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17. Januar 2010 7 17 /01 /Januar /2010 00:14
"Die Vorwürfe betreffen einen zentralen Punkt für die Identität kirchlicher Einrichtungen: Die Schilderungen verweisen auf massive Erfahrungen von Einsamkeit, von seelischen und körperlichen Verletzungen sowie von einem grundlegenden Mangel an Liebe und Zuwendung."

Umschreibung von Verbrechen an Heimbewohnern der 50er bis 70er Jahre
Johannes Stücker-Brüning, Tel.: 0228/103-436, E-Mail: j.stuecker-bruening@dbk.de
Deutsche Bischofskonferenz
Referat Caritative Fragen zur
5. Sitzung Runder Tisch Heimerziehung am 5./6.11.2009 in Berlin
Zu TOP 5 - Berichte der Kirchen und der kirchlichen Verbände



http://www.heimkinder-hotline.de/images/stories/091104_statement_st%C3%BCcker-br%C3%BCning.pdf

http://www.dbk.de/wirueberuns/sekretariat/ber_kirche_gesellschaft/organisation/index.html



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15. Januar 2010 5 15 /01 /Januar /2010 23:15
Rettung für den Runden Tisch
Rund um diesen Runden Tisch herrscht jedoch seit Wochen Streit, der sich jetzt vor Gericht entlädt. Hintergrund ist ein tiefes Zerwürfnis innerhalb des Vereins ehemaliger Heimkinder (VeH), dem Interessenverband der Geschädigten. Denn es tauchen zunehmend radikalere Forderungen auf. Auch auf Anraten der Anwälte Gerrit Wilmans und seinem „Berater“ Michael Witti besteht der VeH jetzt auf einer großzügigen materiellen Entschädigung für erlittenes Unrecht. Wilmans hat schon mal vorgerechnet: Bekäme jedes ehemalige Heimkind 50 000 Euro Entschädigung, ergäbe sich bei den geschätzten 500 000 Opfern der „christlichen Nächstenhiebe“ eine Schadenssumme in Höhe von 25 Milliarden Euro. Das gemäßigte Lager der Ex-Heimkinder hält solche Vorstöße für völlig überzogen. Ihnen geht es eher um eine klare Entschuldigung kirchlicher Gremien, Einsicht in ihre Akten, therapeutische Hilfen oder rentenrechtliche Verbesserungen. „Ich fürchte, die Anwälte haben uns auseinander dividiert. Ich habe längst nicht den Eindruck, das ihnen unsere Sache ein Herzensanliegen ist“, sagt Hans-Siegfried Wiegand, eines der Heimkinder am Runden Tisch.

http://www.ksta.de/html/artikel/1246883779827.shtml



Ein "Sorry" reicht längst nicht mehr!
Moment einmal! Dass sich die Heimopfer heute mit einem "Vergelts Gott", Einsicht in ihre Akten und Hilfe bei Therapie und neuer Rentenberechnung begnügen, ist reinstes Wunschdenken der Kirchen und staatlich Verantwortlicher. Zu sehr wurde in den letzten drei Jahren die Öffentlichkeit belogen, wurden Fakten verdreht, der Runde Tisch in Berlin mit Halbwahrheiten überschüttet, wurde Opfern mit der Justizkeule gedroht, wurden  Äußerungen in die Presse geschmissen, die nichts anderes als Schadensminimierung zum Zwecke hatten.
Die Rechtsnachfolger der Täter haben sich zum Ziel gesetzt, die Verbrechen auszusitzen, die biologische Lösung der Probleme durch die Vergabe immer neuerer Gutachten und Studien in aller Ruhe abzuwarten. Selbst die angebotenen Brosamen erstrahlen nur oberflächlich in moralischem Hochglanz. Zu oft sind Akten bei der zweiten Besichtigung dünner als bei der ersten, sind ganze Aktenbestände nach Regenergüssen in Kellern plötzlich abgesoffen oder fehlen komplett. Zu oft wurde geschwärzt, wurden Strafbücher schluderig oder gar nicht geführt. So ist ein umfangreiches Bild über die eigene Heimsituation praktisch nicht möglich. Selbstverständlich weiß die Täterseite auch, dass psychotherapeutische Behandlungen in der Regel von der Krankenversicherung bezahlt werden. Angesichts der Verbrechen und permanenter Manipulationsversuche in der Aufarbeitung dieser schwarzen Zeit ist spätestens jetzt eine Opferentschädigung dringend notwendig. Dies schon darum, um den Opfern zu verdeutlichen, dass man sich ohne eine solche Entschädigung erneut an ihnen vergehen würde. Die Opfer brauchen die Mittel, um die letzten Lebensjahrzehnte in Würde zu  erleben und sie brauchen Schutz im Altenheim vor weiteren Verbrechen.
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15. Januar 2010 5 15 /01 /Januar /2010 13:54

Man muss sich schon die Frage stellen, ob es Dummheit, Frechheit oder Berechnung ist, dass die katholische Kirche eine Hotline für ihre Opfer anbietet. Mir kommt dies so vor, als ob der Wolf den Lämmern die Zitzen als Tränke anbietet. Drei Jahre nach dem Buch von Wensierski ist nichts passiert, außer Bedrohungen etlicher Opfer mit Klagen, Vertuschungsversuchen, Verharmlosungen, Zeitverzögerung durch Anforderung von Gutachten, die allerdings bei Adam und Eva anfangen sollen, Falschdarstellung der Opferzahlen durch Robert Zollitsch und windelweiche Erklärungen von Johannes Stücker-Brüning vor dem Runden Tisch Berlin. In seinem Statement zur 5. Sitzung lässt er wenigstens die Katze aus dem Sack und gibt zu, was die katholische Täterseite bedrückt:

„Verengung möglicher Lösungsvorstellungen auf die finanzielle Entschädigung.“

 

Damit dies nicht so schnell passiert, hat man den Opfern eine Klagemauer in Köln errichtet, die dem Vernehmen nach irgendwo in der Beratungsstelle für Homosexuelle angesiedelt sein soll. Natürlich wird niemand nachkontrollieren können, ob überhaupt und wieviele Opfer anrufen. Woher wissen die Anrufer, ob ihre Aussagen nicht mißbraucht werden? Die bisherigen Erfahrungen berechtigen zu einem gesunden Mißtrauen. Die Freie Arbeitsgruppe JHH 2006 dokumentiert die Verbrechen an behinderten Klein- und Schulkindern. Aus dieser Arbeit sind viele Kontakte zu Opfern aus katholischen Einrichtungen entstanden. Mir ist kein einziges Opfer bekannt, das zum Hörer greifen will. Pikante Peinlichkeit am Rande: Das Lamm soll für die Nutzung der Tränke gefälligst 20 Cent zahlen.

Es wird Zeit, dass die Ängste von Stücker-Brüning sich bewahrheiten und mit der Wiedergutmachung begonnen wird.

link

http://www.heimkinder-hotline.de/images/stories/091104_statement_st%C3%BCcker-br%C3%BCning.pdf
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13. Januar 2010 3 13 /01 /Januar /2010 23:23

»Leid von denen, die sich christlichen Geboten verschrieben haben«

»Wie aber konnte solches Leid – Gewalt, Hunger, Demütigung – gerade von denjenigen ausgehen, die sich den christlichen Geboten wie der Nächstenliebe und Sanftmut verschrieben hatten? Sara Böhmer, Generalpriorin der Dominikanerinnen von Bethanien, versucht eine Erklärung: Die geringen Mittel – zwei Mark pro Tag pro Kind –, der hohe Druck der Betreuerinnen wegen der vielen Kinder pro Person und die damaligen Vorstellungen, dass Frauen per se gute Mütter seien, weil sie als Mütter geboren wurden, seien Erklärungsansätze. „Aber natürlich ist das keine Entschuldigung.“« Mehr bei: http://www.evangelisch.de/themen/gesellschaft/hotline-fuer-heimkinder-die-zeit-des-schweigens-ist-vorbei9751

Dies ist nicht nur keine Entschuldigung, sondern auch keine Erklärung. Es gab in dieser Zeit viele Familien, die in Armut lebten, aber ihre Kinder mußten nicht in einer Atmosphäre der Ablehnung, des Hasses und der Mißhandlung aufwachsen. Die Mütter dieser Kinder waren auch nicht pädagogisch ausgebildet. Aber sie hatten (in der Regel) ihre Kinder ganz einfach lieb.

Wenn ausgerechnet eine Dominikanerin zu Erklärungsversuchen ansetzt, darf man wohl an die Ursprünge dieses Ordens erinnern. Es war die Verfolgung der Katharer, der Ketzer, die dieser Orden im Anfang des 13. Jahrhunderts sich zur Aufgabe gesetzt hatte. Das war eine ergiebige Marktnische. Die Dominikaner machten ihre Aufgabe so gründlich, daß sie bald domini canes, die Hunde des Herrn genannt wurden. Inquisition und Hexenverfolgung kamen später hinzu. Dominikaner war auch einer der beiden Verfasser des »Hexenhammers«.

Es wäre theologisch wie psychologisch sehr interessant, die menschenverachtende Praxis religiöser Gemeinschaften zu untersuchen, die in aller Regel im Gegensatz zu ihren Lehren steht. Man könnte und sollte das am Beispiel der Heimkinderschicksale tun.

 

Dierk Schaefers Blog

»Leid von denen, die sich christlichen Geboten verschrieben haben«

Veröffentlicht in News, heimkinder von dierkschaefer am 13. Januar 2010

 

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12. Januar 2010 2 12 /01 /Januar /2010 22:39
AUS DER SCHMUNZELECKE DES RUNDEN TISCHES
2. Ungewissheiten, Verengungen und Betroffenheit im Kern
Dies sind – offen gesagt - die zentralen Schwierigkeiten für die katholische Kirche in der Auseinandersetzung:

- Ungewissheit über die quantitative Dimension des Problems.
- Verengung möglicher Lösungsvorstellungen auf die finanzielle Entschädigung.
- Die Vorwürfe betreffen einen zentralen Punkt für die Identität kirchlicher Einrichtun-gen: Die Schilderungen verweisen auf massive Erfahrungen von Einsamkeit, von seelischen und körperlichen Verletzungen sowie von einem grundlegenden Mangel an Liebe und Zuwendung. Das genaue Gegenteil dieser Aspekte hat viele Geistliche und Laien ursprünglich dazu bewogen, in der kirchlichen Erziehungsaufgabe tätig zu werden.

[url]http://www.heimkinder-hotline.de/images/stories/091104_statement_st%C3%BCcker-br%C3%BCning.pdf
[/url]

Ihr Lümmel, die Ihr es wagt, Euch Heimopfer zu nennen! Haben unsere Schläge nicht gereicht, Euch einzuprügeln, dass man für unsere Zucht dankbar zu sein hat. Dass man uns dafür ehrt, dass wir Euch zu guten, christlichen Menschen gebogen haben. Wir haben Euch aus der Gosse geholt, haben Euch vor dem weltlichen, familiären und unchristlichen Untergang bewahrt. Unser Ziel war es immer, aus Euch Menschen zu machen.
Was ist der Dank dafür? Ihr klagt uns an, Ihr übertreibt mit Euren Heimgeschichten, Ihr tut, als wäret Ihr seelische Wracks und jetzt wollt Ihr auch noch Geld von uns haben.

Ok, wenn Ihr behauptet, dass Ihr manchmal einsam ward, Ihr seelisch und körperlich verletzt wurdet, und unter Liebesentzug gelitten habt, - dürfte das eigentlich nicht sein. Wir wollten Euch ja alle gute Erzieher sein. Und ein paar schwarze Schäfchen gibts überall. Sorry! Sorry! Sorry! - Aber das dürfte auch ein für allemal reichen!
Eure Katholische Kirche
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11. Januar 2010 1 11 /01 /Januar /2010 22:03
Immer wieder werden die Ehemaligen und ihre UnterstützerInnen gefragt: Warum
wird erst jetzt darüber geredet? Wie konnte es zu diesem langen Schweigen
kommen? Vor allem JournalistInnen wollen auf diese berechtigte und notwendige
Frage eine Antwort haben. Meine Antwort als Mitinitiator der „Heimkampagne“ der
„langen achtundsechziger Jahre“: Wir haben durch die Skandalisierung der
Heimerziehung einen wesentlichen Anstoß zur Reform der Kinder- und Jugendhilfe
gegeben, die in einem langen und schwierigen Prozess schließlich 1990/91 zum jetzt
geltenden Kinder- und Jugendhilfegesetz führte. In diesem Gesetz gibt es den
„unbestimmten Rechtsbegriff Verwahrlosung“ nicht mehr, mit dessen Hilfe seit seiner
Einführung im Preußischen Fürsorgeerziehungsgesetz von 1900 (und ähnlichen
Gesetzen in allen Bundesstaaten des Kaiserreichs) und schließlich im
Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 Millionen Kinder und Jugendliche in die
Öffentliche Erziehung gebracht wurden. Fürsorgeerziehung und die sogenannte
Freiwillige Erziehungshilfe, sowie die „Unterbringung“ mit Hilfe der §§ 5 und 6 des
Jugendwohlfahrtsgesetzes gibt es nicht mehr und die „Geschlossene Unterbringung“
als Regelpraxis und Schluss-Stein des Jugendhilfe-Systems des zwanzigsten
Jahrhunderts in Deutschland ist verschwunden.1 Das System wurde geändert – die
Opfer wurden vergessen; auch von mir und anderen AkteurInnen aus dem Spektrum
der Kritischen Sozialen Arbeit. Sie verschwanden in der Unauffälligkeit scheinbar
gelingenden bürgerlichen Alltagslebens oder im Knast und der Psychiatrie oder sie
schleppten sich mit den Folgen physischer und psychischer Misshandlungen von
einer Therapie in die andere. Manche sind aus Deutschland geflohen, weil sie mit
den Stigmata „Verwahrlosung“, „schwer erziehbar“, „Heimzögling“ beziehungsweise
„Fürsorgezögling“ in dieser Gesellschaft nicht leben konnten und wollten. Viele sind
gestorben, manche durch die eigene Hand. Allen gemeinsam war das Schweigen,
der Versuch, das Unsagbare zu verdrängen. Als Kinder und Jugendliche mussten sie
erfahren, dass man ihnen nicht glaubte, wenn sie um Schutz und Hilfe bettelnd – bei
Vormündern, SozialarbeiterInnen der einweisenden Jugendämter, LehrerInnen und
Pfarrern und – das war vielleicht am schlimmsten – bei Eltern und Verwandten,
sofern sie überhaupt die Möglichkeit dazu hatten – über das ihnen zugefügte Leid
reden wollten. Die tägliche Botschaft: Du bist nichts wert, aus dir wird nie etwas, du
bist ein Kinder der Sünde, Gott sieht alle deine Schlechtigkeiten, dir kann man nichts
glauben – diese umfassende Beurteilung als „VersagerIn“ – hat bei sehr vielen die
Entstehung von Selbstvertrauen verhindert und zu einer Scham geführt, die den
Mund verschloss. Auch gegenüber den Allernächsten im späteren Leben, den
Partnerinnen und Partnern in der Liebe, den eigenen Kindern, den FreundInnen und
KollegInnen und, um leben zu können, gegenüber der eigenen inneren Stimme der
Erinnerung. Selbst Geschwister, die gleichzeitig oder nacheinander in Heimen leben
mussten, haben „danach“ nie wieder miteinander „darüber“ gesprochen. Dieses
Schweigen der Opfer über Jahrzehnte hat das gesellschaftliche „Vergessen“ des an
ihnen begangenen Unrechts ungewollt erleichtert. Und noch eins: Die wenigen, die
sich nicht „zufrieden geben“ wollten, unterlagen regelmäßig auf dem langen Weg
durch die Instanzen und wurden immer wieder und weiter gedemütigt und
viktimisiert. „Es hat keinen Zweck, sich aufzulehnen – du musst dich anpassen und
schweigen, sonst kannst du nicht leben“ – das war die Maxime der Allermeisten.
In den zurückliegenden sechs Jahren haben sich bei JournalistInnen,
WissenschaftlerInnen, vor allem aber bei den Aktiven des 2004 gegründeten Vereins
ehemaliger Heimkinder e.V. um die zweitausend Ehemalige gemeldet. Nach jedem
Zeitungsartikel, nach jedem Beitrag im Fernsehen oder im Rundfunk, nach jeder
öffentlichen Veranstaltung trauen sich Weitere, Kontakt aufzunehmen. Viele
zunächst noch unter dem Vorbehalt der Verschwiegenheit. Die große Mehrheit der
noch Lebenden aus der von mir errechneten Zahl von circa 800.000 Mädchen und
Jungen, die in den dreißig Jahren von 1945 bis 1975 in Heimen leben mussten,
schweigt auch weiterhin. Die Verdrängung aufzuheben, sich mit der eigenen
Geschichte an die Öffentlichkeit zu wagen, ist ein riskantes Unterfangen.
Posttraumatische Reaktionen bis hin zu Panikattacken werden von Vielen, die den
Schritt gewagt haben, berichtet und auch dramatische Reaktionen im sozialen
Nahfeld sind nicht selten. Die Versuche, die lückenhafte und gebrochene Biografie
zu „rekonstruieren“, an die Jugendamts-, Vormundschafts- und Heimakte zu
kommen, die Orte des Schreckens aufzusuchen, mit ehemaligen PeinigerInnen zu
reden – diese ganze Erinnerungs-Arbeit ist besetzt mit Ängsten, kann zu
Verzweiflung und Depression, aber auch zu Aggression, zu Wut- und
Hassausbrüchen führen. Als im Dezember 2008 das Familienministerium versuchte,
den nach Jahren erstrittenen Bundestagsbeschluss in wesentlichen Punkten zu
unterlaufen (ich berichte weiter unten genauer über diese Vorgänge), kam diese Wut
und Verzweiflung in allen Medien, vom Internet bis zum TV, zu einem erschütternden
Ausbruch. Auf einen TAZ-Artikel gab es dreiundvierzig Äußerungen von Ehemaligen
im TAZ-Leserportal. Ein wahres Scherbengericht über die Ministerin von der Leyen.
Aber es muss nicht so bleiben, wie das Beispiel Irland zeigt. Gezwungen durch die
landesweite Empörung, die der Film über die „Unbarmherzigen Schwestern“
auslöste, musste die Irische Regierung eine Untersuchungskommission einrichten,
die für die zurückliegenden vier Jahrzehnte Fälle von körperlicher Misshandlung und
sexuellem Missbrauch untersuchen musste. Begleitend wurde ein Beratungsservice
für ehemalige Heimkinder eingerichtet. Innerhalb von knapp zwei Jahren meldeten
sich circa 15.000 Betroffene, die gegenwärtig vom Irischen Staat mit einer Milliarde
Euro und 128 Millionen Euro von der Katholischen Kirche entschädigt werden.
Es ist beschämend, wenn von Verantwortlichen der Kirchen und ihrer
Wohlfahrtsverbände, von Landesjugendämtern, Jugendministerien und der Politik
behauptet wird: Dass die Vorwürfe nur von vergleichsweise Wenigen erhoben
würden, zeige, dass es sich um „bedauerliche Einzelfälle“ handele, die von wenigen
untauglichen ehemaligen ErzieherInnen zu verantworten seie. Die ganz große
Mehrheit habe offensichtlich keinen Grund zur Klage und sei durch die
Heimerziehung und Fürsorgeerziehung in ihrer Entwicklung gefördert worden.
Die so argumentierenden reden wider besseres Wissen, denn es kann ihnen nicht
entgangen sein, dass Schweigen, Verdrängung und Scham bei den Opfern, die die
eugenische und rassistische Vernichtungspolitik des NS-Regimes überlebten, eines
der großen Probleme im individuellen und kollektiven Umgang mit ihren Erfahrungen
war. Das zeigte sich zuletzt bei der erst in den späten achtziger Jahren erfolgten
Anerkennung der Opfer der in Kooperation von SS und Jugendbürokratie (vom
Reichsinnenministerium bis hinunter zu den kommunalen Jugendämtern) errichteten
Jugend-Konzentrationslagern und der erst 1998 durch den Bundestag anerkannten
Opfer der Zwangssterilisierung als Verfolgte des NS-Systems. Es kann den so
Argumentierenden, zumindest wenn es sich um Professionelle der Kinder- und
Jugendhilfe handelt, auch nicht unbekannt sein, dass frühe traumatische
Erfahrungen aus Überlebensgründen ein Leben lang abgespalten werden und dass
die Gefahr post-traumatischer Reaktionen an der Schwelle des Alters und im Alter
groß ist, weil durch veränderte Lebensumstände (Ausscheiden aus dem
Erwerbsleben, Einsamkeit, Krankheiten, Angst vor Hilflosigkeit, Angewiesenheit und
erneuter Fremdbestimmung) und nachlassende psychische Kräfte die
Abspaltungsleistungen nicht mehr durchgehalten werden können. Wie oft habe ich
gehört. „Das ist doch eigenartig, dass diese Leute jetzt solche Behauptungen
aufstellen, wo sie doch offenbar jahrzehntelang einigermaßen gut gelebt haben, was
wollen sie damit erreichen?“


Prof. Dr. Manfred Kappeler in:
"Der Kampf ehemaliger Heimkinder um die Anerkennung des an
ihnen begangenen Unrechts"
http://www.gewalt-im-jhh.de/Kappeler-Kampf_ehemaliger_Heimkinder__um_Anerkennung.pdf


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10. Januar 2010 7 10 /01 /Januar /2010 22:48
Konzept für einen Flyer (email 8. 12. 2009) an die Demo-Organisation

Ehemalige Heimkinder
Ehemalige Schulkinder
Ehemalige Jugendliche
klagen an!
 
Wir klagen an
weil wir geschlagen wurden
weil wir zwangsgefüttert wurden
weil wir sexuell missbraucht wurden
weil wir gefoltert wurden
weil wir in dunklen Kellerzimmern eingesperrt wurden
weil wir seelisch zu Grunde gerichtet wurden
weil wir isoliert wurden
weil wir unzureichend ausgebildet wurden
weil wir zu Zwangsarbeit gezwungen wurden
weil man Hunde auf uns hetzte
weil man uns aufeinander hetzte und uns für gegenseitige Misshandlungen
lobte
weil man uns von unseren Geschwistern trennte
weil man uns in die Kirche zwang
weil uns ehemalige KZ-Aufseher erziehen sollten
weil man uns medizinische Hilfe versagte
weil man uns sogar in den letzten 4 Jahren immer beleidigte und die
Gewalt und Verbrechen an uns leugnete oder verniedlichte
 
Wir klagen an
die heute noch lebenden Verbrecher, die unser Leben zerstört haben
die katholische Kirche, die die Verbrechen unter Ihrem Dach duldete
die evangelische Kirche, die ebenfalls die Augen fest zudrückte
die staatlichen Heimträger, die ebenso Verbrechen duldeten oder
übersahen und die Akten fälschten
die Landschaftsverbände, die mit ihren Landesjugendämtern die
Aufsichtspflicht nicht ausgeführt hatten
die Kommunalverwaltungen, weil sie nicht sehen und hören und schon gar
nicht sprechen wollten, wenn sie doch mit den Verbrechen konfrontiert wurden
die Menschen, die unser Leid sahen und feige schwiegen
 
Wir forden
Entschädigung
Entschuldigung
Rentennachzahlungen
Schmerzensgeld
Kostenübernahme für medizinische und psychologische Massnahmen
ein Lebensende in Würde ohne Angst vor weiterer Gewalt im Altenheim
 
Unterstützen Sie uns!
Demonstrieren Sie mit uns!
Konfrontieren Sie Ihre Kirche mit ihrer verbrecherischen Vergangenheit!
Berichten Sie Ihrer Zeitung von Heute, von dieser Demo!
Informieren Sie Ihren Landtagsabgeordneten, Ihren
Bundestagsabgeordneten, Ihren Bürgermeister von dieser Demo!
Fordern Sie Wiedergutmachung für die Opfer!
Unterschreiben Sie die Petition von Dierk Schäfer!

Handeln Sie, wenn in Ihrer Umgebung Gewalt geschieht!
Und wenn Sie sich nicht trauen, rufen Sie heimlich 110 an und
fotografiern Sie die Gewalt mit Ihrem Handy!
Schon morgen können Sie das nächste Opfer sein!

Dieser Text (Entwurf) kann ohne Nachfrage kopiert werden.
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8. Januar 2010 5 08 /01 /Januar /2010 00:25

Kungelei im Hinterzimmer

 

Entwurf des Zwischenberichtes
des Runden Tisches vorgelegt


Den Teilnehmern des Runden Tisches ging
dieser Tage der Entwurf des Zwischenberichtes zur Heimerziehung in den
Nachkriegsjahren zu. Nach der nächsten Sitzung am 15. Januar 2010 hat
man dann für etwaige Änderungen noch 7 Tage eingeplant, Termin der
Veröffentlichung soll schon der 22. Januar 2010 sein.

Diese Eile ist ebenso verdächtig wie
unnötig. Für die Zusammenfassung des in den Bericht eingeflossenen
Lehrbuchwissens zur Heimerziehung hatte man gut 9 Monate Zeit und sehr
weit darüber hinaus geht der Bericht leider nicht.

Manches gerät zudem peinlich, anderes
ist so offensichtlich als Vorbereitung der in einem Jahr anstehenden,
abschließenden Stellungnahme geplant, dass hier ein unguter Verdacht
aufkommt: wurde dieser Zwischenbericht in den Hinterzimmern mit den
Nachfolgern der damals Verantwortlichen ausgehandelt und zwar unter
Ausschluss der ehemaligen Heimkinder und der Öffentlichkeit?

Peinlich ist die Selbstdarstellung der
sog. Geschäftsstelle, die sich „über Nacht“ von der festgeschriebenen
Dienstleister-Rolle zu einem allzu eigenständigen Moderator gewandelt
zu haben scheint und damit nicht mehr und nicht weniger in Frage stellt,
als die Rolle der Vorsitzenden Frau Dr. Antje Vollmer. Ein Eindruck,
der auf Nachfrage auch durch die Eindrücke und Erfahrungen vieler ehemaliger
Heimkinder bestätigt wird. Der Runde Tisch ist keine Veranstaltung
des AGJ und doch vermittelt dieser Zwischenbericht genau diesen Eindruck.

Das Schicksal ehemaliger Heimkinder in
der Nachkriegszeit kommt nicht wirklich vor in diesem Papier, das in
seinem sozialtechnokratischen Tenor so gar nicht in die Zivilgesellschaft
passen will. Selbstbespiegelung einer hoffnungslos in der eigenen Bürokratie
erstarrten „Branche“.

Basierend auf der vorliegenden umfangreichen
Literatur „gönnt“ man sich viele weiße Flecken in der Landkarte
der Heimerziehung der Nachkriegsjahre. Ansatzweise konkret wird man
nur bei der Beschreibung der angeblichen finanziellen Strukturen.

Übertroffen wird dieses nur durch den
ein oder anderen recht unverhohlen eingewebten „Persilschein“, etwa
für die Kinderheime in kommunaler Trägerschaft. Dass hierzu ebenfalls
erschütternde Heimbiografien vorliegen, lässt man schlicht unter den
Tisch fallen.

Fällt aber auch nicht weiter auf, weil
man generell die ehemaligen Heimkinder nicht zu Wort kommen lässt.

Gipfel der Inkompetenz ist aber die Behauptung,
dass die kirchlichen Mitarbeiter für „Gottes Lohn“ gearbeitet hätten.
Ein schneller Blick in die Akten kommunaler Sozialbehörden hätte da
sofort offen gelegt, dass diese sehr wohl in den Gehaltslisten der Kommunen
standen.

Die Art und Weise der Beschreibung der
zeitgenössischen Pflegesätze, als nicht „kostendeckend“, ist schlichte
betriebswirtschaftliche Inkompetenz. So ist dem AGJ oder wer auch immer
den Zwischenbericht verfasst hat, schon der einfache Degressionseffekt
von Fixkosten unbekannt. Wer heute wirklich noch bezweifelt, dass die
Kinder- und Erziehungsheime für deren Träger florierende Wirtschaftsbetriebe
gewesen sind, hat sich nicht wirklich kritisch mit dem Thema auseinandergesetzt.

Der gesamte Zwischenbericht trägt den
unangenehmen „Duft“ der Schadensbegrenzung für die ehemaligen Heimträger.
Hierzu passt allerdings auch, dass man ziemlich schamlos die ehemaligen
Heimkinder, heute mündige Erwachsene, ausgegrenzt hat. Klar und deutlich,
und dies ist der ungünstigste Eindruck, der von einem Bericht dieser
Art ausgehen kann: dieser „Bericht“ ist die Verlängerung des sozialen
Ungleichgewichts aus den alten Heimtagen.

Der Zwischenbericht hilft trotzdem dem
interessierten Beobachter beim Verstehen der aktuellen Heimdebatte auf
die „Sprünge“: da war nämlich wiederholt die regelrechte „Sorglosigkeit“
kirchlicher Akteure zu beobachten, die den Heimskandal zwar als lästig,
aber nicht wirklich beunruhigend einzustufen schienen.

War man sich vielleicht sicher, dass
man die „Deutungshoheit“ mit Hilfe des AGJ und der vielen Hinterzimmer
unter Ausschluss der ehemaligen Heimkinder fest im Griff hatte?

Wenn das so wäre, wäre es endlich Zeit
für ein Donnerwetter der Vorsitzenden!

In diesen Zusammenhang passt auch, dass
man Ausführungen zu dem Rechtsgutachten der Frankfurter Universität
vergebens sucht, das offen und unmissverständlich über Menschenrechtsverletzungen
in der Heimerziehung der Nachkriegsjahre berichtet.

Es gibt weitere Ungereimtheiten. So ein
groß angekündigtes Forschungsprojekt (Universität Bochum), von
dem weder Ross noch Reiter wirklich bekannt sind. Dessen angekündigter
Zwischenbericht konnte von den ehemaligen Heimkindern, trotz wiederholter
Nachfrage und Zusagen seitens der Projektleitung, bis dato nicht eingesehen
werden.

Die Heimträger hinterlassen den Eindruck,
dass man sich „seiner Sache“ sehr sicher ist und das ist der schlechteste
aller möglichen Eindrücke, den man von einen vorgeblichen Runden Tisch
haben kann.

Jürgen Beverförden

http://www.diakonie-forum.de/themen-und-arbeitsfelder-der-diakonie/heimkinder/p12833-heimkinder-brauchen-die-unterst-tzung-der-diakonie/#post12833
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6. Januar 2010 3 06 /01 /Januar /2010 21:51

Dierk Schäfer in: http://dierkschaefer.wordpress.com/


Jugendfürsorge und Grundgesetz

Es dauert oft sehr lange, bis die Erkenntnisse der Rechtswissenschaft einschließlich des Verfassungsgerichts auch in der niederen Justiz einschließlich anderer Behörden aufscheinen.

Der Fund von Dr. Carlo Burschel ist ein weiterer Beleg für die Trägheit unserer Gesellschaft, unserer Institutionen und von uns desinteressierten Einzelnen. Man kann diese Trägheit auch eine des Herzens nennen.

Ich gebe die Auszüge aus dem Gutachten von Prof. Denninger aus dem Jahre 1969!!! so wieder, wie sie Dr. Burschel abgeschrieben hat. Von mir erkannte Tippfehler habe ich beseitigt. Die Hervorhebungen im Fettdruck stammen von mir.

http://www.diakonie-forum.de/themen-und-arbeitsfelder-der-diakonie/heimkinder/p12738-neues-aus-dem-heimarchiv/#post12738

c. [ »commont« - Dr. Carlo J. Burschel / BURSCHEL, Carlo / CBurschel / Carlo Burschel
( Jg. 1962 ), Lehrbuch-Autor und Herausgeber, u.a. „Umwelt“ / „Systeme“ / „Industrieformen“ / „Politikwissenschaft“ / „Unternehmen“ / „Kunst“ / „Antiquarien“ / »„Heimarchiv“ von Dr. C. Burschel«; seit 29. Mai 2009 vielfältiger und regelmäßiger Kommentator im Diakonie-Forum; und der jetzt auch dem ungefähr Mitte November 2009 ins Leben gerufenen „Betroffenen-Arbeitskreis Runder Tisch Heimerziehung“ angehört ]

Wörtliche Auszüge aus dem Gutachten (Tippfehler gehen zu meinen Lasten)

„Jugendfürsorge und Grundgesetz“

Verfassungsrechtliche Leitgesichtspunkte für Maßnahmen der Freiwilligen Erziehungshilfe und der Fürsorgeerziehung

Prof. Dr. E. Denninger

Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt

Lehrstuhl für Öffentliches Recht II

8.7.1969

[ Zitate ! ]

Jedes Kind und jeder Jugendliche hat ein „Recht auf Erziehung“ (§ 1 Abs. 1 JWG), d.h. auf Entwicklung und Ausbildung derjenigen Fähigkeiten, die eine selbstverantwortete Existenz im beruflichen und im privaten Leben sowie in einer demokratischen Gesellschaft politisch mündiger Bürger voraussetzt. Die in der hessischen Landesverfassung (Art. 56 Abs. 4) normierten Ziele der staatlich-schulischen Erziehung müssen als richtungsweisend angesehen werden, wo immer der Staat in mittelbarer oder unmittelbarer Verwaltung öffentliche Erziehungsaufgaben wahrnimmt.

(Anmerkung, c.: Das Gutachten bezieht sich auf die hessischen Verhältnisse, ist aber durchaus übertragbar auf die übrigen Bundesländer.)

Insbesondere sind sie bei der Durchführung der Freiwilligen Erziehungshilfe und der Fürsorgeerziehung zu beachten. Diese Erziehungsziele sind:

1. Heranbilden des jungen Menschen zur sittlichen Persönlichkeit.

2. Vorbereitung zu beruflicher Tüchtigkeit und zu politischer Verantwortung.

3. Vorbereitung zum SELBSTÄNDIGEN und VERANTWORTLICHEN „Dienste am Volk und der Menschheit durch Entwicklung der Tugenden: Ehrfurcht, Nächstenliebe, Achtung und Toleranz, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit.

Der „Dienst am Volk und der Menschheit“ wird geleistet, indem der Bürger seinem Beruf nachgeht und seine staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten wahrnimmt.

Die Auffassung (vgl. etwa: Riedel, JWG-Kommentar, 4. Aufl. 1965, Anm. 7, zu § 1), der Normierung eines Rechtes auf Erziehung in § 1 Abs. 1 JWG komme nur die Bedeutung eines nicht unmittelbar rechtswirksamen Programmsatzes zu, ist verfassungsrechtlich nicht haltbar. Die staatliche Gemeinschaft ist verpflichtet, bedürftigen Mitbürgern zur Schaffung oder Erhaltung einer menschenwürdigen Existenz Hilfe zu leisten. Das folgt aus dem Auftrag, die Menschenwürde zu schützen (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) in Verbindung mit der Verpflichtung auf den Sozialstaat (Art. 20, 28 GG) sowie auf den Grundsatz der Gewährung gleicher Chancen (Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 1 GG).

Der Gesetzgeber hat anerkannt, dass dieser staatlichen Pflicht ein subjektiv öffentliches Recht des Bedürftigen korrespondiert (vgl. § 1 Abs. 2 und § 4 BSHG).

….

„Erziehungs“-Maßnahmen und -Methoden, welche nicht geeignet sind, die Fähigkeit des Kindes zu selbstverantwortlicher Entscheidung zu entwickeln und zu stärken, welche vielmehr bloße Dressurakte (Eingewöhnung von Verhaltensmustern durch positive oder negative Sanktionen) zum Inhalte haben, verstoßen gegen das Prinzip der Anleitung zur Autonomie und sind verfassungswidrig.

Das wäre etwa der Fall, wenn

a) Verstöße gegen geltende Vorschriften der Anstaltsordnung unspezifisch (d.h. ohne Bezug auf den Umgang mit Geld) durch Taschengeldentzug bestraft werden;

b) Vor oder nach dem Essen stereotype Spruchformeln eingedrillt werden;

c) die Freizeitgestaltung durch Teilnahmepflichten für bestimmte Veranstaltungen reglementiert und sanktioniert wird;

d) etwa Abschreibeübungen als bloße Ordnungsstrafen und nicht primär um eines bestimmten Lehrerfolges willen auferlegt werden.

Das Recht auf Erziehung umfaßt den Anspruch auf eine den Begabungen und Neigungen des Jugendlichen entsprechende Berufsausbildung. Die hier zu treffenden Maßnahmen bedürfen ganz besonderer Sachkunde und Sorgfalt. Der Staat, der dem Jugendlichen durch die zwangsweise Heimunterbringung die persönliche Freiheit weitgehend entzieht und dadurch auch tief in seine Möglichkeiten zur beruflichen Entfaltung eingreift, muß die volle Verantwortung für die Wahrnehmung der beruflichen Entwicklungschancen des jungen Menschen übernehmen.

Für ein möglichst breit gefächertes Angebot an Ausbildungschancen ist Sorge zu tragen. Es genügt nicht, wenn dem Jugendlichen die Wahl zwischen einer Gärtner-, einer Tischler- und einer Schlosserlehre geboten wird. Neben einer Vielzahl handwerklicher Berufe muß für einen entsprechend begabten Jugendlichen etwa auch die Möglichkeit offen stehen, einen kaufmännischen Beruf zu erlernen. Die Berufsberatung muß eingehend, individuell und unter Anwendung moderner Testmethoden erfolgen. Unter allen Umständen muß versucht werden, den völligen inneren Konsens des Jugendlichen bei der Auswahl des Berufes herbeizuführen. Andernfalls sind schwere Erziehungsschäden zu befürchten. Ist der Jugendliche hinreichend einsichtsfähig, selbst eine verantwortliche Berufswahl zu treffen, so muß ihm die Ausübung dieses Grundrechtes (Art. 12 I) in voller Freiheit überlassen bleiben.

In diesem Zusammenhang ist auf die „Richtlinie für Heime im Lande Hessen“ beschlossen vom Landesjugendwohlfahrtsausschuß vom 6.5.1963, Abschnitt V Ziff. 2, hinzuweisen: Berufswahl und Berufsberatung sollen „die berufliche und soziale Umschichtung, die sich in der Gegenwart vollzieht, berücksichtigen. Tätigkeiten, die keine ausreichende Existenzgrundlage bieten oder ein geringes Ansehen in der heutigen Gesellschaft haben, sind abzulehnen.“

Eine Fürsorgeerziehung verfehlt ihren gesetzlichen Auftrag, wenn sie junge Menschen entläßt, die beruflich schlecht oder wirtschaftlich chancenlos ausgebildet sind und nicht zuletzt auch dadurch auf die Bahn des Kriminellen getrieben werden. Eine Fürsorgeerziehung, die sich im praktischen Ergebnis in der Mehrzahl der Fälle als „Vorschule“ für das Gefängnis erweist, d.h. deren Absolventen später überwiegend kriminell werden, ist sinnlos und ohne Daseinberechtigung.

….

Sofern keine spezifische Gegenindikation vorliegen (Verschwendungssucht, Neigung zum Schuldenmachen, etc.) ist dem heranwachsenden Jugendlichen nach und nach die volle Verfügung über seinen Arbeitslohn einzuräumen (abzüglich eines Beitrages zu den Aufenthaltskosten etc.). Es ist nicht zulässig und pädagogisch falsch, ihn mit einem minimalen Taschengeld (etwa 2, 50 bis 5,00 DM pro Woche) abzufinden.

Einschränkungen der persönlichen Freiheit sind nur in dem durch den Erziehungszweck unabdingbar erforderlichen Ausmaß zulässig. Nur bei konkreter Fluchtgefahr sind Beschränkungen der persönlichen Bewegungsfreiheit – z.B. nächtliches Verschließen der Heime – zulässig.

..

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel, der bei allen in die Freiheitssphäre des Jugendlichen eingreifenden Maßnahmen zu beachten ist, verbietet Regelungen, welche die Heimerziehung zu einer Art Strafvollzug werden lassen oder welche gar Zustände herbeiführen, die selbst für den Strafvollzug al verfassungswidrig anzusehen sind. Als unverhältnismäßiger Eingriff in die persönliche Freiheit – Art. 2, Abs. I und II GG – wäre, auch bei fluchtverdächtigen Zöglingen, die eine nächtliche Zimmereinschließung derart, dass auch ein Aufsuchen der außerhalb gelegene Toilette unmöglich wird, anzusehen.

Werden die Fürsorgezöglinge dadurch gezwungen, ihre Notdurft auf einer Kübeltoilette im gemeinschaftlichen Schlafzimmer zu verrichten, so liegt hierin überdies ein Verstoß gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde. Dies hat das OLG Hamm im Beschluß vom 23.6.1967 (= JZ 1969, 236 ff mit zust. Anm. v. Würtenberger) für einen ähnlichen Sachverhalt mit dankenswerter Klarheit herausgestellt.

Andere, gleichfalls die persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. I GG) beschränkende Maßnahmen können nicht nur im Hinblick auf den erzieherischen Anstaltszweck: Anleitung zur Autonomie – vgl. o. – verfehlt und daher unzulässig sein, sondern auch bereits als unverhältnismäßige Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht. Zu denken wäre etwa an folgende Regelungen:

1. Essenszwang, Zwang die Tellerportionen aufzuessen, bei Vermeidung irgendwelcher Sanktionen

2. Matratzenententzug: Verbot an den eingeschlossenen Jugendlichen, sich tagsüber auf sein Bett zu legen, verbunden mit der Sanktion des nächtlichen Matratzenentzuges.

3. Uniformierung durch Kleidervorschriften

4. durch Vorschriften der Haartracht

5. kleinliche Handhabung der Rauchvorschriften

6. Reglementierung der arbeitsfreien Zeit anstelle der Schaffung attraktiver Anregungen und Chancen zur Ausübung von Hobbies innerhalb des Heimes, aber auch zur Pflege des gesellschaftlichen Außenweltkontaktes. Der Jugendliche muß auch Gelegenheit finden können, Beziehungen zu Angehörigen des anderen Geschlechts anzuknüpfen.

7. Beeinträchtigung der körperlichen Integrität durch körperliche Züchtigungen. Es sollte selbstverständlich sein, dass weder Ohrfeigen noch gar Prügelstrafen als erlaubte Disziplinarmaßnahmen angesehen werden können.

Eine Zimmereinschließung („Karzer“) als disziplinarische Anordnung ist ohne ausdrückliche vorherige richterliche Anordnung aufgrund eines entsprechend rechtsförmlichen Verfahrens absolut unzulässig: Art. 104 Abs. II S. 1 GG. …Im übrigen könnte auch der Richter eine derartige Strafe nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes aussprechen (Art. 104 Abs. I S. 1 GG). Eine Berufung auf Anstaltsgewohnheitsrecht oder eine Herleitung aus dem Zweck des Sonderstatus kommt gegenüber der eindeutigen Verfassungsregelung nicht in Betracht.

Die Achtung vor der Menschenwürde des jungen Mitbürgers verbietet grundsätzlich jedes Eindringen der Staatsorgane in den Intimbereich des Zöglings. Hierunter fallen auch alle Versuche der „Bespitzelung“ durch optische „Spione“ in den Zimmertüren ebenso wie die Ausnutzung von Denunziationen seitens der Mitzöglinge o.ä. Hierunter fällt aber auch die heimliche oder offene ausgeübte Kontrolle über ein- oder ausgehende Post der Anstaltsbewohner.

Frankfurt, 8. Juli 1969

gez. Erhard Denninger

 

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6. Januar 2010 3 06 /01 /Januar /2010 21:26
Der Spiegel - 08.01.1973
Von da an war ich eine miese Type
...
"Säuglinge systematisch sozial geschädigt."

ln der Erkenntnis, "daß nach den vorliegenden Erfahrungen längere Heimaufenthalte bei vielen Jugendlichen zu Entwicklungsschäden führen", zielt Schmidts Reform darauf ab, Heimerziehung künftig "auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken". Zu ähnlichen Schlußfolgerungen kam Berlins Jugendsenator, der 1970 eingestand, daß die Heimerziehung "nach wie vor zu den Stiefkindern der Gesellschaft" gehört.

Das gilt für Fürsorge- wie für Säuglingsheime. Ein "Großteil der Säuglinge und Kleinkinder in der Massenpflege" wird heute -- so der Münchner Professor für Kinderheilkunde Theodor Hellbrügge und sein Kollege Johannes Pechstein -- "unter aller Augen systematisch und meist irreversibel intellektuell und sozial geschädigt".

Wie das vor sich geht, schilderte der Praktiker Andreas Mehringer: "Die verlassenen Säuglinge in den Reihenbetten, vergeblich auf den Menschen wartend, der ihnen das erste Lachen entlockt" -- "Das serienmäßige Füttern, Töpfen, Windeln" "Das zwischen die Knie gezwängte Kind, dem mit abgewandtem Gesicht im Routinetempo Brei in den Mund gestopft wird".

Warum das so ist, erklärt Dietlind Eckensberger, frühere Mitarbeiterin Professor Mitscherlichs am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, so: "Die nach dem Muster industrieller Produktionsprozesse vorgenommene Massenpflege von Kindern -- das reihenweise meist arbeitsteilig vorgenommene Füttern. Baden, Wickeln -- ist "ökonomisch", das heißt, sie "rentiert' sich: nicht zufällig werden gerade Säuglingsheime gewerblich betrieben."

Die Ergebnisse solcher Pflege-Rationalisierung sind verheerend. Bei Heimkindern wurden diagnostiziert: "Ihre Schwerfälligkeit, ihre Apathie, ihre Indifferenz sowie ihre Abwehr gegen Leistungsanforderungen." Mediziner sprechen von einem "Deprivations-Syndrom", ein Begriff, der "alle Störungen" bezeichnet, die beim Kleinkind auftreten, wenn ihm "nicht genügend Zuwendung zuteil wird".

Es war der Psychoanalytiker René A. Spitz, der diese Zusammenhänge erkannte und 1945 darüber berichtete: "Wenn man Kindern im ersten Lebensjahr länger als fünf Monate alle Objektsbezeichnungen vorenthält, zeigen sie die Symptome eines zunehmend schweren Verfalls."

Ein dutzendmal das Zuhause gewechselt.

Bestätigung und Vertiefung fanden diese Erkenntnisse 25 Jahre später durch deutsche Forscher. Die Professoren Hellbrügge und Pechstein untersuchten in sechs Bundesländern mit ihrem Team vom "Kinderzentrum" der Münchner Universität 1000 Säuglinge und Kleinkinder bis zum Alter von drei Jahren. Resultate: 71 Prozent aller Kinder, die sich mehr als sechs Monate im Heim aufhielten, hatten in ihrer Sprach- und Sozialentwicklung "einen Rückstand von praktisch der Hälfte ihres Lebensalters".

Nicht nur die mangelnde Zuwendung in den ersten Monaten hat so böse Folgen. Wenn die Deprivation im Alter von über zwölf Monaten auftritt, sind laut Professor Hellbrügge weniger die physischen und intellektuellen Fähigkeiten betroffen, sondern vor allem Störungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu beobachten -- jene Störungen, die den einzelnen im besseren Fall nur lebensuntüchtig machen, im schlechteren aber verwahrlosen lassen.

Was diese Erkenntnisse mit dem später auftretenden Problem der Jugendverwahrlosung und Jugendkriminalität zu tun haben, macht darüber hinaus eine statistische Schätzung des Forscherteams deutlich: Aus den Untersuchungen lasse "sich ungefähr errechnen, daß jährlich etwa 25 000 Kinder für kürzere oder längere Zeit in die Säuglingsheime eingeWiesen" würden.

Wenn aber schon in Säuglingsheimen (die anderen Heime nicht eingerechnet) jährlich 25 000 Kinder durch Massenpflege mehr oder weniger verkümmern, vervielfacht sich später die Zahl der gefährdeten Jugendlichen. Denn Jugendämter und Jugendgerichte haben es nicht mit einem, sondern mit sieben Jahrgängen zu tun -- mit jungen Leuten zwischen 14 und 21 Jahren.

Und was im Waisenhaus begann, setzt sich im Kinderheim fort: die Massenabfertigung.
...
Heimkind zu sein, das bedeutet: nie lernen zu können, "daß Gefühle eine Geschichte haben" -- so die Heimleiterin Anne Frommann. Heimkind zu sein, das heißt: nicht mehr allein sein zu können ("Ständig latschen sie um mich herum, noch nicht einmal auf dem Abort ist man für sich"), und doch stets allein zu sein. Denn individuelle Betreuung, ein intensives Gespräch kann ein Heimkind kaum erwarten, wenn -- Kehrseite der Arbeitszeitverkürzung -- eine zwölfköpfige Kindergruppe von fünf Erziehern im Schichtdienst "betreut" wird, wie derzeit in Berlins zentral verwalteten Heimen.

Heimkind zu sein heißt, eine hoffnungslose Perspektive zu haben. "Der einzelne", so Pädagogik-Prof essor Andreas Flitner (Tübingen), "hinterläßt keine Spur, er kann nur negativ auffallen, er wird individuell genommen erst, wenn er ausbricht, davonläuft oder gegen die Institution aufbegehrt." Artigsein wird belohnt, Auf begehren bestraft, subtil durch Liebesentzug, schmerzhaft durch Prügel.
...
Längst nicht ist das Verfassungsgebot, die Menschenwürde zu achten, in alle Heime gedrungen, die noch oft genug den "Charakter eines Verbannungsortes" (Professor Flitner) haben. In einem Gutachten bezeichnete der Frankfurter Rechtsprofessor Dr. Erhard Denninger überall praktizierte Maßnahmen "als unverhältnismäßige Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht" der Jugendlichen:

* "Uniformierung durch Kleidervorschriften oder durch Vorschriften über die Haartracht; kleinliche Handhabung der Rauchvorschriften.

* "Reglementierung der arbeitsfreien Zeit anstelle der Schaffung attraktiver Anregungen und Chancen zur Ausübung von Hobbys innerhalb des Heimes, aber auch zur Pflege des gesellschaftlichen Außenweltkontaktes.

* "Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität durch körperliche Züchtigungen. Es sollte selbstverständlich sein, daß weder Ohrfeigen noch gar Prügelstrafen als erlaubte Disziplinarmaßnahmen angesehen werden können."

http://wissen.spiegel.de/wissen/image/show.html?did=42713446&aref=image035/0541/PPM-SP197300200780090.pdf&thumb=false

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