Und schon wurde sie von einem 14-Jährigen verfolgt, der schließlich „brutal zugriff“. Also kehrte sie um, der Junge aber blieb hinter ihr: „Ich hörte sein Keuchen in meinem Rücken.“ So lautete auch die Schlagzeile.
Dann erzählte die 22-Jährige: „Ich starrte ihn an. Wortlos. Und ich sah in seinen Augen die Hemmungslosigkeit. Ich sah aber auch den Jungen, etwas schmutzig, und ich dachte an meine Brüder, die manchmal auch so schmuddelig aussehen, wenn sie vom Spielen kommen. Und dann wieder die Anwendung brutaler Gewalt…fast geriet ich in Panik.“
Doch so weit kam es nicht, vor ihrem Elternhaus stieg sie in ein Polizeiauto und aus dem 14-Jährigen wurde der Verfolgte, der kurz darauf ebenfalls im Fahrzeug saß und wimmerte: „Bitte, sagt es nicht meiner Mutter!“
Die Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, hat sich für die Misshandlung von Kindern und Jugendlichen in Heimen der Evangelischen Kirche entschuldigt. In der Sendung „Menschen und Schlagzeilen“ im NDR Fernsehen (14. Januar) sagte sie: „Ich kann öffentlichen sagen, dass ich mich entschuldige, aber ich würde mehr noch sagen, ich schäme mich dafür, dass in unseren Heimen so etwas vor sich gegangen ist und Kinder wirklich auch gebrochen wurden in ihrem Willen und ihre Würde derart verletzt wurde.“
Richtig sensationell ist diese Entschuldigung nicht. Die Formulierung: „Ich kann öffentlichen sagen, dass ich mich entschuldige, …“ bekommt erst einen glaubwürdigen Anstrich durch die Fortsetzung des Zitats: „… ich würde mehr noch sagen, ich schäme mich dafür, …“. Der Ausdruck von Scham ist klar eine Steigerung der Absicht einer Entschuldigung. So kleinkariert müssen wir Heimkinder sein, weil uns schon viele pflaumenweiche Stellungnahmen zu Verbrechen an Kleinkindern, Schulkindern und Jugendlichen als aufrichtige Entschuldigungen wie Sauerbier angedreht wurden. Gerade in diesen Tagen gilt es, wachsam zu sein und jedes Wort zu überprüfen. An der Umsetzung des Beschlusses des Petitionsauschusses und des Bundestages durch das Familienministerium erkennen wir schon jetzt, dass wir wieder über den Tisch gezogen werden sollen. Der Bock soll zum Gärtner gemacht werden und den Runden Tisch gestalten, die Zahl der Verbrechensopfer drastisch reduziert werden. Und der Opferfond soll ganz verschwinden.
So ist auch Bischöfin Käßmann aufgefordert, ihrer Entschuldigung und Scham Taten folgen zu lassen. Ihre eingeschränkten Argumente für eine Entschädigung, die nur für jene geleistet werden soll, die „… heute in Notsituationen sind …“, beinhaltet die Notwendigkeit jedes einzelnen Opfers, sich erneut zu erklären, sprich, die Hose fallen zu lassen und damit ihr Martyrium noch einmal zu durchleben.
Opferhilfe muss schnell und unkompliziert geschehen. Es muss eine Grundrente geben, so wie sie das Opferentschädigungsgesetz vorsieht. Damit sie gewährt werden kann, muss dieses OEG schleunigst überarbeitet werden. Denn für Opfer vor 1976 gibt es in dieser Fassung nichts. Und die psychischen Wracks haben auch nichts zu erwarten.
Familienministerin von der Leyen will ehemalige Heimkinder, die Zwangsarbeit leisten mussten, nicht entschädigen. Ausgerechnet die Täterverbände sollen die Aufklärung leiten.
Wo beginnt das Schamgefühl eines Menschen und wo hört es auf. Diese moralische Frage, die sich jeder mal stellen sollte, muß in diesen Tagen Ministerin Ursula von der Leyen beantworten. Ihre Absichten sind nicht nur unerträglich, sondern geradezu unanständig. Sie stellen eine weitere Mißhandlung ehemaliger Kinder und Jugendlicher - nunmehr offiziell seitens der Bundesregierung - dar, die bereits zwischen 1945 und 1980 unter unermesslichen Verbrechen gelitten haben.
Von der Leyen versucht, berechtigte Entschädigungsforderungen von Heimkinder, die vergewaltigt, die zusammengeschlagen und denen die Knochen gebrochen wurden, die oft über Wochen in Dunkel- und Isolationshaft leben mußten, die oft rund um die Uhr psychischem Terror ausgesetzt waren, denen man Bildung oder Ausbildung versagt, die man zur Zwangsarbeit ins Moor geprügelt hat, abzuwimmeln.
Viele dieser ehemaligen Kinder und Jugendlichen, darunter auch körperbehinderte und/oder geistigbehinderte, sind heute Wracks. Ihr Leben wäre völlig anders verlaufen, wären sie nicht in die Fänge von Kirche, Staat und Fürsorge geraten. Dabei haben alle Aufsichtsorgane in ihrer Aufsichtspflicht versagt und damit diese Verbrechen gefördert. Hier hat die Gesellschaft eine Schuld auf sich geladen, die erst in den letzten 3 und in den kommen 10 Jahren im vollem Ausmaße sichtbar wird. Viele Geschundenen trauten sich 40, 50 Jahre nicht, über ihr Leiden zu sprechen, weil man sie oft - übrigens auch von staatlichen Stellen - als Lügner diffamierte und dies heute noch tut.
Die Forderungen der Opfer sind völlig berechtigt: Aufrichtige Entschuldigung, Entschädigung für Zwangsarbeiten, Nachzahlung der unterschlagenen Rentenbeiträge, Taschengelder, Bekleidungsbeihilfen und eine Entschädigung für ihr verpfuschtes Leben. Mit ihren verabscheuungswürdigen Absichten spielt Von der Leyen den Folterknechten und ihren Rechtsnachfolgern in die Hände, die sich schamlos wieder aus der Deckung trauen und frech behaupten: So schlimm war es alles nicht.
Soll unser Land nicht endgültig zur Bananenrepublik verkommen, dann Frau Bundeskanzlerin, pfeifen Sie diese Frau energisch zurück.
Die Forderung der Landesbischöfin Käßmann und Niedersachsens Sozialministerin Ross-Luttmann sind kein Grund zum Jubeln, weil sie viel zu spät kommen und längst noch nicht in die Tat umgesetzt sind. Nach dem Buch von Wensierski bis heute sind viele der etwa 500.000 Opfer erneut zum Opfer, nämlich der natürlichen Auslese geworden. Sie haben weder eine aufrichtige Entschuldigung noch eine materielle Entschädigung für ihr oft verpfuschtes Leben erhalten. Viele hätten gewiss ein andere Gesundheit, einen anderen Beruf, ein anderes soziales Umfeld erlebt, wenn sie nicht Opfer von Verbrechen in Heimen geworden wären. Mir scheint seit langem, daß solche Zeitstreckungen beabsichtigt sind, um die Folgekosten so gering wie möglich zu halten.
Die Meinung, auf keinen Fall pauschal zu entschädigen, ist kurzsichtig herausposaunt. Bei individueller Entschädigung muss jedes Opfer erneut die Hose fallen lassen und alles noch einmal vortragen, was es noch heute beschämt und jahrzehntelang sprachlos gemacht hat. Völlig aus dem Raster fallen all jene Opfer, die sich nicht artikulieren können, nicht Redegewandte, geistig Behinderte, sprachlich Behinderte oder Stumme und solche, die heute noch so sehr leiden, daß sie Tage oder Wochen bräuchten, um ihr Erlebtes auszusprechen.
Auf der HP gewalt-im-jhh.de dokumentieren wir die Aufarbeitung gerade solcher Fälle und erleben, welche Qualen es für diese Opfergruppe bedeutet, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzten. Die Lösung kann also nur zwischen pauschaler und individueller Entschädigung liegen. Nach meiner Meinung müssten alle Opfer eine Grundrente bis zu ihrem Lebensende erhalten. Darüber hinaus müssen zusätzliche individuelle Hilfen, psychologisch, therapeutisch, sozial und alltagsbegleitend und zusätzlich finanzielle gewährt werden. Eine Gesellschaft, die wenigstens 500 Milliarden Euro für Börsenspekulanten und stümperhafte Banker rausschmeißt, wird diese andere kleine Last aus der Portokasse schultern.
„So erzieht man keinen Menschen!“von Carola Kuhlmann
Auf Carola Kuhlmann wurde ich aufmerksam, als ich im Internet eine Stellungnahme von ihr zum Umgang mit Heimkindern und -jugendlichen in der Nachkriegszeit las. Zitat aus der Homepage der Evangelischen Kirche im Rheinland: „Carola Kuhlmann, Pädagogikprofessorin, Dozentin an der Evangelischen Fachhochschule Bochum, spricht viel mehr im Blick auf Heime für Kinder und Jugendliche von einem `Doppelgesicht´. Der Rettungsgedanke habe zum Teil zu einer `entwürdigenden Erziehung´ geführt. `Gleichzeitig war auch liebevolle Erziehung zu finden.´“
Solche verräterischen Formulierungen sind mir bekannt, nicht zuletzt seitens zahlreicher Rechtsnachfolger solcher Heime, in denen Verbrechen an den Kindern und Jugendlichen bis in die 80er Jahre hinein stattfanden. Darum habe ich ihr Buch studiert.
Die Disposition verrät schon die Zielrichtung dieses Buches: Da war mal etwas in den 50er und 60er Jahren; aber nichts Schlimmes.
Doch zunächst zum Äußeren: Auf 200 Seiten wird das gedruckt, was ohne Kürzung auf 120 Seiten gepasst hätte. Hier bestimmt allein die Optik den Preis und der ist mit 25 € beachtlich. Etwa 40 Seiten werden mit einer „historischen Einordnung der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre“ und dem „Forschungsstand und ... Ansatz und Methode der vorliegenden Studie“ verplempert. Historische Einordnungen gibt es im Internet und in den Fachbibliotheken zuhauf; es steht kein Satz in dem Buch, der zu einer neuen Erkenntnis führt.
Ab Seite 41 bis Seite 88 kommen Heimzöglinge zu Wort und zwar in der Reihenfolge: Es war besser im Heim als zu Hause (3 Aussagen), es war sowohl aus auch (3 Aussagen) und ein bisschen war es schon schlimm (5 Aussagen). Danach kommen (ehemalige) Mitarbeiter zum Zuge: a) Es waren schlechte pädagogische Methoden und schlechte Bedingungen, b) es war strenger als heute, aber nicht alles schlecht und - als hätte man es geahnt - c) es war manches besser als in der heutigen Heimerziehung.
Eigentlich möchte man nach dem Studium der Disposition bereits das Buch aus der Hand legen. Man ahnt, es soll das Buch von Wensierski „Schläge im Namen des Herrn“ als völlig überzogen darstellen. Ganz so schlimm war es doch nicht. Dafür hat Carola Kuhlmann Aussagen von 21 Zeitzeugen dokumentiert.
Vertieft man sich in den Text, so muss einem, mit der Thematik befassten Leser bereits auf der ersten Seite ganz mulmig werden. In der „Einleitung: Nur Schläge im Namen des Herrn?“ heißt es dort: „Seit vor ungefähr drei Jahren in den Medien die entwürdigenden pädagogischen Maßnahmen in der frühen Heimerziehung zum Thema gemacht wurden, hat sich die Debatte um `Schläge im Namen des Herrn´ noch nicht wieder beruhigt“.
Wer die Verbrechen an Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen, die teilweise schwerst körper- und/oder geistigbehindert waren bis zum Beginn der 80er Jahre mit „entwürdigenden pädagogischen Maßnahmen“ umschreibt, will vertuschen und verharmlosen. Derartige Formulierungen ziehen sich durch das gesamte Buch. So wird die Schuld für diese Verbrechen gern in den Auswirkungen der Kriegszeit gesucht: „Dass es – wie im Buch `Schläge im Namen des Herrn´ dargestellt wurde – besonders in den 1950er Jahren eine Reihe von nicht nur autoritären, sondern zum Teil sadistische Erziehungspraxen gegeben hat, ist vermutlich als eine lange Nachwirkung nationalsozialistischer Erziehungsvorstellungen sowie als Folge von nicht verarbeiteten Erfahrungen in der NS- und Kriegszeit zu verstehen“.
Die Feststellung, dass bereits 1947 in den Heimen das Prügeln verboten wurde und der Artikel 1 (1) des Grundgesetzes von 1949 diametral zu Prügel- und anderen Gewaltorgien steht, müsste spätestens danach auf dem Fuße folgen, tut es aber nicht. Es drängt sich der Eindruck auf, als ob die Heimgeschichte durch den Weißwaschgang der Nachkriegsgeschichte und der Geschichte der Pädagogik gespült werden und das Versagen kirchlicher und staatlicher Institutionen kleingeschrieben werden soll.
Danach kann man das Buch getrost zuklappen. Es folgt kein einziger Satz, der die Heimsituation der Kinder in den drei Jahrzehnten 1945 bis 1980 auch nur annähernd zutreffend beschreibt. Carola Kuhlmann hat entweder überhaupt nicht oder völlig mangelhaft recherchiert. Sie hat es versäumt, im World Wide Web die vielen hundert Kindheits- und Jugenderinnerungen zu studieren. Danach hätte sie ein anderes Buch geschrieben. So hat sie nur eins bewirkt: Den Kirchen nachgeplappert, die bis heute ihre Aussage verteidigen: So schlimm war es nicht und es war eben die Nachkriegs-zeit. Sie können das Buch direkt über den Gekreuzigten nageln. Aber Vorsicht: Der Gekreuzigte könnte schreien.
Carola Kuhlmann, so schreibt man keine Bücher und schon gar nicht als Wissenschaftlerin. Dass dieses Buch ein Beitrag zu dem Forschungsprojekt „zur Geschichte der Heimerziehung an der Evangelischen Fachhochschule Bochum“ sein könnte, sprengt den Rahmen meiner Vorstellungen.