An den Ausschuß
für Generationen, Familie und Integration
Landtag Nordrhein-Westfalen
Referat I.1/A 04
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78. öffentliche Sitzung am 18.03.2010
„Zwischenbericht des Runden Tisches ´Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren´ - Sachstand und Schlußfolgerungen der Landesregierung Vorlage 14/3266“
Sehr geehrte Damen und Herren,
für die Landesregierung erstattete laut Ihrem Protokoll Staatssekretärin Dr. Marion Gierden-Jülich (MGFFI) Bericht. Dieser Bericht ist zu kritisieren, weil er von Falschdarstellungen durchzogen ist. Noch schlimmer ist allerdings, daß Gierden-Jülich sich offensichtlich mit der Thematik nicht vertraut gemacht hat. Sonst hätte sie nicht kritiklos nachgeschrieben (man möchte „nachplappern“ schreiben), was Frau Vollmer in ihrem Zwischenbericht geschrieben hat.
Gierden-Jülich betont zu Beginn ihres Vortrags „daß ein Endergebnis und damit Lösungsperspektiven zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht angeboten werden können.“ Es ist nicht nachzuvollziehen, warum nicht schon erste Lösungsperspektiven gesucht und umgesetzt werden, die den dringendsten Bedarf der Opferhilfen abdecken. Der Theologe und Psychologe Dierk Schäfer hat bereits vor über einem Jahr dem Runden Tisch Vollmer dazu Vorschläge unterbreitet, die Frau Gierden-Jülich bekannt sein müßten, wenn sie sich mit der Thematik befaßt hätte. Ich verweise auf seinen Vortrag „Verfahrensvorschläge zum Umgang mit den derzeit diskutierten Vorkommnissen in den Kinderheimen in der Nachkriegszeit in Deutschland“, den er am 2. April 2009 dem Runden Tisch Heimerziehung zu Gehör gebracht hat. Daß in dem Bericht der Frau Gierden-Jülich darüber keine Zeile steht, bestätigt einmal mehr die Erkenntnisse der Heimopfer, daß es auch dem Land NRW darum geht, das gesamte Problem auszusitzen. Je länger man die Thematik behandelt, desto mehr Opfer sterben. Dies ist der eigentliche Skandal der Aufarbeitung der Verbrechen an Heimkindern und Jugendlichen überhaupt.
Wenn Frau Gierden-Jülich schreibt, „die Beratungen dieses Runden Tisches erweisen sich als ausgesprochen komplex“, dann ist dies natürlich nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit besteht schlichtweg darin, daß die meisten bisherigen Sitzungen komplette Zeitverschwendung waren. Die historische Aufarbeitung dieses Zeitraums ist schon längst passiert, in unzähligen Büchern und Fachaufsätzen publiziert. Diesbezüglich hat sich der renommierte Soziologe Prof. Dr. Manfred Kappeler hervorgetan. In seinem Vortrag „Überlegungen zum Umgang mit der Vergangenheitsschuld in der Kinder- und Jugendhilfe“ hat er – neben zahreichen Veröffentlichungen in den letzten Jahrzehnten zu den Mißständen in Heimen - sogar aufgezeigt, wie man mit dieser Schuld an den Heimopfern umgehen kann. Auch davon ist im Vortrag Gierden-Jülichs nichts zu finden.
In der Tat hat „der Runde Tisch selbst (...) für sich noch keine Lösungsstrategie entwickelt.“ Dafür hat die Tischvorsitzende Antje Vollmer sich allerdings persönlich schon weit aus dem Fenster gelehnt und herausposaunt, daß sie sich Wiedergutmachungszahlungen über den Durchschnittsbetrag von Zahlungen an NS-Zwangsarbeiter nicht vorstellen könne. Damit hat sie nicht nur ihre Unabhängigkeit (Neutralität) an den Nagel gehängt, sondern zusätzlich bewußt noch einige Fakten unterschlagen. Stellt sich Frau Vollmer nämlich vor, daß diese Wiedergutmachungsbeiträge zwischen 2000 und 3000€ liegen, hat sie allerdings dabei unterschlagen, daß der damalige Rechtsanwalt Witti für einen großen Teil seiner Mandanten fünfstellige Entschädigungsbeträge und Opferrenten ausgehandelt hat. Witti an Vollmer: „Meine Mandantschaft erhielt im Zuge des Gesamtkomplexes: DM 15000.- plus nun EURO 10000.- bis 30000.- plus monatliche Rente von 200.- bis 400.- EUR.“ Mit dem Verschweigen dieses Sachverhaltes hat Vollmer eine Manipulation der Meinungsbildung zu Gunsten der Täter und zu Lasten der Verbrechensopfer vorgenommen. Auch dieser Sachverhalt liegt der Tischvorsitzenden vor und findet im Vortrag von Gierden-Jülich keine Niederschlag. Dies ist um so skandalöser, als daß absehbar ist, daß man sich an der Falschdarstellung von Antje Vollmer orientieren wird.
Zum Runden Tisch Vollmer ist grundsätzlich folgendes festzustellen: Er ist schon mit der Einrichtung ein mißlungener Tisch, weil Ministerin Ursula von der Leyen eigenmächtig die finanzielle Ausstattung auf 400.000€ mehr als halbiert hat. Die drei Opfervertreter, die der Verein „Ehemalige Heimkinder“ zunächst empfohlen hat - von denen sich der VEH allerdings nicht vertreten fühlt - sehen sich einer Übermacht von etwa 12 Juristen gegenüber. Bund, Länder und Kirchen haben diese Juristen natürlich nicht an den Runden Tisch entsandt, um den Opfervertretern Tips und Tricks aufzuzeigen, wie sie an das Geld kommen können, daß man ihnen in ihrer Jugend stahl, und daß man ihnen für die Zwangsarbeit vorenthielt, daß ihnen fehlt, weil keine Rentenbeiträge abgeführt wurden. Diese Juristen vertreten offensiv und unüberhörbar und unüberlesbar nur ein Ziel: Schadensbegrenzung und Entschädigungsbegrenzung. Damit befinden sie sich im Gleichklang mit Antje Vollmer.
Die zweite Manipulation der Frau Vollmer ist die Verbiegung des Begriffs „Zwangsarbeit“. Geradezu innerlich getrieben koppelt sie diesen Begriff an die „Vernichtung von Menschenexistenzen durch Arbeit, und das zum Zweck optimaler Gewinnausschöpfung, wie das bei den großen Konzernen, die Hitler unterstützt haben, der Fall war.“ Prof. Manfred Kappeler stellte beispielsweise fest, daß nur zu einem kleinen Teil im Rahmen der Zwangsarbeit während der NS-Zeit auch die Vernichtung von Menschenleben stattgefunden hat. Die Einschränkung dieses Begriffs in der Vollmer-Definition wird auch in Wörterbüchern und im Brockhaus nicht geteilt. Dort heißt es: „Im Allgemeinen jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.“ Auch im Grundgesetzt, Artikel 12 findet sich eine derartige Begriffsverbiegung nicht. Im übrigen verbitten sich die Heimopfer den Vergleich ihrer Zwangsarbeit mit der von Opfern des NS-Regimes. Im Bereich eines Heimes für körperbehinderte Klein- und Schulkinder, in dem Gewalt und Verbrechen stattfanden, mußte ein 7-jähriges behindertes Kind jeden Morgen 23 Nachttöpfe in einen großen Topf entleeren, den großen Eimer, den sie kaum tragen konnte, zur Toilette bringen und diesen dort ausschütten. Das geschah täglich unter Strafandrohung und auch unter Schlägen, vor allen Dingen unter psychischer Bedrohung. Dies geschah vor dem Aufstehen ihrer Mitschülerinnen und bevor sie auch nur eine Scheibe Brot zu essen bekam. Dies ist Zwangsarbeit unter schlimmsten Bedingungen. Wer dies nicht als schlimmste Zwangsarbeit anerkennt, ist unanständig. Die Heimopfer empfinden eine solche Begriffsverbiegung als weitere Mißhandlung. Nach deren Empfinden dient sie einzig und allein dem Ansinnen, die Verbrechen an den Heimkindern zu relativieren.
Die drei Opfervertreter werden offensichtlich untergebuttert. So war es zunächst zu akzeptieren, daß sie im ersten Sitzungsjahr des Runden Tisches keinen eigenen Anwalt beiziehen durften, um die Gespräche ruhig zu führen. Daß ihnen juristischer Beistand auch im zweiten Jahr verwehrt wird, wo es inzwischen längst um Entschädigungsfragen ging, ist ein Skandal und ein weiterer eindeutiger Beleg dafür, daß Schadensminimierung und Schadenssummenminimierung Hauptziel des Runden Tisches zu sein scheinen, neben dem zweiten Ziel der Täterseite, das Kapitel „Verbrechen an Heimkindern“ auszusitzen.
In ihrem Zwischenbericht betont Antje Vollmer „Wir haben trotzdem, und zwar nicht ich, sondern einstimmige der gesamte Runde Tisch, das heißt in einer Diskussion von mehr als 48 Stunden, Wort für Wort und Seite für Seite von diesem Bericht abgestimmt.“ Nicht zuletzt die Pressekonferenz zum Zwischenbericht des Tisches beweist genau das Gegenteil: Die Opfer kommen kaum zu Wort. Prof. Kappeler geht in seiner Analyse des Zwischenberichtes (siehe unten) auf diese Behauptung näher ein. Der radikale Ausschluß weiterer Heimopfer des VEH, der den drei Vertretern längst das Vertrauen entzogen hat, belegt, daß die Opferseite kaum Gehör findet.
Wenn Frau Gierden-Jülich feststellt, daß der genannte Runde Tisch beauftragt ist, „die Anliegen der Heimkinder aufzuarbeiten“, dann fehlt schon hier die Feststellung, daß es sich nur um einen eingeschränkten Kreis handelt, nämlich jener Kinder und Jugendlichen aus dem Bereich der Erziehungshilfe. Säuglinge, Kleinkinder und Schulkinder, sowie behinderte Kinder- und Jugendliche, werden nicht berücksichtigt. Das reduziert die Zahl der Opfer und mindert die Empörung der Öffentlichkeit, die – siehe sexueller Mißbrauch an Kollegschülern – viel größer wäre, wenn beispielsweise die Verbrechen an behinderten Klein- und Schulkindern mit dem Runden Tisch an die Öffentlichkeit gespült würden. Gierden-Jülich müßte die inzwischen drei Jahre alte Homepage behinderter Heimopfer mit der URL: www.gewalt-im-jhh.de bekannt sein. Kein Wort davon in ihrem Bericht. Das Buch „Gewalt in der Körperbehindertenhilfe – Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967“ der Wissenschaftler Dr. Ulrike Winkler und Prof. Hans-Walter Schmuhl war zum Datum ihres Vortrages zwar erst druckfrisch, wurde aber Wochen zuvor schon im Internet angekündigt. Hier wird klar, daß sich Frau Gierden-Jülich nicht der unzähligen Quellen des Internets bedient hat.
Die Einschätzung des Zwischenberichtes durch Gierden-Jülich ausführlich zu kommentieren, erspare ich mir. Statt dessen verweise ich auf die Analyse durch Prof. Manfred Kappeler: „Zwischen den Zeilen gelesen – Kritik des „Zwischenberichts“ des Runden Tisches Heimerziehung“. Es stellt sich mir die Frage, ist es noch fahrlässig, oder schon boshaft, daß diese Analyse in dem Vortrag nicht mit einer Silbe erwähnt wird? Die Erkenntnisse von Prof. Manfred Kappeler, in denen sich auch die Heimopfer und die Presse wiederfinden, sind von einer solchen Deutlichkeit, daß sie den Vortrag von Gierden-Jülich als unglaubwürdig erscheinen lassen. So ist zum Beispiel die Feststellung von Gierden-Jülich, daß die Zahl von 800.000 Opfern aus einer Pressemeldung des VEH stammt, völliger Unsinn. Der Buchautor und Spiegel-Redakteur Peter Wensierski, der in diesem Vortrag auch keine Erwähnung findet, geht von 500.000 möglichen Opfern aus. Weil große Gruppen von Heimopfern gar nicht erfaßt sind, hat die deutsche Presse die Zahl von 800.000 möglichen Heimopfern ins Spiel gebracht. Wenn Gierden-Jülich sagt: „Sie sind auch aus unserer Sicht völlig überzogen.“, dann ist dies eine manipulative Äußerung, die sie mit nichts gegenbelegen kann.
Ihre Äußerung wenig später kann wirklich nicht ernstgenommen werden. Sie trägt vor: „Vermutlich wird man aktuell von etwa 1.000 Betroffenen ausgehen dürfen.“ und bezieht sich dabei auf 1500 Opfer, die sich, wo auch immer, gemeldet haben. Beim Runden Tisch Vollmer waren es etwa 450. So einen Unsinn – und als solchen muß man eine solche Schlußfolgerung betrachten – kann man nur mit Fakten bekämpfen. Die „Freie Arbeitsgruppe Johanna-Helenen-Heim 2006“ (FAG JHH 2006) ermittelte für die Zeit von etwa 20 Jahren 230 ehemalige MitschülerInnen. Von denen haben etwa 10% über die an ihnen verübten Verbrechen teilweise Auskunft gegeben. Lediglich ein Opfer hat seine Kindheitserinnerungen, die es weit vor der öffentlichen Diskussion über dieses Thema verfaßt hat, vollständig zur Verfügung gestellt. Daß die FAG JHH 2006 überhaupt etwas mehr als 20 Opferstimmen dokumentieren konnte, lag einzig und allein an der intensiven Arbeit zweier Opfer, die in unzähligen mündlichen schriftlichen und vor allen Dingen telefonischen Kontakten ihre Mitschüler zu Aussagen bewegen konnten. Hätte eine derartige Überzeugungsarbeit nicht stattgefunden, wären 5 Berichte zustande gekommen, nämlich nur die jener ehemaligen Schüler und Schülerinnen, die sich zu dieser Arbeitsgruppe zusammengefunden haben.
Der Runde Tisch Vollmer und verständlicherweise die Anlaufstellen der Kirchen schrecken die Opfer eher davon ab, sich zu äußern. Unberücksichtigt bleibt auch die Tatsache, daß zu Beginn der Aufarbeitung - schon vor Erscheinen des Buches von Peter Wensierski - die Opfer mit juristischen Mitteln bedroht wurden (und immer noch bedroht werden), es gar zu Gerichtsverhandlungen kam. Auf diesem Nährboden der Angst melden sich heute noch die wenigen Opfer. Viele Opfer sind in ihrer Kommunikation und in ihrem Wissensstand eingeschränkt. Ihnen fehlt das Internet und ausreichende Fähigkeiten zur Artikulation ihrer Erlebnisse. Weil diese Erlebnisse zu ungeheuerlich sind, hat man den Opfern jahrzehntelang eingebleut: „Dir glaubt eh keiner.“ Und das sitzt noch heute fest.
Im Folgenden will ich mich nur noch mit einigen weiteren groben Schnitzern der Frau Gierden-Jülich befassen.
Wenn sie den Verbrechenskatalog mit „Zwang zum Essen“ und „Zwang zur Arbeit“ absteckt, dann unterschlägt sie das volle Spektrum der Gewalt und der Verbrechen, die spätestens schon Anfang der 50er Jahre teils justitiabel waren. Ich verweise hier auf die Paragraphen 225, 226, 176, 177, 179, 180 StGB. Nachfolgend eine Liste der Gewaltanwendungen im schon genannten im Johanna-Helenen-Heim:
Auszug aus einem Brief an Bundestagspräsident Norbert Lammert vom 28. 04. 2009
"Zu den einzelnen Misshandlungen und Straftaten z. B.:
- Hiebe mit dem Krückstock auf den Kopf, gegen den Rücken, in die Kniekehle
- Schläge mit den Fäusten auf den Kopf, ins Gesicht, auf die Ohren
- kindlichen Körper gegen Heizungsrohre schleudern
- Aufschlagen des Kopfes auf die Pultplatte bzw. Einquetschen zwischen die Flügel der klappbaren Schultafel
- Traktieren der "Eckensteher" mit dem Stock - wenn sie gefallen sind - solange, bis sie wieder aufstanden
- Zwangsfütterung (selbst des Erbrochenen)
Weitere Gewalttätigkeiten bestanden in der Ausübung psychischer Gewalt z. B.:
- Kleinkinder mit dem "Bullemann" oder der Leichenhalle drohen
- Kleinkinder und andere Kinder in permanente Angstzustände versetzen durch Drohungen, unangekündigte Schläge, Schlafentzug, unkontrollierte Gefühlsausbrüche
- Isolationsfolter, stundenlanges, tagelanges, wochenlanges Einsperren in Badezimmer, dunklem Abstellraum oder Wäschekammer - oder im Urlaub in einem leeren Zimmer
- Aufforderung an einzelne Kinder, andere Kinder zu schlagen.
Sexueller Mißbrauch z. B.:
- Zur-Schau-Stellung der sekundären Geschlechtsmerkmale
- Stimulierung und Erregung von Jugendlichen unter Einsatz des Waschlappens und Seife, wobei die direkte Berührung mit den Händen nicht ausgenommen war
- Fortführung dieser Stimulierungen bis zum Erguß
- Aufforderung an junge Diakonische Helferinnen, die Erregung bei Jungen zu beobachteten
- Anschließende Bestrafung dieser Jungen, weil sie angeblich "Schweine" seien.
- Untersuchung der Brüste und des Intimbereiches auf Weiterentwicklung, wobei vordergründig Büstenhalter angepasst werden sollten“
Skandalös ist, daß Gierden-Jülich sich die Begriffsverbiegung zu Zwangsarbeit von Vollmer zu eigen macht. Das dokumentiert eine völlige fehlende kritische Hinterfragung. Die Behauptung, daß die freien Träger überwiegend Träger der Heime waren, ist
a) falsch und b) durch keine Zahl belegt.
Indem Gierden-Jülich auf die Situation in NRW verweist, verbreitet sie schon zu Beginn Ihrer Ausführungen falsche Fakten. Der Erlaß zur körperlichen Züchtigung war spätestens 1949 und nicht erst in den 50er Jahren wirksam. Die Äußerung: „Ob die Strafberichte geschönt waren, läßt sich leider nicht mehr nachweisen“, ist auch barer Unsinn. Erstens sagt der normale Menschenverstand, daß solche Strafberichte, entweder unvollständig, dann jedoch meist geschönt sind, um Verbrechen zu vertuschen. Zweitens haben Dr. Ulrike Winkler und Prof. Hans-Walter Schmuhl in ihren Beiträgen in den Büchern „Endstation Freistatt. Fürsorgeerziehung in den v. Bodelschwingschen Anstalten Bethel bis in die 1970er Jahre“ und „Mutter Kirche – Vater Staat?: Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945“ eindeutig nachgewiesen, daß solche Strafbücher gefälscht wurden und teils eine „doppelte Buchführung“ stattgefunden hat.
Was das Bedürfnis nach Akteneinsicht betrifft, ist immer wieder festzustellen, daß in der Vergangenheit oft dann ganze Aktenberge in überfluteten Kellern untergingen, wenn Heimopfer danach fragten. Die Herausgabe der Akten geschieht eher vereinzelt und widerwillig. Als beispielsweise die Freie Arbeitsgruppe JHH Mitte 2006 mit der damaligen Anstaltsleitung zusammentraf, standen auf drei Tischen Aktenordner dicht an dicht. Diese scheinen nicht mehr zu existieren. Selbst Fotos aus dieser Zeit sind offensichtlich nicht mehr auffindbar.
Die Feststellung, daß es zu Gesprächen zwischen Betroffenen und Trägern kam, stimmt nur in sofern, als daß die Betroffenen die Träger zwingen mußten, sie wahrzunehmen und ernstzunehmen. Das Diakonische Werk und die Caritas scheinen immer noch ökumenisch bemüht, die Zeit der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels ihrer Kirchen zu strecken; siehe: Schadensminimierung, Entschädigungsminimierung. Die Schlußfolgerungen und vorgetragenen Konsequenzen durch Frau Gierden-Jülich gehen in die gleiche skandalöse Richtung: Abwarten bis der erste aus der Deckung kommt und so lange vertrösten, vertrösten, vertrösten.
Insgesamt ist der Vortrag von Gierden-Jülich ein erschütterndes Zeugnis von Unkenntnis, daraus resultierenden Unrichtigkeiten und Unfähigkeiten einer Staatssekretärin.
Eine Bemerkung zum Schluss: Annegret Krauskopf (SPD) spricht aus, was die Heimopfer denken und fühlen. Außerdem verweist sie auf den Skandal, dass behinderte ehemalige Heimkinder am Runden Tisch Vollmer kein Gehör finden. Dies ist eine besonders krasse Diskriminierung und weitere Misshandlung behinderter Heimopfer. Wenn Gierden-Jülich dazu ausführt, „Auch die Behinderten seien – wenngleich nicht direkt durch Personen vertreten - im Blick des Runden Tisches.“, dann ist ihr überhaupt nicht bewußt, dass die Problemlage der behinderten Heimopfer und die Erwartungen an mögliche Wiedergutmachungsmaßnahmen teils völlig anders sind. Steht bei den nichtbehinderten jugendlichen Zwangsarbeitern eine Entschädigung für diese Zwangsarbeit (Nachzahlung des Arbeitslohnes und Entschädigung für erlittene Misshandlungen) und Nachzahlung der Rentenbeiträge im Vordergrund, gilt es, die damals schon hilflosen behinderten Menschen vor einem weiteren Heimaufenthalt, nunmehr im Altersheim, zu bewahren. Auch wenn nicht alle Altenheime schlecht geführt werden und Alte vernachlässigen, ist aufgrund der bisherigen Heimerfahrungen dieser Opfergruppe, die sich gar nicht zur Wehr setzen kann, eine erneute Heimeinweisung unverantwortlich. Diese würde zu erheblichen Retraumatisierungen führen. Da der Runde Tisch Vollmer die Behinderten nicht anhört, kann er diese Problematik auch nicht kennen; will er wahrscheinlich auch gar nicht. Insofern ist es erschütternd, wenn Gierden-Jülich völlig unreflektiert der Behauptung des Runden Tisches nachplappert, die behinderten Heimopfer seien auch dort im Blickfeld. Das ist barer Unsinn.
Mit freundlichen Grüßen
Verweise:
"Gewalt in der Körperbehindertenhilfe - Das Johanna-Helenen- Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967"
ISSN 1868-047X
ISBN 978-3-89534-838-9
„Mutter Kirche - Vater Staat?: Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945“
Wilhelm Damberg (Herausgeber), Traugott Jähnichen (Herausgeber), Bernhard Frings (Herausgeber), Uwe Kaminsky (Herausgeber)
„Endstation Freistatt - Fürsorgeerziehung in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel bis in die 1970er Jahre“
Herausgegeben von Benad, Matthias / Schmuhl, Hans-Walter / Stockhecke, Kerstin
Verlag : Verlag für Regionalgeschichte
ISBN : 978-3-89534-676-7
Prof. Dr. Manfred Kappeler
„Zwischen den Zeilen gelesen – Kritik des „Zwischenberichts“ des Runden Tisches Heimerziehung“
http://gewalt-im-jhh.de/hp2/Kappeler_zu_ZB_RTH.pdf
Dipl.-Pädagoge und Dipl.-Theologe Dierk Schäfer
„Verfahrensvorschläge zum Umgang mit den derzeit diskutierten
Vorkommnissen in Kinderheimen in der Nachkriegszeit in Deutschland“
http://gewalt-im-jhh.de/hp2/Statements_Prof__Manfred_Kappe/verfahrensvorschlage-rt2.pdf
Freie Arbeitsgruppe JHH 2006 – Homepage: www.gewalt-im-jhh.de