordermann gehalten!

8.Die Jugendlichen laufen erst dann los, wenn die Erzieher es sagen und nur so weit wie es gesagt wird!

9.Die Jugendlichen laufen immer rechts neben dem Erzieher!

10.Während der Dienstzeit ist der Mund geschlossen. Nach Arbeitsmaterial wird angemessen gefragt! (…)“

„Ich habe die Regeln der Haasenburg gelesen und verstanden und ich bin bereit, sie während meines Aufenthaltes einzuhalten. Verstöße gegen die Regeln der Haasenburg haben Konsequenzen!“. (Zitiert in Sozial Extra 2/2014, S. 51.)

Alles was ich hier vorgetragen habe war, ich wiederhole es, zu jedem Zeitpunkt der Nachkriegsgeschichte der Jugendhilfe den Leitungen der Einrichtungen, den Verantwortlichen in Trägern und Behörden, den zuständigen PolitikerInnen bekannt. Genauer: Es hätte ihnen bekannt sein können und müssen, wenn sie das Schicksal der Heimkinder wirklich interessiert hätte, wie sie immer behaupteten. Dass die Mittel für die immer geforderte tiefgreifende Reform der Heimerziehung im boomenden Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Deutschland, nicht bereitgestellt wurden, ist eine gesellschaftliche und historische Schuld, die mit dem Fonds Heimerziehung nicht hinreichend anerkannt und in der Hauptsache – der angemessenen Entschädigung der heute noch lebenden ehemaligen Heimkinder – mit den Leistungen des Fonds Heimerziehung nicht einmal im Ansatz abge­golten wird.

Freilich, die bescheidenen Leistungen dieses Fonds sollten offensiv in Anspruch genom­men werden und die MitarbeiterInnen der Anlauf- und Beratungsstellen in den Ländern sollten die Frauen und Männer offensiv, kreativ und unbürokratisch und mit voller Wertschätzung unterstützen, wenn sie zu ihnen kommen, um einen Antrag zu stellen. Das wird nicht immer leicht sein, denn die berechtigte Unzufriedenheit und der Ärger mit dem Ausmaß und den Regularien des Fonds wird sich zuerst ihnen gegenüber artikulieren. Sie sollten die Kritik und Unzufriedenheit aber nicht beschwichtigen und vertuschen, sondern sie weiterleiten und veröffentlichen und sich selbst dessen bewusst sein, dass sie mit den Mitteln des Fonds zwar akute Notsituationen ehemaliger Heimkinder lindern können und sollen, dass damit aber deren berechtigte Forderungen nach einer umfassenden Rehabilitierung, die ohne eine wirkliche Entschädigung nicht möglich ist, nicht erfüllt werden.

QUELLE: Vereinswebseite des VEREINs EHEMALIGER HEIMKINDER E.V. @ http://www.veh-ev.eu/home/vehevinf/public_html/

Heimkinder, Heimopfer, Runder Tisch Heimerziehung, Katholische Kirche, Evangelische Kirche, Caritas, Diakonie, Gewalt, Sexueller Missbrauch, Antje Vollmer, Prof. Dr. Manfred Kappeler

 

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9. Juni 2014 1 09 /06 /Juni /2014 14:42

Er lädt auch Sie ein. Damit sind die Heimopfer gemeint, aber auch die Sympathisanten der Opfer und jene, die es ebenfalls skandalös finden, dass der „Runde Tisch Heimerziehung“ die Opfer von physischen, psychischen und sexuellen Verbrechen mit Billiglösungen abgespeist hat. Im Durchschnitt wird eine verpfuschte Kindheit und Jugend eine Kompensationsleistung von 5000 Euro angeboten. Die meisten Opfer lehnen dieses Angebot ab. Behinderte und in die Psychiatrie zwangseingewiesene Opfer, wie auch die Säuglinge und Kleinkinder gehen ganz leer aus.

Die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“, eine Opferinitiative behinderter Opfer des Johanna-Helenen-Heims der damaligen Orthopädischen Heil-, Lehr- und Pflegeanstalt Volmarstein bei Hagen (heute: Evangelische Stiftung Volmarstein) beteiligt sich mit einem schriftlichen Vortrag und einem Videogruß an der Veranstaltung. Da der Gruppensprecher schwer erkrankt ist, kann ein Gruppenmitglied persönlich nicht erscheinen.

Aber Sie? Wenn es geht, fahren Sie hin.

Hier die Einladung

Münster, den 3.6.2014

 Sehr geehrte Damen und Herren,

wir laden Sie herzlich zu einer Pressekonferenz anlässlich unserer Konferenz "ehemalige Heimkinder  Gewalt und Zwangsarbeit  Wann kommt die Entschädigung?" ein. Die Pressekonferenz findet statt:

Termin:                                            14.6.2014

10:00 Uhr

Veranstaltungsort:                          Cafe "Die Weltbühne" Kommunikationszentrum im ESGHaus

Adresse:                                            Breul 43, 48143 Münster

Gemeinsam wollen

Mitglieder der Landschaftsversammlung WestfalenLippe (LWL) der LINKEN, Mitglieder der Landschaftsversammlung Rheinland (LVR) der LINKEN, Verein ehemaliger Heimkinder e.V. der Landesverband DIE LINKE NRW, die RosaLuxemburgStiftung NRW, Mitglieder der Bundestagsfraktion DIE LINKE, Mitglieder der Landtagsfraktion DIE LINKE in Brandenburg, und verschiedene Fachleute und ehemalige Heimkinder beraten, wie eine Entschädigung der ehemaligen Heimkinder durchgesetzt werden kann. In der Konferenz wird das zentrale Thema sein, mit welchen konzertierten politischen Aktivitäten die nachstehenden Hauptforderungen durchgesetzt werden können:

1.) Anhörung im Bundestag

2.) eine Rente analog dem GhettoRentenGesetz (ZRBG)

3.) die Beteiligung der Industrie an dem aufzulegenden Fonds.

Es wird darüber hinaus die Frage gestellt, inwieweit eine geschlossene Unterbringung von Kindern Gewalt erzeugt. Und es wird am aktuellen Beispiel der geschlossenen Einrichtung der Haasenburg eine verfehlte  schwarze ?  Pädagogik dargestellt und deren Folgen für die Kinder und Jugendlichen. 

Veranstaltungsablauf:

10:30 Uhr Einlass und Kaffeetrinken

11:00 Uhr Eröffnung und Begrüßung

                 Grußwort von Ulla Jelpke MdB für die Fraktion DIE LINKE im Bundestag

11:15 Uhr Geschlossene Unterbringung  Kontinuität eines Unrechtsystems

                 Dr. Burkhard Wiebel

11:45 Uhr Die Haasenburg  Wenn nichts geschieht

                 Torsten Krause, MdL Brandenburg, Fraktion DIE LINKE

12:15 Uhr Der Bundestag und die ehemaligen Heimkinder

                 Heidrun Dittrich, ehem. MdB Fraktion DIE LINKE im Bundestag

12:30 Uhr Mittagspause

13:15 Uhr Ehemalige Heimkinder  mit und ohne Behinderung berichten über

                 Zwangsarbeit in konkreten Firmen

14:15 Uhr Juristische Möglichkeiten zur Durchsetzung einer Entschädigung

                 Dr. Maike Koch, Rechtsanwältin (angefragt)

14:45 Uhr Kaffeepause

15:15 Uhr Forderungskatalog des VEH

15:30 Uhr Podiumsdiskussion Vorstand VEH, Torsten Krause, Björn Ludes, Dr. Maike Koch, Heidrun Dittrich, Burkhard Wiebel (Moderation)

17:30 Uhr Zusammenfassung, Aktivitäten

18:00 Uhr Schlusswort

Sie sind herzlich eingeladen im Anschluss an die Pressekonferenz auch an der Veranstaltung teilzunehmen und darüber zu berichten.

Wenn Sie an der Pressekonferenz / der Konferenz teilnehmen möchten, würden wir uns sehr über eine Anmeldung freuen! Kontakt: stefan.mueller@lwl.org

Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme und hoffen auf eine interessante und zielgerichtete Konferenz!

Unser Forderungskatalog

Als Sofortmaßnahmen fordern wir:

1. Ausweitung der sogenannten Rentenersatzleistungen auf Kinder, die vor Vollendung des 14. Lebensjahres Zwangsarbeit leisten mussten.

2. Zahlungen der uns gestohlenen und hinterzogenen Löhne nebst Zinsen.

3. Sofortige Einstellung der Zahlungen von Sachleistungen – die dafür bereitgestellte Summe ist dem ehemaligen Heimkind direkt und ohne Vorlage von Kostenvoranschlägen, Quittungen und Belegen zu überweisen.

4. Die Sicherung dieser Zahlungen, so dass sie unpfändbar sind.

5. Die Verlängerung des Fonds Ehemalige Heimkinder über das Jahr 2014 hinaus.

6. Regelmäßige, großformatige Anzeigen in überregionalen Medien, so dass die Informationen über den Fonds wirklich alle ehemaligen Heimkinder erreicht.

7. Die Einbeziehung von Ehemaligen mit Behinderung, von Psychiatrisierten, von Säuglingen und Kleinkindern in die Gruppe derer, die vom Fonds partizipieren können.

8. Eine „verwaltungsschlankere“ Lösung für den Fonds, die tatsächlich nicht nur die Auszahlungen beträchtlich beschleunigen würde, sondern auch sehr viel billiger wäre.

9. Konkrete Aussagen dazu, was mit unseren in Anlaufstellen und Lenkungsausschüssen gesammelten persönlichen Daten geschieht.

10.Regelmäßige Veröffentlichungen von Zahlen – Wie viele Menschen wurden beraten, wie viele haben Zahlungen in welcher Höhe erhalten – sowie Veröffentlichungen über die Arbeit der Ompudspersonen.

11. Berücksichtigung ehemaliger Heimkinder beim Fonds Sexueller Kindesmissbrauch – auch dann, wenn Sie Gelder beim Fonds Ehemaliger Heimkinder beantragt haben. Bekanntermaßen schließt das eine (Zwangsarbeit etc.) das andere (sexuelle Gewalt) nicht aus.

Weiterhin fordern wir:

12.Klärung über den Verbleib von Sozialabgaben und Waisenrenten.

13.Verzicht auf Verjährungseinrede bezüglich Schadensersatz und Lohnersatz.

14.Zahlbarmachungsvorschrift für ehemalige Heimkinder analog dem Ghettorentengesetz. Denn auch wir mussten Zwangsarbeit für verschiedenste Industriebetriebe leisten – dasselbe gilt für landwirtschaftliche Betriebe.

15.Die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Klärung der höchst zweifelhaften Vorgänge und Methoden, mit denen ehemalige Heimkinder am Runden Tisch Heimerziehung hintergangen wurden.

Als logische Konsequenz daraus fordern wir eine sachliche und ergebnisorientierte

Auseinandersetzung in Augenhöhe mit den:

Industriebetrieben. Es ist hinlänglich bekannt und durch Zeugenaussagen und Gutach ten belegt, dass Heimkinder umfangreich für noch heute bestehende Industriebetriebe arbeiteten.  Landwirtschaftlichen Betrieben. Auch hier ist aus Gutachten bekannt, dass Heimkinder umfangreiche Schwerstarbeit unter inhumanen Konditionen leisten mussten.

Krankenversicherungsträgern. In Gutachten festgehalten wird die Schädigung von bis zu 800.000 Opfern, mit erklecklichen Spätschäden. Die GKV hat eine Regressobliegenheit, die hier im Milliardenbereich liegt.

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3. Juni 2014 2 03 /06 /Juni /2014 23:06

Helmut Jacob

Am Leiloh 1

58300 Wetter

03. 06. 2014

 

Gleichlautende Schreiben an:

Evangelische Kirche Deutschlands, Herrn Pfarrer Nikolaus Schneider, Präsident des Rates 
Herrenhäuser Str. 12, 30419 Hannover

Diakonie Deutschland, Präsidentin Pfarrerin Carolina Füllkrug-WeitzelCaroline-Michaelis-Str. 1, 10115 Berlin

Evangelische Kirche von Westfalen, Frau Präses Annette Kurschus
Landeskirchenamt, Altstädter Kirchplatz 5, 33602 Bielefeld

Evangelischer Kirchenkreis Hattingen-Witten, Herrn Superintendent Pfarrer Ingo Neserke
Wideystr. 26, 58452 Witten

Evangelische Kirche Wetter-Wengern, Herrn Pfarrer Uli Mörchen
Henriette-Davidis-Weg 5, 58300 Wetter

Evangelische Stiftung Volmarstein, Herrn Pfarrer Jürgen Dittrich, Stiftungssprecher
Hartmannstr. 24, 58300 Wetter

 

Sehr geehrte Damen und Herren (in den Briefen mit personalisierter Anrede),

ich habe den Himmelfahrtstag dazu genutzt, in mich zu kehren und die Frage zu bearbeiten: Was bedeutet mir die Evangelische Kirche als Institution und kann ich mich noch mit ihr solidarisieren, in ihr noch geborgen fühle?

Das Ergebnis: Inzwischen habe ich beim Amtsgericht Wetter meinen Austritt aus der Evangelischen Kirche erklärt.

Ich will mich nicht feige aus der Evangelischen Kirche verdrücken. Darum meine ich, dass Sie meine Begründung erfahren sollten.

Es ist sicher bekannt, dass ich Webmaster einer Homepage behinderter ehemaliger Heimkinder und einiger damaliger Mitarbeiter eines Kinderheims bin (www.gewalt-im-jhh.de). Es handelt sich hier um das Johanna-Helenen-Heim der damaligen Orthopädischen Heil-, Lehr- und Pflegeanstalt Volmarstein in Wetter bei Hagen. 

Auf  dieser Homepage können Sie erfahren, welch unendliches Leid die Schwächsten unserer Gesellschaft, nämlich behinderte Klein- und Schulkinder, erlitten haben. In Briefen an Sie, die allerdings ohne Reaktionen blieben, habe ich von diesem Leid berichtet. Auch die wechselnden Präsidenten der Diakonie habe ich informiert, aber eine für die Heimopfer befriedigende Antwort nie erhalten.

Auf der Homepage sind viele Einzelschicksale detailliert nachzulesen. Da ich selbst Interviews geführt habe, muss ich berichten, dass einige ehemalige Mitschülerinnen und Mitschüler weinend vor mir saßen und zum ersten Mal die Gelegenheit spürten, endlich ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.

Die Kirche, die Sie repräsentieren, hat hilflose Geschöpfe Gottes zu Opfern gemacht. Evangelische Anstaltsleiter haben es zugelassen, dass behinderte Kleinkinder und Schulkinder psychisch, physisch und sexuell misshandelt wurden. Und dies nicht nur in den Orthopädischen Anstalten, die sich heute als Evangelische Stiftung bezeichnen, sondern auch andernorts. Zahlreiche Bücher zeugen davon.

Wie ist die Kirche mit diesen Heimopfern umgegangen? Nachdem das Buch des Spiegeljournalisten Peter Wensierski „Schläge im Namen des Herrn“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Wensierski) erschien, hat die Kirche, die Sie repräsentieren, zunächst geleugnet, bagatellisiert, verniedlicht, abgestritten, mit juristischen Schritten gedroht, etc. Nachdem es nichts mehr zu leugnen gab, beteiligte sie sich an dem „Runden Tisch Heimerziehung“ unter Vorsitz der Theologin Antje Vollmer. Dort haben Vertreter der Kirche, die Sie in der Öffentlichkeit glaubwürdig vertreten wollen, nichts unternommen, um drei schwächliche sogenannte Opfervertreter, die von den Heimkindern gar kein Mandat hatten und willkürlich ausgesucht wurden, vor einer Schar von Juristen staatlicher und kirchlicher Stellen zu schützen. Die Kirchenvertreter haben sogar zugesehen, wie diese drei völlig überforderten Menschen und ihre Stellvertreter regelrecht über den Tisch gezogen wurden und zur Unterschrift unter den Abschlussbericht erpresst wurden, mit der Bemerkung: Sonst gibt es gar nichts. Inzwischen haben sich fünf von ihnen von diesem Beschluß distanziert. Unsere Homepage (www.gewalt-im-jhh.de) und die des Evangelischen Theologen im Ruhestand Dierk Schäfer aus Bad Boll (http://dierkschaefer.wordpress.com) haben diese Manipulationsmanöver ausführlich dokumentiert.

Die drei kirchlichen Landesverbände Rheinland, Westfalen und Lippe mit ihren Antragsformularen auf Entschädigung, lassen jedes Feingefühl vermissen. Die Betroffenen sollen ihre demütigenden Erfahrungen ausführlich persönlich schildern und unterschreiben. Der Bürokratie zu  Dienst und Wille, auch unter der Gefahr von Retraumatisierungen.

Die kümmerlichen Beiträge aus dem Opferfonds in Höhe von durchschnittlich 5.000 € stellen eine Beleidigung der meisten Opfer dar. Nicht berücksichtigt wurden beispielsweise, dass die Familien der Opfer zu Opfern wurden, weil sie mit der Vergangenheit dieses ehemaligen Heimkindes umgehen mussten.

Auch die Rolle der höchsten Kircheninstanz ist zu kritisieren. Sie hat es bis heute nicht geschafft, behinderten Heimopfern Zugangsmöglichkeiten zum Opferfonds zu beschaffen, geschweige denn eine Wiedergutmachung zu leisten, die den Namen verdient hat.

Ich werde weiter versuchen, christlich zu leben. Aber dazu brauche ich Ihre Institution nicht mehr.

Auch dieses Mal werde ich keine Antwort erhalten, erwarte sie aber auch nicht mehr. Im Internet bleibt der Platz „Antwort“ eben leer.

Mit freundlichem Gruß

 Helmut Jacob

 

Heimopfer, Runder Tisch Heimerziehung, Evangelische Kirche Deutschlands, Diakonie, Diakoniepräsident, Präses der Evangelischen Kirche, Superintendent Hattingen-Witten, Evangelische Stiftung Volmarstein, physische Gewalt, psychische Gewalt, sexueller Missbrauch, Opferfonds

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24. Mai 2014 6 24 /05 /Mai /2014 15:12

Die „Neue Osnabrücker Zeitung“ berichtet in ihrer Onlineausgabe vom 22.05.2014, 05:59 Uhr:

„Fonds für ehemalige Heimkinder reicht nicht aus ...

Osnabrück. Nach dem Fonds für ehemalige DDR-Heimkinder hat auch der Fonds für Opfer der Heimerziehung im Westen erhöhten Kapitalbedarf. Das bestätigte gestern auf Anfrage eine Sprecherin des Bundesfamilienministeriums. ...

‚Die Inanspruchnahme des Fonds ist höher als erwartet’, so die Ministeriumssprecherin in Berlin. Bis zum 30. April haben sich nach ihren Angaben 10919 Betroffene in den Anlauf- und Beratungsstellen des Fonds Heimerziehung West registrieren lassen. 7236 von ihnen haben bereits Vereinbarungen über Hilfeleistungen aus dem Fonds geschlossen.“

http://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/476942/fonds-fur-ehemalige-heimkinder-reicht-nicht-aus

Kurzkommentar:

Waren es in meinem Onlinebeitrag vom 11. Mai 2014

http://helmutjacob.over-blog.de/article-heimopferfonds-west-floppt-weiterhin-1-6-der-opfer-stellten-bisher-antrage-123591528.html

laut „Die Zeit“ Onlineausgabe vom 30. Januar 2014 noch 6.320 Opfer, die sich bei den Anlaufstellen gemeldet haben,  so sind es laut Auskunft des Bundesfamilienministeriums zum 30. April 2014 10.919 ehemalige Heimkinder, die Leistungen beanspruchen. Ob alle Anträge durchkommen, ist noch nicht absehbar. Bei Zugrundelegung der Gesamtzahl der Meldungen beanspruchen jetzt 2,74% der noch 400.000 lebenden westdeutschen Heimopfer Leistungen. Das ist kein Ruhmesblatt für den ehemaligen „Runden Tisch Heimerziehung“ unter Leitung von Antje Vollmer. Ende dieses Jahres wird der Fonds geschlossen.

Natürlich muss auch an dieser Stelle ein Skandal zu diesem Thema angeprangert werden: In die Psychiatrie oft grundlos zwangseingewiesene Jugendliche, behinderte Kinder, die vielen Säuglinge und Kleinkinder, die in den Heimen Gewalterfahrungen unterschiedlichster Art ertragen mussten (auch Liebesentzug und fehlende Zuwendung ist Gewalt), erhalten nach wie vor nicht einen Cent Opferhilfe.

Heimkinder, Heimopfer, Runder Tisch Heimerziehung, Evangelische Kirche, Katholische Kirche, Diakonie, Caritas, Antje Vollmer

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23. Mai 2014 5 23 /05 /Mai /2014 15:57

„‚Jeder Mensch gilt’ – das war das Lebensmotto von Pfarrer Dr. Ulrich Bach. Vor drei Wochen, am 8. März, verstarb der scharfsichtige Analytiker des tiefen Risses, der oftmals Menschen mit Behinderungen von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausschließt, der Liebhaber der „bunten Gemeinde Gottes“, der Bibelinterpret, der die biblischen Texte gleichermaßen für Behinderte und Nichtbehinderte las.“

So Bischof Dr. Wolfgang Huber 2009 als Ratspräsident der Evangelischen Kirche von Westfalen zur Würdigung von Ulrich Bach anläßlich seines Todes am 8. März des gleichen Jahres.

Ulrich 2b

Das Thema Behinderung hat ihn, der selbst an Polio erkrankt auf einen Rollstuhl angewiesen war, nicht nur theologisch, sondern auch in der täglichen Praxis gefordert. Er war Seelsorger in verschiedenen Häusern der damaligen Orthopädischen Anstalten Volmarstein (heute Evangelische Stiftung) bei Hagen, sondern wurde im täglichen Umgang mit jungen und älteren körperlich und geistig Behinderten mit den verschiedensten Problemen konfrontiert. Erst Ende der 80er Jahre erfaßte er das wahre Ausmaß an Gewalt und psychischer Zerstörung vieler solcher Schülerinnen, denen er 1964 Konfirmandenunterricht erteilte. Die geballte Konfrontation seiner Konfirmanden mit seinem Versagen damals ließ ihn nicht mehr los. Im Rahmen seiner Verabschiedung las er aus seinem Buch „Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar“, Seite 87, Neukirchen 2006:

http://gewalt-im-jhh.de/Grobe_Unwahrheit_-_ESV-Leiter_/Bach_Buchauszug_Marianne.pdf

In diesem Kapitel geht Bach auf die Gewaltexzesse während dieser Zeit ein und konfrontiert damit die Evangelische Stiftung mit ihrem schwarzen, verdrängten Kapitel Anstaltsgeschichte.

Dieses Kapitel ist auch ein Stück Aufarbeitung seines Verdrängens der Tatsachen in einer Zeit, in der seine Hilfe gefordert war. Darum suchte Bach immer wieder Gelegenheiten, um auf die Verbrechen in den Volmarsteiner Anstalten freundlich im Ton, aber ganz gezielt, einzugehen. Das Buch des Spiegel-Journalisten Peter Wensierski „Schläge im Namen des Herrn – Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“, ISBN: 978-3-421-05892-8, DVA Sachbuch (Leseprobe: http://www.randomhouse.de/content/edition/excerpts/19720.pdf) war der Zünder für Bach, nunmehr seine Pensionsjahre auch in die Aufgabe der Aufarbeitung der Anfangsjahre seiner Volmarsteiner Zeit zu investieren. Willkommener Auslöser war die Buchbesprechung in einer evangelischen Wochenzeitschrift mit einer Stellungnahme des damaligen Diakoniepräsidenten Jürgen Gohde. Es ist nicht belegt, aber sicher war Bach über folgende Formulierung entrüstet: „Der Präsident ... schloß aber systematische Verfehlungen aus.“ http://gewalt-im-jhh.de/Wie_alles_begann_-_Presseberic/UK_9_-_040306.jpg

Die Entstehung der „Freien Arbeitsgruppe JHH 2006“ und ihre Zusammensetzung wurde mehrfach dokumentiert. Darum hier nur noch einmal wiederholt: Bach war Anstoßer und Mitbegründer dieser Arbeitsgruppe. Schon frühzeitig erkannte er, daß die Opfer „nicht im eigenen Saft schmoren“ dürfen, sondern Glaubhaftigkeit eher erreicht wird, wenn ehemalige Mitarbeiter mit ins Boot geholt werden können. Die Diakonische Helferin Christel Reuter (heute Flügge) von der Mädchenstation und die damaligen Diakonieschüler Eberhard Flügge und Jochen Twer konnten zur Mitarbeit gewonnen werden. Ihre Schilderungen unterstrichen die zahlreichen Ausführungen der Opfer.

Zunächst war geplant, die Evangelische Stiftung Volmarstein zur Herausgabe eines Buches über die 50er und 60er Jahre im Johanna-Helenen-Heim zu bewegen. Durch die Kenntnisse eines Gruppenmitglieds im Umgang mit Computern und dem Internet reifte jedoch die Erkenntnis, daß ein Buch in kleiner Auflage nicht viel Öffentlichkeit bewirkt. Nach einem längeren Diskussionsprozeß entstand schließlich die Homepage www.gewalt-im-jhh.de, die inzwischen in eine zweite Homepage unter gleicher Internetpräsenz aufgegangen ist. Auch hier kann nur kurz zusammengefaßt werden: Nach Anzahl der Besucher ist die Auflage der Seiten in Büchern umgerechnet weit höher als die bisherigen zwei gedruckten von zusammen 750 Exemplaren.

Bach erkannte aber auch: „Wir sind nicht der Nabel der Welt“, und der Webmaster der Homepage entwickelte mit den anderen Gruppenmitgliedern ein Konzept, nach dem andere Opfergruppen eine Plattform erhalten sollten. So entstanden die Seiten „Blick über den Tellerrand“. Im Zuge der Einrichtung eines „Runden Tisches Heimerziehung“ der Bundesregierung kamen weitere Dokumentationsseiten hinzu, so beispielsweise Ausarbeitungen des evangelischen Pfarrers i. R. Dierk Schäfer aus Bad Boll und des Erziehungswissenschaftlers Prof. Manfred Kappeler, Berlin. Zusammen mit der Freien Arbeitsgruppe zeigten sie auf, wie der Runde Tisch systematisch manipuliert, Fakten unterdrückt und Begriffe vermieden wurden, die zu Entschädigungen Anlaß geben könnten. So ist bekannt, daß ohne glaubhaftes Schuldanerkenntnis lediglich ca. 5.000,- € zur Kompensation der Heimzeit der Betroffenen von Bund, Ländern und Kirchen aufgebracht werden. Die Wirtschaft und Industrie, die teils durch Zwangsarbeit ehemaliger Heimkinder erst groß geworden sind, wurde nie zur Verantwortung gezogen.

Trotz schwerer Krankheit blieb Bach für die Arbeitsgruppe immer wieder aktiv. Im Laufe der Jahre mußte er zunehmend mehr seiner Aktivitäten einschränken. Jochen Twer machte ihm in einem Brief Mut: „Ich denke an die schweren Gedanken, die Dich belasten, daß Du die Problematik der Betroffenen nicht früher und schneller erkannt hast. Stelle Deiner Bedrückung den Mut und die Ausdauer des "Kopfes der AG" gegenüber und gibt den Fortgang des Geschehens in deren Hände. Du hast Großes erreicht und angeschoben (...). Dir verdankt die AG ihr Entstehen. Nun, da sie lernt zu laufen, zu argumentieren, zu kämpfen gönne Dir den Rückzug. Versuche zu entdecken, was Gott und das Leben Dir und Deiner Familie an Schönem und Erfreulichem bereithält.“

Etwa alle zwei Tage rief Bach doch noch den Webmaster an. Er erkundigte sich immer wieder detailliert nach der Internetpräsenz und fand auch gelegentlich kritische Töne. Bachs Politik war immer die der kleinen Schritte; der Webmaster war eher für den harten Umgang mit den Tätern.

Zwei Tage vor seinem Tod rief Bach das letzte Mal an, der Anruf wurde auf dem Anrufbeantworter des Webmasters aufgezeichnet, findet sich versteckt auf der Seite der HP „Ulrich Bach ist von uns gegangen“ und ist nun zum 5. Todestag von seiner Frau Erika Bach, die inzwischen seine Stelle in der Arbeitsgruppe übernommen hat, freigegeben. (http://www.gewalt-im-jhh.de/Ulrich_Bach_ist_von_uns_gegang/bach_ulrich_am_210209-18-00uhr.wav)

Ulrich Bach ist nicht nur in die Geschichte der Diakonie eingegangen. Er hat sich große Verdienste in der Aufarbeitung der Verbrechen in bundesdeutschen Heimen in den zwei Nachkriegsjahrzehnten erworben. Ohne ihn wäre eine solch umfangreiche Dokumentation dieser Zeit, komprimiert auf einer großen Homepage, nicht möglich geworden. Ohne ihn hätte aber auch nicht immer wieder Versöhnung stattgefunden. Nun, nachdem einige Opfer ihr Leid dokumentiert sehen, sind sie in der Lage, ihre erlittenen Erlebnisse zu kompensieren und in Einzelfällen auch den Tätern zu verzeihen. Der Prozeß würde erheblich beschleunigt, wenn die Tätervertreter und die damals in der Heimaufsicht Verantwortlichen sich zu wirklichen Entschädigungsleistungen, die die Bezeichnung verdient haben, durchringen könnten.

18. Mai 2014

Heimkinder, Heimopfer, Gewalt, Evangelische Kirche, Katholische Kirche, Caritas, Diakonie, Runder Tisch Heimerziehung, Antje Vollmer, Freie Arbeitsgruppe JHH 2006, Ulrich Bach

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13. Mai 2014 2 13 /05 /Mai /2014 15:54

Es gibt einige Menschen, die ehemaligen Heimkindern uneigennützig und kostenlos zur Seite stehen, wenn es darum geht, Beiträge aus dem Opferfonds des Bundes, der Länder und der Kirchen für misshandelte Heimkinder oder aus anderen Beihilfetöpfen zu bekommen. Dazu gehört beispielsweise der „Verein ehemaliger Heimkinder e.V.“ (VeH), der eine große Internetpräsenz betreibt (http://www.veh-ev.eu) und reichlich Informationen zur Verfügung stellt. Für den Bereich behinderter Heimopfer bietet sich die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ an, die auf ihrer HP www.gewalt-im-jhh.de ebenfalls umfangreiche Informationen bietet und in Einzelfällen behinderte Opfer vertritt. Beide HP’s zeichnen sich dadurch aus, dass die Opfer eigentlich keine weiteren Hilfen brauchen, weil darin detailliert beschrieben ist, wie und wo diese Gelder beantragt werden können. Oft ist allerdings moralische Unterstützung nötig und die bieten die Vorstandsmitglieder vom VeH allemal. (Kontakte unter: http://www.veh-ev.eu/Der_Verein/Der_Vorstand/der_vorstand.html)

Allerdings gibt es auch Heimopfervertreter, die ihre Hilfe gegen Bezahlung anbieten. Sie fordern einen bestimmten Betrag für ihren Leistungsaufwand. Ähnliches konnten die Heimopfer nach der Installation des Opferfonds beobachten, als die meisten Bundesländer sich aus dem Opferfonds von 120 Mio. Euro zunächst einmal 10 % aufteilten. Die staatlichen Stellen, die in der Aufsichtspflicht völlig versagt und damit die unzähligen Verbrechen erst ermöglicht haben, lassen sie sich die Regulierung ihrer Fehler auch noch bezahlen. Soviel zur Moral.

In Berlin firmiert eine solche Opfervertretung, die kaum einzuordnen ist. Sie oder er, oder auch beide, sind Präsidenten dieses Vereins, sie oder er sind oder waren Opfer in Heimen. Die Darstellungen sind unterschiedlich. So bescheinigt beispielsweise der VeH einen Fall, in dem sich ein Mensch zunächst nicht als Opfer, dann aber doch als ein solches eintragen lassen wollte.

Die Homepage ist dünn; es steht viel zu der Rubrik, was dieser Verein will. Konkret ist aber nicht nachzulesen oder auf den ersten Blick zu finden, wie denn nun diese Hilfen aussehen und was die Leistungen kosten. Erstaunlich ist auch, dass der Vorstand nur aus zwei Mitgliedern zu bestehen scheint; - jedenfalls sind andere Namen nicht zu finden. Der Verein soll äußerst streitsüchtig sein und jeden, der sich kritisch über ihn äußert, direkt verklagen. Ich kommentiere dies alles allerdings nicht.

Was mich stutzig macht, ist eine im Internet kursierende Abtretungsvereinbarung. Sie hat zum Inhalt, dass der Leistungsnehmer alle Forderungen gegen beispielsweise Heimträger, staatliche oder kirchliche Stellen, etc. an den Leistungserbringer abtritt.

Abtretungsvereinbarung.jpg

      (Firmenbezeichnung inzwischen geändert)

Ich rate von einem solchen Vertragsabschluss ab. Mir scheint, dass mit einer solchen Unterschrift zuviel Befugnisse dem Opfervertreter übertragen werden, die im Nachhinein nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Stutzig macht mich aber auch, dass ich selbst auf diesem Formular keine Angaben über die Leistungsentgelte finde. Darum empfehle ich jenen, die ihre Anträge selbst nicht durchsetzen wollen oder können, eine Vereinbarung zu treffen, nach der der Leistungserbringer prozentual aus den Opferleistungen bezahlt wird. Bis dahin fließen mögliche Gelder auf das Konto der Opfer und sind dort zunächst einmal vor irgendwelchen Zugriffen geschützt.

Heimopfer, Gewalt, Missbrauch, Zwangsarbeit, Runder Tisch Heimerziehung, Antje Vollmer, Evangelische Kirche, Katholische Kirche, Caritas, Diakonie

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11. Mai 2014 7 11 /05 /Mai /2014 15:20

Sie wurden geschlagen, mussten Erbrochenes essen, wurden teils vergewaltigt, ihr Wille wurde gebrochen, manchmal waren sie Versuchskaninchen für Medikamente, die Religion allerdings wurde ihnen konfessionsübergreifend eingebläut: Ehemalige Heimkinder West.

Im Jahr 2006 wurde ein „Runder Tisch Heimerziehung“ in Berlin installiert, mit der ehemaligen Pastorin Antje Vollmer als Vorsitzende und mit einem auserwählten Kreis von überwiegend Juristen aus der Politik und den großen Kirchen besetzt. Drei willkürlich ausgesuchte ehemalige Heimkinder wurden als Opfervertreter berufen. Seitens der Opfer fanden sie keine Legitimation.

Der Opferfonds West wurde mit 120 Mio. Euro bestückt, davon 20 Mio. für sogenannte Rentenersatzansprüche und 100 Mio. zum Ausgleich der Folgeschäden der Heimzeit.

In der Onlineausgabe des Wochenmagazins „Die Zeit“ vom 30. Januar 2014 berichtet die Internetpräsenz: „West-Heimkinder meiden Hilfsfonds ... Anders als der Fonds für Opfer brachialer Heimerziehung in der DDR ist der Fonds für Westdeutschland gut gefüllt. Dort fürchten offenbar viele Opfer die Öffentlichkeit.“

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-01/heimkinder-fonds-entschaedigung

Die Ausgabe zitiert die Mitinitiatorin des Fonds Heimerziehung West, Heidelore Rampp: „Ich kann nur an alle appellieren, die Scham zu überwinden und die Chance zu nutzen, das einzufordern, was uns zusteht“. Das Schicksal der Frau Rampp ist auf der Internetpräsenz von t-online zu lesen:

http://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/id_67671716/heidelore-rampp-berichtet-aus-dem-leben-eines-ex-heimkindes.html

Die Zeit online gibt Auskunft über die bisherigen Zahlungen, die sie vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Köln ermittelt hat: „ ... sind aus dem Hilfsfonds für Opfer im Westen in den ersten beiden Jahren erst Leistungen für 66 Millionen Euro beantragt worden, weitere 54 Millionen Euro stünden noch bereit. Bislang haben sich 6.320 Betroffene radikaler Erziehungsmethoden beim Fonds gemeldet, die Antragsfrist endet Ende dieses Jahres.“

In einem Videobeitrag des Filmemachers Peter Henselder, der auch für eine private Berliner Fernsehanstalt dokumentarisch arbeitet, kommt ab der 9. Minute der Vorsitzende des Lenkungsausschusses für die Umsetzung des Heimopferfonds Prof. Peter Schruth zu Wort: „Der Fonds West mit seinen 120 Mio. ist auch leer ...“.

https://www.youtube.com/watch?v=_n4SteugY0Q&list=UUYfQDxLFqzfnX4WoyTMO3hQ&hd=1

Zur Erinnerung: Schruth saß auch am „Runden Tisch Heimerziehung“ und hat den Abschlussbericht und damit die Beschlüsse des Runden Tisches mit abgezeichnet.

Aus der Meldung des Bundesamtes in Köln und der des Peter Schruth geht nicht hervor, welche Summen für Rentenersatzleistungen, welche für Ausgleichszahlungen geleistet wurden. Aus einer Information des Deutschen Bundestages vom 22.05.2013 kann allerdings abgeleitet werden, dass die höchsten Zahlungen, anders als geplant, für Rentenersatzleistungen aufgebracht wurden.

http://helmutjacob.over-blog.de/article-umsetzung-des-opferfonds-west-fur-ehemalige-kinder-und-jugendliche-in-der-erziehungshilfe-119589167.html

Meine Meinung:

Es ist festzustellen, dass von noch 400 000 lebenden Heimopfern sich 6 320 bei den Anlaufstellen gemeldet haben. Dies sind 1,58% aller Opfer in Westdeutschland. Auch heute noch werden in die Psychiatrie Zwangseingewiesene, Säuglinge und Kleinkinder und behinderte Menschen, die in den Nachkriegsjahrzehnten Opfer wurden, nicht in die Gesamtzahl der Opfer eingerechnet. Der Skandal: Sie erhalten nach wie vor keine Wiedergutmachung.

Die Folgerung des Magazins „Die Zeit“ aus der Tatsache, dass die Anlaufstellen West weniger frequentiert werden als die Ost-Stellen, ist allerdings falsch. Die Opfer West fürchten nicht die Öffentlichkeit. Das beweisen allein die zahlreichen Internetpräsenzen, Blogs, Leserkommentare und Film- und Tondokumente. Etliche entsprechende Portale haben zwar inzwischen geschlossen, andere sind nach wie vor rege. So beispielsweise des „Vereins ehemaliger Heimkinder“ und der „Freien Arbeitsgruppe JHH 2006“. Beide Internetauftritte verzeichnen monatlich tausende Besucher im zweistelligen Bereich. Sie werden u.a. von Universitäten und Wissenschaftlern aufgesucht. Etliche, im Eigenvertrieb oder im Auftrag von Heimen herausgegebene Bücher zeugen ebenfalls vom Mut vieler Opfer, in die Öffentlichkeit zu treten. Eine solche Öffentlichkeitsarbeit ist im Osten bisher nicht ersichtlich.

Warum die Opfer West den Fonds floppen lassen, liegt auch klar auf der Hand. Sie haben erkannt, dass dieser Fonds eine weitere Demütigung darstellt. Nach den Jahren der Hölle in den Heimen, den Betrugsmanövern am „Runden Tisch Heimerziehung“ und den beschämenden Abwicklungsformalien zur Erlangung von Leistungen aus dem Fonds wollen sie sich nicht noch einmal mit einem Almosenangebot demütigen lassen. Statistisch hat jedes Opfer etwa 5000 Euro Abfindung erhalten. Der Apell von Heidelore Rampp geht in die völlig falsche Richtung. Nur wenn die Geschundenen und Geschändeten aus der damaligen Zeit dem sogenannten Opferfonds weiterhin die „Rote Karte“ zeigen, könnte die Erkenntnis bei den Tätervertretern reifen, dass dieser Fonds wirklich eine Beleidigung der Opfer ist. Auch würde dieses völlige Scheitern des Fonds Ende dieses Jahres erneut die Presse interessieren und den Opfern damit noch einmal Gelegenheit zur Darstellung ihrer Sicht bieten. Die 1,58% indes sind eine weitere Ohrfeige für die damalige Tischvorsitzende Antje Vollmer.

Heimkinder, Heimopfer, Runder Tisch Heimerziehung, Evangelische Kirche, Katholische Kirche, Diakonie, Caritas, Antje Vollmer

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26. April 2014 6 26 /04 /April /2014 14:16

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider dozierte am 11. März 2014 auf einem Symposium von EKD und Evangelischer Polizeiseelsorge in Berlin über das Wächteramt der Kirche. [1]

Für Theologen ist das nicht weiter spannend, weil nicht neu.

Nicht-Theologen, auch nicht-Christen könnten fragen, ob ein Wächteramt der Kirche einerseits eine Anmaßung, vielleicht gar Bedrohung ist, und ob andererseits die Kirche die angemaßte Rolle tatsächlich ausfüllen kann und in der Vergangenheit ausgefüllt hat.

Ehemaligen Heimkindern könnte beim Stichwort Wächteramt auch noch die Wächterfunktion der Jugendämter einfallen. Doch das Thema Anmaßung will ich nicht vertiefen.

Interessanter erscheint mir ein anderer Zusammenhang. Wer etwas beansprucht, sollte Referenzen vorweisen können. Schneider erwähnt öffentliche Debatten, die auch in konkreter Wahrnehmung ihres kirchlichen Wächteramtes inspiriert waren. Sie hätten sogar unsere Kirche vor manche Zerreißprobe gestellt. Schneider erinnert an die Formulierung V in der Barmer Theologischen Erklärung[2]: »Sie (die Kirche) erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.«

Mit der Verkündigung des Evangeliums an »alle Welt« ist als Auftrag mit gesetzt, die Gebote in aller Welt zur Geltung zu bringen. …Wir sehen es als Aufgabe, in Auslegung des Dekalogs [10 Gebote] und in Aufnahme der Weisungen Jesu den Ordnungsrahmen des Gemeinwesens zu beschreiben. Unser Reden schöpft einerseits aus dem Kern der biblischen Botschaft und ist andererseits sachlich argumentierend. In diesem Sinne gibt es tief in der biblischen Überlieferung verwurzelte Grundentscheidungen, die für unsere ethische und politische Kultur prägend sind. Ich nenne nur die Stichworte: Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Schutz der Schwachen.1

Nun, da mag er ja Recht haben. Auch ich bin der Meinung, daß wir Christen den Auftrag haben, Gerechtigkeit und Menschlichkeit nicht nur zu praktizieren, sondern auch einzufordern und uns in den politischen Prozeß einzumischen, und dies auch dann, wenn es Nachteile bringt.

Doch wer mit diesem Anspruch fordert, sollte auch liefern. Dabei denke ich nicht an die Verbrechen in kirchlichen Erziehungseinrichtungen in der Vergangenheit. Die hat Schneider nicht zu verantworten. Ich denke an den Betrug an den ehemaligen Heimkindern in der Gegenwart. Entschuldigungsgestammel gab es – nach geraumer Anlaufzeit – zuhauf. Aber die Kirchen haben den ehemaligen Heimkindern jede Entschädigung versagt. Wo waren da Menschenwürde, Gerechtigkeit und Schutz der Schwachen?

Da blieb dann wohl allein die Rechtsstaatlichkeit, dank derer die Kirche sich mit der Verjährungseinrede aus der Bredouille ziehen konnte.

So wurde eine theologisch wie ideengeschichtlich interessante Vorlesung zum Wortgeklingel und damit zur Täuschung der Öffentlichkeit. Wächteramt in christlicher Verantwortung sieht anders aus.

[1] epd-Dokumentation 16/14 Polizeiseelsorge

[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Barmer_Theologische_Erkl%C3%A4rung

http://dierkschaefer.wordpress.com/2014/04/14/das-wachteramt-der-kirche/

 

Kommentar: Der Wolf als Schäfer?

Den Ausführungen von Dierk Schäfer ist nicht viel hinzuzufügen. Sieben Jahre wühlen im Sumpf haben mir eine Erleuchtung gebracht. Niemand hat mehr Wunden in die Psyche von Heimkindern gerissen, wie gerade die Kirchen. Als ihre Wächterfunktion gefragt war, haben sie kläglich versagt. Zunächst haben sie Aufgaben übernommen, denen sie nicht gewachsen waren. Sie haben den Anspruch erhoben, Kinder und Jugendliche zu erziehen, Behinderte zu beschulen und zu pflegen, Waisen und verstoßene Säuglinge zu umsorgen, psychisch kranken Kindern und Jugendlichen medizinischen und seelsorgerischen Beistand zu leisten. In allen Disziplinen haben die Kirchen versagt. Zum einen reichte das Personal ständig nicht aus, um diesen eklatanten Mangel zu kompensieren, haben die kirchlichen Anstaltsleiter die ihnen Anvertrauten zu Sklaven gemacht. Sie haben die Hausarbeit erledigen und für ihr Essen schuften müssen. Das Essen war in den meisten Einrichtungen ein unzumutbarer Schweinefraß, der sich vom Essen für die wenigen Angestellten dieser Einrichtungen deutlich abhob. Die nachträgliche Begründung des Mangels in den Nachkriegsjahrzehnten ist eine mehrfach widerlegte Lüge jeder Einrichtung.

Weil das Wächteramt der Anstaltsleitungen nicht wahrgenommen wurde, haben die Einrichtungen Wracks hinterlassen. Ehemalige Anstaltssäuglinge erfahren durch ihre Therapeuten, dass sie in grauer Vergangenheit Ablehnung erfuhren. Ehemalige "Erziehungszöglinge" sind heute psychisch und/oder physisch krank und haben keine Rolle mehr im gesellschaftlichen Leben spielen dürfen. Viele schliddern als gescheiterte Existenzen am Existenzminimum vorbei. Die in die Psychiatrie Zwangseingewiesenen und dort auch berechtigterweise Untergebrachten erzählen immer mehr, dass es ihnen unter kirchlicher Trägerschaft dieser Institutionen schlecht ging. Das Ausmaß der Misshandlungen ist längst noch nicht aufgezeigt und die Folgen werden erst in vielen Jahren dokumentiert sein. Bis in die 90er Jahre hinein haben Heime unter kirchlicher Trägerschaft immernoch ihre Wächteraufgabe nicht ausgeführt. Verstärkt kamen in den letzten fünf Jahren die sexuellen Misshandlungen an die Öffentlichkeit.

Nach erheblichem Druck durch die Öffentlichkeit, mit Hilfe des Internets, kamen immer mehr Verbrechen ans Tageslicht und die Politik wurde gezwungen, zu reagieren. Es wurde ein "Runder Tisch Heimerziehung" eingerichtet. Erneut haben die Kirchen ihr Wächteramt missbraucht, indem sie ihre Juristen am Tisch platzierten, die nicht etwa die Opfer bewachten und vor politisch gesteuerten Betrügereien schützten, sondern diese Opfer erneut quälten. Die Kirchenvertreter haben im Verein mit den anderen Juristen hilflose Opfervertreter übertölpelt und letztendlich zu Unterschriften erpresst, die verhängnisvoll die wahren Forderungen der Opfer vom Tisch fegten.

Selbst in den Gremien des Opferfonds, jetzt auch in denen des Fonds für Opfer sexueller Gewalt, haben sie ihre schmutzigen Finger und verlangen die totale Entblößung der Opfer. Damit demütigen sie diese erneut und verhindern zum größtenteil, dass die Opfer überhaupt Anträge stellen.

Was den Umgang der heutigen Rechtsvertreter der Anstalten mit den Opfern betrifft, ist zu beobachten, dass sie sich samt und sonders hinter den Beschlüssen des "Runden Tisches Heimerziehung" verschanzen und die Empfehlungen des "Runden Tisches sexueller Missbrauch" schlichtweg ignorieren. Dr. Christine Bergmann sieht nämlich die Anstalten in der Haftung.

Eine kleine, positive Einschränkung muss gemacht werden. Die Evangelische Stiftung Volmarstein leistet bisher unkonventionell Opferhilfe. Sie hilft mit beträchtlichen Geldern, die Auswirkungen der Heimzeit ihrer Opfer zu kompensieren. Aber das reicht nicht.

Das Wächteramt über ihre Opfer nehmen die Kirchen auch heute nicht wahr! Sie tun nichts, aber auch gar nichts, damit die damals Gequälten und Geschundenen nicht erneut ins Heim müssen; nun aufgrund ihres Alters oder zunehmender Behinderung. Anstatt mit wehenden Talaren vor den übergeordneten Sozialämtern Gelder für die Zukunftssicherung im häuslichen Bereich einzufordern, verkriechen sie sich auch weiterhin wie Wölfe, die ein paar Schrotkugeln ins Fell bekommen haben. Sie lecken ihre Wunden und hoffen, dass die Bevölkerung irgendwann vergisst und die Opfer aussterben. Wer nicht mehr lebt, hält endlich die Schnauze.

Die Hoffnung geht nicht auf, wenigstens nicht so schnell. Wenn das Internet frei bleibt, werden diese Verbrechen noch lange nachlesbar sein und die Kirchen noch Jahrzehnte an ihren damaligen Taten gemessen werden.

Wenn Nikolaus Schneider für die Evangelische Kirche immer noch das Wächteramt reklamiert, misshandelt auch er erneut die Heimkinder. Diesen Anspruch haben die Kirchen verwirkt. Sie sollten sich selbst kontrollieren lassen, weil sie immer wieder auf ganzer Linie versagen.

Evangelische Kirche, Nikolaus Schneider, Moral, Heimkinder, Heimerziehung, psychische Gewalt, physische Gewalt, sexueller Mißbrauch, Zwangsarbeit, Ausbeutung, Diakonie

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23. April 2014 3 23 /04 /April /2014 14:35

In seinem Artikel "sex-and-crime im Kloster" berichtet Dierk Schäfer über eine religiöse Gruppe, die der Katholischen Kirche angegliedert ist. Schäfer beschreibt die Zustände in diesem Kloster und kommt zu der Feststellung: 

"Wenn ich lese, welcher strengen Disziplin sich die Angehörigen der Gemeinschaft unterwerfen müssen, wie sie abgeschottet werden von den Personen, die bisher für sie bedeutsam waren, wie sie gehindert werden, untereinander Freundschaft zu schließen und welcher Gedankenkontrolle sie unterworfen werden, dann kommt mir die Scientology in den Sinn."

http://dierkschaefer.wordpress.com/2014/04/23/sex-and-crime-im-kloster/

Sofort kamen mir die Kinder der damaligen Orthopädischen Anstalten Volmarstein in die Erinnerung und ich schrieb einen Kommentar:

Nicht nur die, lieber Herr Schäfer. Mir sprangen sofort die Kinder von Volmarstein ins Gedächtnis. Im Johanna-Helenen-Heim war es keinen Deut besser. Die Kinder wurden, wenn möglich, von ihren Eltern abgeschottet. Einigen Kindern, die gar keinen Besuch bekamen, wurde gesagt, ihre Eltern seien gestorben. Manchen Eltern wurde aber auch vermittelt, dass sie besser den Kontakt zu den Kindern abbrechen sollten, weil das Kind unter den Kontakten zu sehr leiden müsste; und schließlich wollen doch die Eltern nur das beste für ihr Kind. Post wurde zensiert oder einfach vernichtet. Die Kinder wurden bedroht, damit sie nicht die Wahrheit über ihre Kinderstation, über ihre gewalttätigen Lehrerinnen erzählen. Und demonstrativ wurden einige Kinder schon einmal vorab bestraft, um andere Kinder entsprechend in Angst und Schrecken zu versetzen. Freundschaften untereinander wurden verhindert; zum anderen Geschlecht immer. Wobei alles Geschlechtliche "eine große Sauerei" war. Selbst sich küssende Liebespaare auf der Straße galten als Schweine und den Mädels wurde vermittelt, dass sie eben solche Huren würden, wenn sie das täten. Eine Schweinerei war es allerdings nicht, wenn die Schwestern, pädophil bis unter die Haarspitzen, den Kindern an die ach so schweinischen Stellen gingen und sich an den Auswirkungen aufgeilten. Erst langsam dämmerte es den so Missbrauchten, warum ihr Liebes- und Sexualleben in den Folgejahrzehnten immer wieder aus dem Ruder lief. Einige Jungen wurden selbst zu Vergewaltigern, einige Mädchen konnten fortan keine erfüllende Sexualität mehr erleben. Ich erspare mir Details.

Auch die Gedankenkontrolle funktionierte ausgezeichnet: Die Lehrerinnen beispielsweise interpretierten ihre Bosheiten in die Gedanken der Kinder hinein und schon waren die Kinder bestrafungswürdig. Auch die pflegerischen Mitarbeiter konnten oft aus den Augen lesen. Jetzt muss ich doch einmal konkreter werden, damit man versteht wie verstört selbst junge Menschen waren. Bruder K. beispielsweise ging morgens durch die Jungenreihen in den Schlafsälen, deutete auf den ein oder anderen Jungen und meinte: "Ich sehe in deinen Augen, ob du gewichst hast." Mitten in der Pubertät fühlten sich manche Buben natürlich ertappt und wurden glutrot im Gesicht. Und so hatte der junge Diakonenschüler einen Beleg für seine Weissagung. Sofort wurde der Junge von ihm zusammengehauen. Dermaßen verängstigt reduzierte sich wahrscheinlich die Zahl der Masturbationen. 

Die Gewalt im Johanna-Helenen-Heim geschah nicht nur in den zweieinhalb Nachkriegsjahrzehnten, sondern setzte sich in den Auswirkungen dieser Exzesse fort. Unter diesen Auswirkungen haben manchmal selbst Unbeteiligte, nämlich Ehepartner oder ganz banal Freunde zu leiden.

Auch unter diesem Aspekt betrachtet, ist die Forderung der Heimkinder, und hier insbesondere die der Volmarsteiner gegenüber den Rechtsnachfolgern wirklich barmherzig und lächerlich gering. Für die Verwüstungen in den Psychen der Opfer müssten die Tätervertreter nach amerikanischem Vorbild belangt werden; dort geht es um Millionenbeträge.

Dierk Schäfer, Sex and Crime im Kloster, Katholische Kirche, Evangelische Kirche, Orthopädische Anstalten Volmarstein, Johanna-Helenen-Heim, Sexueller Missbrauch

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19. April 2014 6 19 /04 /April /2014 15:00

Den Opfern zum Trost,

den Verbrechern zur Erinnerung,

den ehemals Mitwirkenden am

"Runden Tisch Heimerziehung"

als Spiegel für ihr Versagen,

den Rechtsnachfolgern zur Mahnung,

der Diakonie zur Erinnerung an ihre Pflicht zur Entschädigung!

 

 

 

Heimkinder, Heimopfer, Evangelische Kirche, Diakonie, Runder Tisch Heimerziehung, Antje Vollmer, Innere Mission, Kinderarbeit, Zwangsarbeit, Misshandlung, Missbrauch 

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