Prof. Dr. Manfred Kappeler
Vortrag in der 1. Arbeitssitzung des Runden Tisches
zur Aufarbeitung der Heimerziehung der vierziger bis siebziger Jahre
am 2./3. April 2009
Thema:
Zur zeitgeschichtlichen Einordnung der Heimerziehung
Meine Damen und Herren, in meinem Vortrag beziehe ich mich
– auf veröffentlichte und nichtveröffentlichte Berichte von ehemaligen Heimkindern
– auf eine erste kritische Durchsicht von dreißig Jahrgängen der wichtigsten
Fachzeitschriften in kirchlicher und nichtkirchlicher Herausgeberschaft
(Sozialpädagogik / Evangelische Jugendhilfe / Jugendwohl / Pädagogischer
Rundbrief des Caritasverbandes Bayern / Unsere Jugend / Nachrichtendienst /
Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt / Praxis der Kinderpsychologie
und Kinderpsychiatrie / Soziale Arbeit), auf Rundbriefe, Stellungnahmen und
Resolutionen von Dachorganisationen (AFET / DV / DPW / IGFH), auf
einschlägige Monografien und auf Verlautbarungen der öffentlichen Träger der
Jugendhilfe (vor allem Länderministerien, Landschaftsverbände und
Landesjugendämter).
– und nicht zuletzt auf eine mittlerweile fünfzigjährige Erfahrung in Praxis und
Theorie der Sozialpädagogik, davon fünfundzwanzig Jahre in Heimerziehung,
Bewährungshilfe, Offene Jugendarbeit und Drogenarbeit und fünfundzwanzig
Jahre in Lehre und Forschung.
Von 1959 bis 1974 war ich insgesamt acht Jahre als Sozialpädagoge in Heimen tätig
und sechs Jahre in der Fort- und Weiterbildung und der Supervision von
HeimerzieherInnen. Unter anderem konzipierte und leitete ich die berufsbegleitende
Ausbildung von ErzieherInnen der zentral verwalteten Heime des
Landesjugendamtes West-Berlin und beteiligte mich an der Initiierung der
Heimkampagne der späten sechziger und der siebziger Jahre.
Die Heimerziehung der vierziger bis siebziger Jahre der alten Bundesrepublik und
ihre Wirkungen/Folgen für das Leben der Menschen, die Zeiten ihrer Kindheit und
Jugend in Säuglings-, Kinder- und Fürsorgeerziehungsheimen verbringen mussten,
kann ohne eine zeitgeschichtliche Einordnung/Kontextualisierug nicht zutreffend
dargestellt, analysiert und beurteilt werden. Von entscheidender Bedeutung ist daher
wie, das heißt auf welchen empirischen Grundlagen, mit welchen analytischen
Kriterien und welchen fachlichen Maßstäben diese „Einordnung“ erfolgt.
In meinem Referat werde ich Inhalte skizzieren und Wege aufzeigen, wie diese
Inhalte meines Erachtens am Runden Tisch in ihrer Bedeutung für die Fragen der
Genugtuung/Rehabilitierung und der Entschädigung ehemaliger Heimkinder
aufgeklärt werden können.
Zuerst bedarf einer zeithistorischen Einordnung der Heimerziehung eine
Verständigung über den historischen Zeitrahmen, der als ökonomischer, politischer
und sozialkultureller Kontext der Heimerziehung die Folie für deren „Einordnung“ sein
muss.
In der Einladung zur heutigen Sitzung wird dieser Zeitraum auf die fünfziger und
sechziger Jahre begrenzt. Ich schlage vor, den Zeitraum um die vierziger und
siebziger Jahre zu erweitern.
Begründung: Ich bin 1940 geboren und hätte als Kleinkind und Vorschulkind bereits
während der NS-Zeit in einem Heim leben können und danach, als Schulkind in einer
der vier Besatzungszonen bis zur Gründung der Bundesrepublik im Herbst 1949
usw., bis ich mit der Erreichung der Volljährigkeit 1961 hätte aus der öffentlichen
Erziehung entlassen werden müssen. Tatsächlich ist es Frauen und Männern aus
der Gruppe der ehemaligen Heimkinder so ergangen. Ich selbst habe in meinem
ersten sozialpädagogischen Praktikum in einem Heim 1960 solche Jugendlichen
kennen gelernt. Für sie wäre 1950 eine willkürliche Festlegung, die mit ihrer
Heimbiografie nichts zu tun hat.
Ebenso verhält es sich mit den siebziger Jahren. Die Heimkampagne der späten
sechziger und siebziger Jahre brauchte ein ganzes Jahrzehnt des Skandalisierungen
der Heimmisere – die in Fachkreisen immer bekannt war – bis Ende der siebziger
Jahre die Jugendhilfe auf breiter Ebene daran ging, die schon in den
Besatzungszonen notwendig gewesenen Reformen zu realisieren. „Der alltägliche
Skandal der Heimerziehung“ – so der Titel einer Großveranstaltung mit circa
achttausend TeilnehmerInnen auf dem Jugendhilfetag 1978 in Köln – begleitete die
siebziger Jahre. Die großen Heimskandale: Isenbergheim/Bremen,
Birkenhof/Hannover, Diakoniezentrum Heiligensee/Berlin, Mädchenaufnahmeheim
der Diakonie/Köln – um hier nur einige zu nennen – wurden 1977/78 aufgedeckt. Die
staatlichen Fürsorgeerziehungsheime Fuldertal für Mädchen (Hessen) und
Glückstadt für Jungen (Schleswig-Holstein) wurden 1973 aufgelöst. Die brutale
Erziehungspraxis in Freistatt/Bethel wurde Mitte der siebziger Jahre eingestellt und
das Katholische Vincenz-Heim in Dortmund (Fürsorgeerziehungsheim für Mädchen)
sorgte während der ganzen siebziger Jahre für Schlagzeilen. Auf dem 6. Deutschen
Jugendhilfetag 1978 in Köln mussten wir eine bittere Bilanz für das Jahrzehnt nach
Beginn der Heimkampagne ziehen:
„Die Hintergründe dieser Skandale zeigen, dass es in allen Fällen immer um zentrale
Grundrechtseingriffe und Menschenrechtsverletzungen gegenüber den betroffenen
Jugendlichen geht. Die Verantwortlichen für diese von Menschenverachtung und
Ignoranz gezeichneten Unterdrückungspraktiken finden wir sowohl in den
Spitzenverbänden der ‚freien’ und privaten Wohlfahrtspflege (vor allem
Caritasverband, Diakonisches Werk) als auch den aufsichtführenden
Landesjugendbehörden. Die konfliktlose Zusammenarbeit zwischen den
Landesjugendämtern und den großen Heimträgern ist ein System für das
gemeinsame Interesse von Staat und Kirche an der Aufrechterhaltung eines
Erziehungszustandes in Fürsorge-Erziehungsheimen, der die Kinder und
Jugendlichen zur Unterordnung unter Hausordnungen, Anweisungen, Befehle,
Verbote und Strafe zwingen will.“ (Damm/Fiege u.a. 1978. 153)
1977 veröffentlichte Hans Thiersch den Klassiker der Sozialarbeitsliteratur „Kritik und
Handeln – interaktionistische Aspekte der Sozialpädagogik“. Zur Situation der
Heimerziehung in den späten siebziger Jahren schreibt Thiersch:
„Kritik wird notwendig, wo die Diskrepanz von Möglichkeit und Realität in einer
konkreten historischen Situation unerträglich wird; dass die Institution Heimerziehung
gegenwärtig zunehmend heftiger, verzweifelter und aggressiver kritisiert und
attackiert wird, resultiert aus offenkundigen Widersprüchen zwischen
gesellschaftlichen Postulaten und Praxis und Theorie der Heimerziehung (…).
Erfahrungen und Empirie belegen übereinstimmend, wie oft Heimerziehung nur als
Abbruch von Lebensmöglichkeiten, als Einengung und Entindividualisierung realisiert
ist. Die Frage nach der Heimerziehung als Frage nach einer totalen Institution ist die
denkbar härteste Herausforderung an die Heimerziehung, die Frage nämlich nach
einer ihr eigenes Ziel unterlaufenden und desavouierenden Gegenstruktur (…).
Die Armut, die Dominanz der Verwaltung und Entindividualisierung in der Totalen
Institution sind für den Heranwachsenden nicht nur deshalb so fatal, weil sie ihn
direkt in der Entfaltung der Selbstkompetenz hindern, sondern auch indirekt, weil der
Heranwachsende in ihnen spürt, dass man eine solche Selbstkompetenz von ihm
nicht erwartet. Die kläglichen Verhältnisse etwa demonstrieren ihm, dass er nichts
wert ist, die Dominanz der Verwaltung macht evident, dass er nur als Objekt zählt,
die Totale Institution, dass man Möglichkeiten der Individualität und Kreativität in ihm
nicht voraussetzt. Indem er solche institutionalisierten Verhaltenserwartungen
übernehmen muss, verfestigt sich bei ihm das entmutigende Bewusstsein von seiner
Wertlosigkeit.
Nicht nur die unmittelbare Erfahrung der Heimerziehung wirkt stigmatisierend auf den
Heranwachsenden, sondern ebenso das öffentliche Renommee, die Vorstellung
also, die Außenstehende mit der Heimerziehung verbinden und unter denen
Heranwachsende ins Heim kommen. Bürger und Eltern drohen mit der
Heimerziehung (…).
Eine solche Heimerziehung pervertiert den pädagogischen Schonraum, um in ihm
jene gesellschaftlichen Bedingungen und Zwänge zu wiederholen, ja zu
intensivieren, vor denen sie, ihrer Intention gemäß, die Heranwachsenden zu
schützen hätte.“ (75ff.)
Thiersch beschreibt und kritisiert die Regelpraxis, wie sie 1977 in der Bundesrepublik
bestand. Man kann auch die seit 1970 entstandenen Alternativen beschreiben, die
als praktische Kritik an der Regelpraxis entwickelt wurden. Aber das waren eben
noch die Ausnahmen, von denen nur wenige Kinder und Jugendliche etwas hatten.
Die siebziger Jahre primär unter dem Fokus der Alternativen und Reformen zu
betrachten, würde den bitteren Erfahrungen der großen Mehrheit der Heimkinder
nicht gerecht. Diese Alternativen und neuen Formen der Heimerziehung wurden erst
in den achtziger Jahren allmählich zur Regelpraxis. Obwohl ich in Theorie und Praxis
an der Entwicklung solcher Alternativen beteiligt war, würde es mir nicht in den Sinn
kommen, die Heimerziehung der siebziger Jahre von dieser Seite her als gelungene
öffentliche Erziehung zu interpretieren.
Die vierziger bis siebziger Jahre bilden meines Erachtens den historischen
Untersuchungszeitraum, in den die Heimerziehung eingeordnet werden muss. Ich
werde mich in meinen Ausführungen auf diesen Zeitraum beziehen. In sich sind
diese dreißig Jahre natürlich stark gegliedert. Sie umfassen so unterschiedliche
Epochen wie Kriegsende und unmittelbare Nachkriegszeit, die für sehr viele
Menschen bis etwa 1955 die Lebensbedingungen und den Alltag bestimmten, dann
die Phase des sogenannten Wiederaufbaus und Wirtschaftswunders von 1955 bis
1965, die gleichzeitig die Zeit der sogenannten Halbstarken-Krawalle und der
jugendkulturellen Selbstbestimmungsversuche war, im Kontext beinahe erreichter
Vollbeschäftigung und bescheidenem Massenwohlstand, dann die zweite Hälfte der
sechziger und die siebziger Jahre mit dem einschneidenden Regierungswechsel, der
Achtundsechziger Bewegung mit ihren weite Bereiche der Gesellschaft
liberalisierenden Wirkungen, das Jahrzehnt der „großen Reformen“, aber schon
begleitet von der ersten Wirtschaftskrise mit aufkommender Arbeitslosigkeit und
Ausbildungsnotstand für Jugendliche. Erinnert sei daran, dass noch um 1970 über
siebzig Prozent eines Jahrgangs mit fünfzehn Jahren die Schule verlassen mussten
und einen Platz im Erwerbsleben suchten.
Diesen gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen entsprachen jeweils
unterschiedliche epochale Sozialerfahrungen. Mit diesen Veränderungen und ihren
Wirkungen auf Kinder und Jugendliche müssen die Lebensbedingungen und
Perspektiven der Heimkinder jeweils abgeglichen werden, wenn eine zeithistorische
Einordnung der Heimerziehung gelingen soll. Der Ausgangspunkt für diesen
Vergleich muss das durchschnittliche Reproduktionsniveau der bundesdeutschen
Gesellschaft sein, auf der Basis der vorgeschlagenen Periodisierung, in
Zehnjahresschritten: 1945 bis 1955 / 1955 bis 1965 / 1965 bis 1975. Dieser Vergleich
wird die schon von Siegfried Bernfeld in den zwanziger Jahren als „Tantalus-
Situation“ beschriebene permanente Bedürfnisrestriktion von Kindern in öffentlicher
Erziehung deutlich machen.
Verglichen werden müssen:
– die räumliche Situation und die Raumaneignungsmöglichkeiten in Heimen
– Essen und Esskultur
– Kleidung
– Körperpflege
– medizinische Versorgung
– jugendkulturelle Bedingungen (Ausgang, frei gewählte Beziehungen mit
Gleichaltrigen, Kino, Fernsehen, Jugendgruppen außerhalb des Heims, Tanz,
Reisen und Erholung, Musik etc.)
– Strafpraxis vom Entzug sogenannter Vergünstigungen über körperliche
Züchtigung bis hin zu Isolierung in Arrestzellen
– Arbeit zur Aufrechterhaltung der Binnenstruktur der Heime und produktive Arbeit
in heimeigenen oder Fremdbetrieben einschließlich der Taschengeld- und
Entlohnungsregelungen
– Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten
Umgang mit sogenannten Auffälligkeiten wie Bettnässen, Schlafstörungen,
„Essensverweigerung“, sogenannter Lügenhaftigkeit, Onanie, Weglaufen aus
dem Heim, sogenannte Arbeitsscheu etc.
– und schließlich ständige Kontakt- und Beziehungsabbrüche durch
Personalwechsel, Wechsel der Kinder und Jugendlichen in der
Erziehungsgruppe, Verlegungen in andere Heime.
Weitere Vergleichspunkte bezogen auf die Situation von Kindern und Jugendlichen in
durchschnittlichen Erziehungsverhältnissen und solchen in der Heimerziehung
werden sich aus den Berichten der Ehemaligen ergeben.
Zur zeithistorischen Einordnung der Heimerziehung gehört auch eine Gewichtung
der Rechtsstellung von Kindern und Jugendlichen, die in Heimen lebe mussten im
Vergleich mit solchen, die im Rahmen uneingeschränkter Elterlicher
Gewalt/Elterlicher Sorge in Familien oder Familienverbänden aufwachsen konnten.
„Heimkinder als Träger von Menschenrechten“ / „Die Grundrechte von
Minderjährigen in Fürsorgeerziehungsanstalten“ – das waren Themen, die je größer
der Abstand zum NS-System wurde, je heftiger der „alltägliche Skandal der
Heimerziehung“ empfunden wurde, an Bedeutung gewannen.
–
„Die Zeiten waren nun mal so…“
Ich beginne mit Zitaten aus LeserInnen-Briefen und Stellungnahmen in den
zurückliegenden Monaten.
Während der Anhörung von Sachverständigen durch den Petitionsausschuss des
Bundestags im Januar 2008 sagte ein Abgeordneter sinngemäß: Er könne nicht
verstehen, warum die ehemaligen Heimkinder heute, dreißig, vierzig oder mehr
Jahre nach ihrer Zeit im Heim, mit solcher Dramatik über ihre Erfahrungen reden. Ob
es denn überhaupt möglich sei, nach so langer Zeit sich so bestimmt an einzelne
Handlungen von Erzieherinnen und Erziehern und an Einzelheiten des Heimalltags
zu erinnern.
In der Frage des Abgeordneten im Petitionsausschuss und vielen ähnlichen Fragen
von Bürgerinnen und Bürgern werden mehr oder weniger offen die erinnerten
Erfahrungen von Ehemaligen der Heim- und Fürsorgeerziehung bezweifelt. Dieser
Zweifel resultiert aus dem Vergleich der eigenen Lebenserfahrungen, vor allem
natürlich bei AltersgenossInnen, beziehungsweise der Anlegung der Folie der für
sich selbst in Anspruch genommenen bürgerlichen Normalbiografie, an die
Lebenserfahrungen von in der Heimerziehung traumatisierten Menschen. Dieser
Zweifel kann sich bis zum Verdacht und zum Vorwurf des Sozialschmarotzertums
steigern.
Ein Beispiel dafür ist ein Kommentar des Redakteurs des Württembergischen
Evangelischen Gemeindeblatts in der Ausgabe 4/2009 und durch ihn provozierte und
mitgeteilte LeserInnen-Briefe. Der Kommentator will die Bewertung der Arbeit von
Kindern und Jugendlichen in der Heim- und Fürsorgeerziehung der
Nachkriegsjahrzehnte als Zwangsarbeit nicht gelten lassen. Er schreibt, es sei
„geradezu primitiv, vom hohen Ross der Gegenwart aus Geschehnisse beurteilen zu
wollen, die vierzig Jahre zurück liegen“ und erhebt den Vorwurf, es „gehe zu vielen in
der nun begonnenen Debatte nicht um Gerechtigkeit, sonder um Geld“. Ich zitiere
aus den Briefen von Lesern und Leserinnen, die auf den Kommentar antworten:
„Volle Zustimmung zu dem Kommentar! Es ist völlig abwegig, von heutigen
Erziehungsgrundsätzen aus die damalige Praxis zu verurteilen. Harte Methoden
(Prügelstrafe als Selbstverständlichkeit) waren doch bis in die 50er Jahre, zum Teil
noch bis in die 60er Jahre in allen Schulen gang und gäbe! Da müssen die
allermeisten 70- oder 80Jährigen Entschädigung verlangen, nicht nur die Zöglinge
(christlicher) Heime! Ist es denn so sehr von Übel, wenn Kinder zur Gartenarbeit
herangezogen werden? Welcher Bauernsohn, welche Bauerntochter hat nicht schon
in jungen Jahren auf dem Feld mitgeholfen? Es ist ganz abwegig, derlei als
‚Zwangsarbeit’ zu bezeichnen.“
„Demnächst werde ich wohl gegen das Kultusministerium klagen müssen wegen
‚Misshandlung’ und Schmerzensgeld fordern. In meinen Schulen in der Kriegs- und
Nachkriegszeit waren nämlich Ohrfeigen, ‚Tatzen’ und ‚Hosenspanner’ an der
Tagesordnung. Wegen geringer Anlässe wurden wir ‚übergelegt’. Es war bisweilen
schon schlimm. Dass ich aber deswegen schwer geschädigt sei und Anspruch auf
Wiedergutmachung habe, das wird mir erst heute – 65 Jahre danach – klar. Auch
meine eigene Mutter, die nach dem Krieg als Alleinerziehende uns vier Kinder
durchzubringen hatte, werde ich wohl posthum verklagen müssen: ‚Zwangsarbeit’
hatten wir Kinder zu leisten im Haushalt, im Garten und in einer Handweberei. (…)“
„(…) Jetzt beklagen sich die inzwischen 60-jährigen Erwachsenen darüber dass sie
schwer arbeiten mussten und behaupten, sie seien traumatisiert, sie klagen über zu
wenig Zuwendungen. Die Erzieher konnten ja damals nicht jedem Kind tägliche
Schmeicheleinheiten geben.
Der Höhepunkt ist ja wohl, dass jetzt um Entschädigungen und Vergebung gebeten
wird. Die Zöglinge sollten sich in erster Linie fragen, warum sie auf die Karlshöhe
kamen und was für eine bessere Alternative es gegeben hätte. Es wäre erfreulich,
wenn sich auch jemand zu Wort melden würde, der heute noch dankbar dafür ist,
dass er auf der Karlshöhe aufgenommen wurde und dort einen guten Start in sein
ferneres Leben erfahren hat.“
Die SchreiberInnen dieser Leserbriefe setzten ihre Kindheits- und
Jugenderfahrungen mit harten Erziehungsmethoden, der Mithilfe in Haushalt, Garten
und Familienbetrieb gleich mit den Lebensbedingungen von Kindern und
Jugendlichen, die in Heimen leben mussten. Die gehässigen und empörten
Zwischentöne, die zeigen, wie die Stigmatisierung von Heimkindern bis in die
unmittelbare Gegenwart weiterwirkt, will ich hier beiseite lassen. Es geht um den
Vergleich der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in proletarischen
und kleinbürgerlichen Familienverhältnissen einerseits, und in der Heim- und
Fürsorgeerziehung andererseits.
Um diesen Vergleich geht es auch dem Autor der „Sachstandserhebung zur Situation
von Heimkindern in katholischen Einrichtungen zwischen 1945 und 1975“, die im
Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erarbeitet wurde. Diese 117 Seiten starke
Stellungnahme wurde im Mai 2008 vom Sekretariat der Bischofskonferenz dem
Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags zugeleitet. Ich zitiere aus der
Sachstandserhebung:
„Die gesamte Haltung gegenüber Kindern war eine andere. Dies bedeutete, dass ein
Erzieher, der Kinder in Heimen schlug, meist auf Verständnis stoßen konnte, wenn er
nicht gewisse Grenzen überschritt, da den Jugendlichen auch zu Hause Prügel,
Arrest und vergleichbare Strafen drohten; im Einzelfall forderten Eltern die
Heimerzieher bei Besuchen ihrer Kinder sogar auf, diese auch zu schlagen, falls sie
nicht gehorsam ein sollten.“
Der Autor behauptet, es gäbe „keine Quelle, aus der sich mit Sicherheit entnehmen
lässt, ob in einem Heim geschlagen wurde oder nicht“. Und dann schreibt er auf
derselben Seite: „Zumindest in den fünfziger und sechziger Jahren erwarteten die
Kinder und Jugendlichen, dass sie nach einer Verfehlung auch bestraft wurden. Sie
akzeptierten dies, da mit der Strafe auch die Tat ‚verbüßt’ war und keine weiteren
Sanktionen folgten. Sie kannten dies meist auch aus ihrem Elternhaus“.
Wenn Erzieher und Erzieherinnen in den Heimen geschlagen hätten, schreibt der
Autor, konnten sie davon ausgehen, „dass sie den Kindern nicht schaden würden, da
Schläge nach den damaligen Vorstellungen auch außerhalb der Heime nicht verpönt
waren. Es bringt wenig aus der heutigen Erkenntnis heraus, Personen einer weit
zurückliegenden Zeit zu beschuldigen, nicht so gehandelt zu haben, wie dies heute
üblich sein sollte. Selbst Entschuldigungen scheinen unangebracht, denn warum soll
sich jemand für eine Handlung entschuldigen, die unter damaligen rechtstaatlichen
Verhältnissen nicht anfechtbar waren, nur weil dies heute anders gesehen wird.“
Der Autor bedauert zwar, dass es in den fünfziger bis neunziger Jahren keine andere
Haltung zu den Problemen gab, hält es aber für verfehlt, „aus heutigen
Überzeugungen heraus eine generelle Schuld derjenigen Personen anzunehmen,
die gezüchtigt haben, da es für diese, innerhalb gewisser Grenzen, die allmählich
seit den sechziger Jahren immer stärker eingeengt wurden – ein Recht zur
Züchtigung gegenüber den Kindern und Jugendlichen gab, die ihnen anvertraut
waren: Sei es, dass dieses bei den Eltern lag, oder sei es, dass dieses bei einer
angeordneten Erziehung ausgeübt wurde (Schule oder Heim)“.
Das Fazit dieser Forderung lautet:
„Allgemein gilt wohl, dass die Heimerziehung in den fünfziger und in den sechziger
Jahren auf Methoden und Vorstellungen der damaligen Zeit zurückgriff und –
vielleicht abgesehen von geschlossenen Heimen und den daraus resultierenden
Einschränkungen – nicht grundsätzlich autoritärer waren. Denn in Schulen,
Internaten, aber auch im Elternhaus galten Disziplin, Gehorsam und Unterordnung
als notwendige Mittel, um aus dem Kind und späteren Jugendlichen einen in der
Gesellschaft brauchbaren, das heißt in der Arbeitswelt einsetzbaren Erwachsenen zu
machen.“
Abschließend resümiert der Autor bezogen auf die gegen die Heimerziehung in
kirchlichen Heimen erhobenen Vorwürfe:
„Es ist daher nicht korrekt, wenn bei den Beschuldigungen gegen konfessionell
geführte Heime für die fünfziger bis siebziger Jahre von rechtlichen und
gesellschaftlichen Bedingungen ausgegangen wird, wie sie am Ende des
zwanzigsten beziehungsweise zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts in der
Bundesrepublik Deutschland herrschen.“
Im September 2006 verteilte das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz an
katholische Einrichtungen und Organisationen ein Papier mit dem Titel
„Wahrscheinliche Fragen an die Kirche mit Bezug zur Problematik der ehemaligen
Heimkinder und Antworten dazu (im Sinne von Sprachregelungen im kirchlichen
Bereich)“. Darin wird vorgeschlagen, auf den Vorwurf der Zwangsarbeit von
Jugendlichen in kirchlichen Erziehungsheimen folgendermaßen zu antworten: „In den
damaligen Heimen waren Kinder und Jugendliche nicht als Arbeitskräfte eingesetzt.
Es war jedoch üblich, dass die in den Heimen lebenden jungen Menschen in der
Garten- und Landwirtschaft mitgeholfen haben. Das entsprach in aller Regel dem
Maß, wie es zu dieser Zeit auch in den Familienhaushalten üblich war.
In den damaligen Erziehungsheimen, in denen Jugendliche untergebracht waren,
gab es eine Arbeitstherapie. Das Ziel war, Jugendlichen (ab vierzehn Jahre) zu
helfen, einen Arbeitsplatz zu bekommen beziehungsweise ihren Arbeitsplatz
behalten zu können. Damit diese Arbeitstherapie möglichst realitätsgerecht geschah,
wurden auch Aufträge der Industrie ausgeführt.
Im Übrigen zählte damals – auch in Familien – mehr noch als heute die
Eingliederung in einen Tagesablauf mit regelmäßigen Arbeitszeiten zu den
pädagogischen Mitteln im Rahmen der Erziehung.
Die Heime waren keine Wirtschaftsbetriebe, sie verfolgten vielmehr pädagogische
Zwecke, die man heute im Rahmen der Gemeinnützigkeit ansiedeln würde. Die von
den jungen Menschen erarbeiteten Erträge dienten ausschließlich der Finanzierung
ihres Heimaufenthalts.“
Der Autor der Sachstandserhebung (ein Historiker) und die Deutsche
Bischofskonferenz benutzen in quasi wissenschaftlicher Sprache die gleiche
Argumentation wie die Leserbrief-SchreiberInnen aus dem Württembergischen
Evangelischen Gemeindeblatt. Diese Argumentation, die ich als rechts- und
geschichtspositivistisch bezeichnen möchte, kann nur entwickelt und durchgehalten
werden, weil die Stimmen der Ehemaligen, ihre veröffentlichten und auf anderen
Wegen mitgeteilten Erfahrungsberichte, ihre Berichte im Rahmen der Anhörung im
Petitionsausschuss ausgeblendet werden. An keiner einzigen Stelle der
Sachstandserhebung werden die berichteten und dokumentierten Erfahrungen der
Ehemaligen ernst genommen. Sie gehören für diesen, die Heimerziehung der
vierziger bis siebziger Jahre erforschenden Historiker nicht zu den empirischen
Grundlagen seiner Forschung. Im Gegenteil: Dort, wo an den Aussagen Ehemaliger
nicht vorbeizukommen ist, werden diese durchgängig als unglaubwürdig infrage
gestellt und in bestimmten Wendungen sogar diskriminiert. Dagegen werden die
Stimmen solcher Ehemaligen, die über ihre Erfahrungen in der Heimerziehung
positiv berichten, als glaubwürdig hervorgehoben.
In einer Sprachanalyse dieser bislang von katholischer Seite umfangreichsten
Stellungnahme zur Heimerziehung der vierziger bis siebziger Jahre bin ich zu dem
Ergebnis gekommen, dass der Autor der Sachstandserhebung Punkt für Punkt das
„Sprachregelungspapier“ des Sekretariats der Bischofskonferenz vom September
2006 entlang der dort vorgegebenen Antworten abarbeitet. Ein klassischer Fall von
Auftragsforschung. Darüber hinaus wird bei der Lektüre dieses Textes deutlich, dass
der Autor sich weder mit der Theorie noch mit der Praxis der Heimerziehung des von
ihm untersuchten Zeitraums auseinander gesetzt hat. Die Argumentation in der
Sachstandserhebung ist von Anfang an darauf ausgerichtet, die kirchenoffizielle
Sprachregelung „vom bedauerlichen Einzelfall“, mit der dem Vorwurf umfangreicher
Menschenrechtsverletzungen und der Missachtung der Würde von Kindern und
Jugendlichen in der Heimerziehung begegnet werden soll, wissenschaftlich zu
legitimieren.
Mit der Argumentation „Die Zeiten waren nun einmal so…“ wird im ersten Schritt
versucht, das an Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung begangene
Unrecht zu relativieren und zu minimieren, um im zweiten Schritt die Verantwortung
für dieses Unrecht vom eigenen Handeln auf den „Zeitgeist“ übertragen zu können –
den schließlich niemand für irgendetwas wirklich verantwortlich machen kann. Dabei
ergibt sich allerdings ein nicht auflösbarer Widerspruch. In den Publikationen beider
Kirchen beziehungsweise ihrer Trägerverbände zur Heimerziehung wird zu jedem
Zeitpunkt betont, dass in kirchlichen Heimen aufgrund der an christlichen Werten
orientierten Erziehungspraxis, Kindern, die in ihrem Herkunftsmilieu vernachlässigt
und geschädigt worden sind, besonders wirksam und nachhaltig geholfen werden
kann und „verwahrlosten“ Jugendlichen Orientierung, Halt und Zukunftsperspektiven
gegeben werden könne. Mit dieser Begründung wurde das Subsidiaritätsprinzip
verteidigt, die absolute Vorrangstellung in der öffentlichen Erziehung begründet und
die staatliche Heimaufsicht über Jahrzehnte erfolgreich zurückgewiesen. Freilich
kann man an diversen, die besonderen Qualitäten kirchlicher Heimerziehung
anmahnenden Beiträgen in der konfessionellen Fachpresse auch erkennen, dass der
Widerspruch zwischen religiös-theologischem Anspruch und erzieherischer
Wirklichkeit durchaus bekannt und bewusst war. Mit dem Versuch, die
Erziehungspraxis in kirchlichen Heimen dem „Zeitgeist“ anzulasten, wird nun das
immer behauptete „Proprium“ oder „das Spezifische“ dieser Erziehung gerade
geleugnet. Auf die rhetorische Frage in dem Sprachregelungspapier der Deutschen
Bischofskonferenz „Wodurch unterschieden sich Heime in kirchlicher Trägerschaft
von anderen?“ wird empfohlen zu antworten:
„Die Frage ist schwer zu beantworten, weil zum Einen die damaligen Heime weit
überwiegend in kirchlicher Trägerschaft standen, zum Anderen oftmals auch die nicht
von kirchlichen Trägern vorgehaltenen Heime von Ordensleuten geleitet waren. Es
kommt hinzu, dass ethische Vorstellungen das handlungsleitende Bild vom
Menschen – wie dann eben auch die daraus resultierende pädagogische Praxis – in
den 1940ern bis Ende der 1960er Jahre in nahezu allen Bevölkerungskreisen, auch
konfessionsübergreifend, in etwa gleich waren.
Daraus kann man den Schluss ziehen, dass in kirchlichen Heimen nicht anders
erzogen und mit Kindern und Jugendlichen umgegangen wurde, als in der damaligen
Gesellschaft sonst auch. Die den Heimen heute oft zur Last gelegten strengen
Erziehungsmethoden waren allgemein üblich und nicht besonders kennzeichnend für
kirchliche Heime.“
Würde man dieser rechts- und geschichtspositivistischen Argumentation folgen, wäre
eine Auseinandersetzug mit den Wirkungen und Folgen der Heimerziehung, mit der
Vergangenheitsschuld der Jugendhilfe, weder nötig noch möglich. Die von mir
zitierten Texte sind allerdings nur exemplarische Beispiele. Viele Verantwortliche der
Kinder- und Jugendhilfe auch von öffentlichen Trägern benutzen in der Abwehr der
Kritik und der Forderungen ehemaliger Heimkinder gleiche oder ähnliche
Argumentationen. Auch darf bei der berechtigten Kritik an der Heimerziehung in
kirchlicher Trägerschaft nicht vergessen werden, dass die Verhältnisse in staatlichen
Heimen meist anders waren und der Staat die Gesamtverantwortung für die
Heimerziehung hatte.
Die Kritik an den Verhältnissen und Zuständen in der Heimerziehung war zu jedem
Zeitpunkt ihrer Geschichte bekannt
Wer den skizzierten Weg der Legitimation von Versagen und Vergangenheitsschuld
der Jugendhilfe der vierziger bis siebziger Jahre wählt, darf nicht zur Kenntnis
nehmen oder muss aktiv unterschlagen, dass es seit den Anfängen organisierter und
professioneller öffentlicher Erziehung von Kindern und Jugendlichen eine entwickelte
Kritik an menschenunwürdigen und unter sozialpädagogischen Gesichtspunkten
kontraproduktiven Verhältnissen, Sichtweisen und Methoden der Heimerziehung
gegeben hat. In dem langen Jahrzehnt der Weimarer Republik waren die
Heimerziehungs-Skandale ein Dauerthema. Ich erinnere an das von Piscator
inszenierte Theaterstück „Revolte im Erziehungshaus“, an Peter Martin Lampels
„Jungen in Not“, an Justus Erhardts „Straßen ohne Ende“, an Brandts „Gefesselte
Jugend“, an die Debatten im Reichstag. Diese Kritik führte Ende der zwanziger,
Anfang der dreißiger Jahre zu einer beeindruckenden sozialpädagogischen
Theoriediskussion und zu ersten Versuchen einer neuen Praxis. Zur historisch
belegten Genugtuung der dominanten Erziehungskräfte in Staat, Kirchen und
Verbänden wurde der Reformdiskurs und die ihn begleitende neue Praxis dann von
den Nationalsozialisten mit einem Schlag beendet. Das autoritäre und
menschenverachtende Anstaltssystem mit seinen die Menschen nach
Brauchbarkeits- und Nützlichkeitskriterien selektierenden Klassifikationen erfuhr noch
einmal, gegenüber der Zeit vor 1933, eine Verschärfung. Die Akteure dieser
Zwangserziehung unter nationalsozialistischen Vorzeichen blieben nach dem Ende
des NS-Systems ganz überwiegend in ihren Positionen in der Jugendhilfe, im
gesamten Fürsorgesystem, in der Justiz, im Gesundheitswesen und auch in den
einschlägigen Wissenschaften. Hinter den Anstaltsmauern arbeitete weitgehend
dasselbe Personal mit denselben Sichtweisen und erzieherischen Praktiken wie vor
dem 8. Mai 1945. Die Forschung zur Geschichte der Sozialen Arbeit in Deutschland
nach Nationalsozialismus und Krieg hat seit Mitte der achtziger Jahre die Gründe für
diese von heute aus gesehen bestürzende Kontinuität umfangreich und in vielen
Facetten untersucht. Eine ernstzunehmende zeithistorische Einordnung der
Heimerziehung kann nicht von einer „Stunde Null“ in der Jugendhilfe ausgehen. Die
jahrzehntelange Verweigerung notwendiger tiefgreifender Reformen im System der
Heimerziehung werden, bei aller Bedeutung weiterer zeithistorischer Bedingungen
und Tendenzen, ohne die Berücksichtigung dieses spezifisch deutschen Kontextes
nicht zu verstehen sein.
Die 1933 durch Vertreibung, Berufs- und Publikationsverbote und anderen Formen
existentieller Bedrohung mundtot gemachten Kritiker und Reformer, soweit sie
überlebt hatten, äußerten sich nach 1945 mit Kritik am System und mit weitgehenden
Reformvorschlägen. Ihnen ist es zu verdanken, dass es schon bald in der deutschen
Nachkriegsgeschichte eine entwickelte Kritik der Heimerziehung, als dem Kernstück
der Jugendhilfe, gab. Zu jedem einzelnen Kritikpunkt wurden Verbesserungs-
beziehungsweise Veränderungsvorschläge entwickelt, und es gab schon in den
fünfziger Jahren alternative Praxis und einige als Modelleinrichtungen zur Reform der
Heimerziehung konzipierte Heime. Die Landesjugendämter als „Fürsorgeerziehungs-
Behörde“ waren seit Gründung der Westdeutschen Bundesrepublik gesetzlich
verpflichtet, die Minderjährigen, für die Fürsorgeerziehung angeordnet war oder
Freiwillige Erziehungshilfe vereinbart wurde, während der ganzen Zeit ihres
Heimaufenthalts persönlich zu begleiten und sich über ihr Wohlergehen ständig zu
informieren. Die kommunalen Jugendämter, die Kinder auf der Grundlage der
Paragraphen 5 und 6 des Jugendwohlfahrtsgesetzes in Heimen „unterbrachten“,
waren verpflichtet, sich über die Wirkungen der Heimerziehung auf diese Kinder auf
dem Laufenden zu halten. Die Vormünder, die ihre Zustimmung zur „Unterbringung“
gaben, waren verpflichtet, ihre Mündel auch während ihres Heimaufenthalts zu
begleiten, sich um ihr Wohlergehen zu sorgen und sie vor Schädigungen zu
schützen. Da alle „unehelich geborenen“ Kinder bis in die siebziger Jahre hinein
automatisch einen Amtsvormund bekamen und diese Kinder eine sehr große Gruppe
in der Heim- und Fürsorgeerziehung bildeten, trug das „Vormundschaftswesen“
insgesamt eine große Verantwortung für sehr viele Kinder und Jugendliche. 1961 hat
die AGJJ mit ihrer Studie „Kinder ohne Familien – das Schicksal des unehelichen
Kindes in unserer Gesellschaft“ darauf aufmerksam gemacht. Die
Vormundschaftsrichter, die Fürsorgeerziehung anordneten, sollten die Jugendlichen
anhören und sich ein umfassendes Bild von ihrer Situation machen. Die
Jugendrichter, die im Wege eines Jugendstrafverfahrens Fürsorgeerziehung
verhängten, waren verpflichtet, zu prüfen, ob die Anstalten, in die die Jugendlichen
eingewiesen wurden, dem Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht gerecht werden
konnten. Die öffentlichen und freien Träger der Heime waren verpflichtet, für optimale
Rahmenbedingungen (Zustand und Einrichtung der Gebäude, leibliche Versorgung
der Kinder und Jugendlichen, einschließlich medizinischer Hilfen, Möglichkeiten zur
Schul- und Berufsausbildung) und für eine das Wohl der Kinder achtende und die
Belastungen aus ihrer Vergangenheit überwindende Erziehung durch ausreichendes
und qualifiziertes Personal Sorge zu tragen. Die Heimleitungen waren verpflichtet, für
die Umsetzung der entwickelten erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen
Standards durch ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu sorgen und darauf zu
achten, dass die Würde der Kinder und Jugendlichen durch „harte
Erziehungsmaßnahmen“ nicht verletzt wurde. Die Erzieherinnen und Erzieher waren
verpflichtet, in ihrem unmittelbaren Umgang mit den Kindern und Jugendlichen eine
unterstützende und behütende Pädagogik zu praktizieren, im Geiste des Artikel 1
des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar…“ und der Leitnorm
im RJWG „Jedes deutsche Kind hat ein Recht…“. Auf allen diesen Ebenen von
Verantwortlichkeit haben sich Verantwortliche unverantwortlich verhalten. Das
geltende Jugendrecht und die in der Kinder- und Jugendhilfe auch damals schon
entwickelten Standards wurden in der Praxis der Heimerziehung und der „Wege ins
Heim“ – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht verwirklicht.
Fazit: An den entscheidenden Stellen des Jugendhilfesystems, bei öffentlichen und
privaten Trägern, fehlte die Einsicht und der politische Wille, die Kritik anzunehmen,
sie ernst zu nehmen und die auf dem Tisch liegenden fachlich qualifizierten
Vorschläge zu realisieren.
(Vgl. dazu meine Stellungnahme als Sachverständiger im Petitionsausschuss vom
Januar 2009)
Zur zeitgeschichtlichen Einordnung der Heimerziehung gehört eine Analyse und
Bewertung dieses nicht zu übersehenden großen Widerspruchs zwischen fachlich
auf hohem Niveau geführten Reformdebatten und den übermächtigen
Beharrungstendenzen in der Administration, der materiellen Ausstattung der
Heimerziehung bis hin zur alltägliche Versorgung der Kinder und Jugendlichen und
der auf Zwang setzenden Erziehung, die auf absoluten Gehorsam und Unterordnung
setzte und mit einer bis in die letzten intimsten Bereiche eindringenden
Fremdbestimmung, Demütigung und Erniedrigung bewirkte.
An dieser Starrheit des Systems arbeiteten sich über dreißig Jahre engagierte
PädagogInnen, PsychologInnen, TherapeutInnen, TheologInnen aus allen Bereichen
und Organisationen der Jugendhilfe ab. Wenn man ihre Beiträge, vor allem in den
Periodika, aber auch in einer beachtlichen Reihe von Monographien chronologisch
liest, fällt erstens auf, dass ihre Analysen und Veränderungsvorschläge in diesem
über drei Jahrzehnte reichenden Zeitraum immer um die selben Punkte kreisen und
im Laufe der Zeit, je länger die Reformverweigerung anhält, immer dringender von
den „längst überfälligen“, „seit langem geforderten“, „endlich zu realisierenden“
Reformen geredet wird.
Man muss diesen Diskurs als fachlich entfaltete Kritik an einer schon seit Gründung
der Republik einer demokratischen Gesellschaft, die in ihrer Verfassung auf die
Menschenwürde setzt und sich als Alternative zu dem gerade überstandenen
Schreckenssystem verstehen wollte, unwürdigen und von Anfang an nicht zu
verantwortende Praxis lesen.
In dem jetzt laufenden Diskurs über die Heimerziehung der vierziger bis siebziger
Jahre fällt mir auf, dass die in der Fachliteratur publizierten Reformvorschläge oft mit
ihrer Realisierung in der Praxis gleichgesetzt werden – so, als hätten Administration,
Heimorganisation und Erziehungspraxis, nicht zu vergessen die am Anfang jeder
„Heimkarriere“ stehenden „Wege ins Heim“, nur auf diese Vorschläge gewartet, um
sie umsetzen zu können. Das Gegenteil war der Fall. Eine wesentliche
Voraussetzung wären haushalts- und jugendpolitische Entscheidungen von Bund,
Ländern und Kommunen gewesen, die für systemverändernde Reformen
notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen und mit jugend- und
fachpolitischem Druck die Reformen einzuleiten und zu verstetigen. Das geschah
nicht. Eine andere wesentliche Voraussetzung wären weit- und tiefreichende
Bewusstseinsänderungen und entsprechende Veränderungen von
Handlungskompetenzen beim Personal der Heime gewesen. Dazu kam es nicht, weil
mächtige ideologische Barrieren dem entgegen standen, nicht in die
sozialpädagogische Ausbildung investiert wurde und in der Folge die
gesellschaftliche Stellung des Berufsstands „Heimerzieher“ so schlecht blieb wie eh
und je. In der Fachliteratur jener Jahrzehnte wiederholt sich immer wieder die Klage
über den großen Bruch von Theorie und Praxis und die am erzieherischen Personal
(einschließlich der Heimleitungen) scheiternde Vermittlung von Theorie und Praxis.
Zur Personalfrage, die jahrzehntelang im Mittelpunkt der Klagen über die
„Heimmisere“ stand – und bis heute nicht befriedigend gelöst ist – gehörte nicht nur
die Qualifikation und die Arbeitsbedingungen der sozialpädagogischen
ErzieherInnen, sondern auch die der ArbeitserzieherInnen und der Wirtschafts- und
Verwaltungsangestellten in den Heimen. Auch die Qualifikation der für die „Wege ins
Heim“ verantwortlichen Fachleute in den Jugend- und Landesjugendämtern, im
gesamten Vormundschaftswesen einschließlich der Gerichte und in der
Jugendstrafrechtspflege war auf einem von heute aus gesehen bestürzend
niedrigem Niveau, was Bewusstsein und nach fachlichen Standards gemessene
Professionalität anbelangt.
Nach der Umwandlung der Fachschulen für Wohlfahrtspflege in Höhere Fachschulen
für Sozialarbeit 1960/61 waren die SozialarbeiterInnen die in Deutschland
bestausgebildeten Fachkräfte in allen Bereichen der Wohlfahrtspflege. Unter den
AbsolventInnen dieser Ausbildungsstätte war eine ausgeprägte Ablehnung
gegenüber einer Arbeit in der Heimerziehung verbreitet. (Vgl. dazu Kappeler/Keune
1964)
1972 veröffentlichte der Beltz-Verlag eine empirische Untersuchung über „Das
Berufsbild des Heimerziehers“ in Heimen für „erziehungsschwierige Jugendliche“. Ich
zitiere aus dieser Studie:
„Auf die Unhaltbarkeit des derzeitigen Ausbildungsniveaus der Erzieher – gemessen
an den Anforderungen der Praxis – ist von verschiedener Seite hingewiesen worden.
Hans Pfaffenberger stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ‚ob nachweisbare
Unterschiede in Größe, schwere oder Umfang der schulpädagogischen und der
sozialpädagogischen Berufsaufgabe die bestehenden Unterschiede der Ausbildung
rechtfertigen können oder ob nicht vielmehr der sozialpädagogisch-soziale Sektor als
,unterentwickelter Beruf einen ähnlichen Entwicklungsweg wie der Lehrer noch vor
sich hat und alles daran setzen sollte, ihn möglichst schnell zu beschreiten, um der
Vergleichbarkeit der Berufsaufgabe entsprechend eine vergleichbare Ausbildung
jenseits des berufsbildenden Fachschulwesens zu erreichen.’
Curt Bondy zieht den Vergleich mit dem Lehrer, der eine dreijährige Ausbildung hat,
und dem Arzt. der noch viel länger geschult werden muss, und fährt fort: ‚Es ist
wirklich nicht zu verstehen, dass (…) der Heimerzieher, der mir Kindern und
Jugendlichen zu tun hat, die meistens sowohl körperlich als auch seelisch nicht in
Ordnung sind, keine oder nur eine sehr geringe Ausbildung erhält’. Ebenso die
internationale Gesellschaft für Heimerziehung; sie forderte auf ihrer Tagung über die
Aus- und Fortbildung für Erzieher im Heim im Februar 1970: ‚Die Tätigkeit des
Erziehers im Heim ist an der pädagogischen Aufgabe gemessen der des Lehrers
gleichzusetzen. Dem ist sowohl hinsichtlich des Status wie der Besoldung Rechnung
zu tragen’. Erklärungen dieser Art, die die Entsprechung der Tätigkeit des
Heimerziehers und des Lehrers artikulieren, ließen sich noch weiter fortsetzen. –
Interessanter scheint jedoch die Frage, wieso Ausbildungsstand und Besoldung in
den Heimen noch immer katastrophal ungenügend sind. Bei dieser Fragestellung
wird man das ganze Spektrum pädagogischer Arbeit mit Jugendlichen im Blick
haben müssen. Es fällt auf, dass die Ausbildung der Erziehenden umso besser ist, je
günstiger die Ausgangssituation der Jugendlichen ist. Das Kontinuum reicht vom
Hochschullehrer über den Gymnasial- und Hauptschullehrer bis zum Heimerzieher
und zum Vollzugsbeamten im Jugendstrafvollzug, dessen Qualifikation meist gleich
Null ist, der seine überaus anspruchsvolle erzieherische – eigentlich therapeutische –
Arbeit ausführt ‚ohne oftmals auch nur eine Ahnung von den Voraussetzungen
jugendpädagogischer Arbeit zu haben’.“ (31f.)
Zur zeithistorischen Einordnung der Heimerziehung schlage ich zwei Wege der
Annäherung vor:
1. Die Reformdebatte nicht als Reformvollzug, sondern als Kritik am Bestehenden zu
lesen und
2. diese Kritik in Verbindung zu setzen mit den Berichten ehemaliger Heimkinder, die
aus allen Bereichen der Heim- und Fürsorgeerziehung inzwischen zu Hunderten
mündlich und schriftlich vorliegen und im Verlauf der Arbeit dieses Gremiums weiter
anwachsen werden. Diesen Berichten gegenüber haben die Erinnerungen
ehemaliger HeimleiterInnen, ErzieherInnen und JungendamtsmitarbeiterInnen
weniger aufklärerisches Gewicht. Diese brisante These will ich etwas genauer
begründen.
Der Psychoanalytiker und Traumatologe Prof. Gerion Heuft, Leiter der Klinik für
Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster, berichtete im
Petitionsausschuss über Langzeitfolgen traumatischer Erfahrungen. Im Unterschied
zu anderen konflikthaften Erfahrungen würden solche realitätsnäher, das heißt ohne
sekundäre Bearbeitung, im Gedächtnis aufbewahrt und können offensichtlich auch
nach Jahrzehnten plötzlich wieder „vor Augen stehen“. Er belegte diese Mitteilung
mit Beispielen aus seiner Praxis.
Die Traumaforschung hat seit den achtziger Jahren beeindruckende Erkenntnisse
über auslösende Situationen für dieses plötzliche, oft schockartige Reaktionen
bewirkende, „Auftauchen“ traumatisierender Erfahrungen aus lange zurückliegenden
Lebensabschnitten erbracht. Traumatisierendes Erleben wird, um weiter leben, um
überleben zu können, gleichsam psychisch eingekapselt, abgedichtet und,
psychoanalytisch gesprochen, im Vorbewussten aufbewahrt. Es wird nicht, wie
neurotische Konflikte, verdrängt und damit ins Unbewusste geschoben, wo sie
bekanntlich virulent bleiben, sondern eher wie ein gründlich verlegtes Fotoalbum,
scheinbar „zufällig“ wiederentdeckt. Ein ganzes Arsenal von Erinnerungen wird damit
geöffnet. Allerdings erfolgt dieses plötzliche Auftauchen der Bilder nicht so zufällig,
wie es den von ihren Erinnerungen buchstäblich „Heimgesuchten“ selbst und
Außenstehenden erscheinen mag. Situationen, Begegnungen, Bilder, Gebäude, die
jetzt die oft dramatischen Erinnerungen bewirken, haben diese Wirkung über
Jahrzehnte nicht gehabt. Sie werden erst in Schwellensituationen des Lebens,
mehrheitlich in der zweiten Lebenshälfte an der Schwelle des Alters oder im Alter zu
auslösenden Faktoren. Wir Älteren wissen aus eigener Erfahrung, dass im Rückblick
auf ein langes Leben Fragen nach dem Sinn des Lebens zunehmen und
Bilanzierungen versucht werden. In unserem Langzeitgedächtnis entdecken wir
dann, wenn wir es zulassen, längst vergessen geglaubte Bilder, Erlebnisse,
Ereignisse, sinnliche Erfahrungen mit einer verblüffenden Schärfe und Genauigkeit.
Aber für die meisten älter werdenden Menschen handelt es sich dabei nicht um
Bilder aus dem überlebensnotwenigen, bislang hermetisch verschlossenen
psychischen Bereich für traumatisierende Erfahrungen und den ihnen
entsprechenden Gefühlen von Ausgeliefertheit, Hilflosigkeit, Verlassenheit,
Entblößung, Beschämung und Scham – sondern um in der Regel zwar ambivalente,
aber überwiegend positiv besetzte Erinnerungen, die, nach allen retrospektiven
Begradigungen – nach dem frommen Motto „Vom Ziel her gesehen sind Gottes
Wege immer gerade“ – unterm Strich eine positive Lebensbilanz zulassen.
Die Vorbereitungsgruppe des „Tags der Erinnerung“ in der Diakonischen Anstalt
„Karlshöhe“ (Ludwigsburg) hat im Februar 2009 einen Fragebogen entwickelt, in dem
zu wichtigen Fragen des Heimalltags ehemaliger „Zöglinge“ (Jungen und Mädchen)
und ehemaliger ErzieherInnen gleichlautende Fragen gestellt wurden.
An den Antworten der ehemaligen Heimkinder und der ehemaligen ErzieherInnen
der Karlshöhe in den ausgewerteten Fragebögen hat mich dieser Unterschied am
stärksten berührt. Die Bilanz der ErzieherInnen bezogen auf die Bedeutung der
Karlshöher Zeit für ihr Leben, ist „im Ganzen“ deutlich positiv. Die Bilanz der
Heimkinder und Jugendlichen ist dagegen ebenso „im Ganzen“ negativ. Das schließt
die auf beiden Seiten geäußerten Ambivalenzen mit ein. Die Bilanz der ehemaligen
Heimkinder und Jugendlichen bleibt auch nicht, wie bei den Erzieherinnen und
Erziehern im Allgemeinen, sondern geht mit einer teilweise beeindruckenden
Klarsicht ins Einzelne und Konkrete.
Der Unterschied in den Lebensbilanzen der ehemaligen Heimkinder zeigt, bei allen
subjektiven und individuellen Akzentuierungen, nicht zufällig so große
Übereinstimmungen bis in die Details des täglichen Lebens. Diese
Übereinstimmungen haben objektive Gründe und lassen Rückschlüsse auf
Strukturen zu. In den Bilanzen der ErzieherInnen dominieren, aus vielerlei Gründen,
andere Erinnerungen mit anderen Bearbeitungsformen, die die Verhältnisse der
Heimerziehung, unter denen sie arbeiten mussten und ihre in diesen Verhältnissen
praktizierte Erziehungsarbeit in der Regel als „bestandene Bewährungsprobe“
interpretieren, in der sie sich, trotz großer Belastungen durch die Arbeitsbedingungen
und die Kinder „behauptet“ haben.
Aber auch ErzieherInnen haben in der Heimerziehung der vierziger bis siebziger
Jahre traumatisierende Erfahrungen machen müssen. Für sie ist es sehr schwer,
heute offen und selbstkritisch über ihre Sichtweisen und Handlungen im Berufsalltag
jener Jahre zu reden. Wie vielen ehemaligen Heimkindern schließt auch ihnen die
Scham den Mund und möglicherweise sogar die Erinnerung. Aber die Scham der
Erziehenden ist eine andere als die der „Zöglinge“. Während die der „Zöglinge“ aus
verinnerlichten Schuldzuschreibungen und gesellschaftlichen Unwert-Urteilen
resultiert, hat die Scham der Erziehenden ihre Wurzeln im „pädagogischen
Gewissen“ und im Erschrecken vor dem Leiden, das sie den ihnen zur
Unterstützung, zu Hilfe und Geborgenheit anvertrauten Kindern und Jugendlichen
angetan haben. Dieses Versagen sich selbst, den ehemaligen Heimkindern und
möglicherweise in der gegenwärtigen Auseinandersetzung einer breiteren
Öffentlichkeit einzugestehen, erfordert große Selbst-Aufrichtigkeit und sehr großen
Mut. Ein solcher Schritt ist in jedem Fall ein Wagnis und wird nicht ohne seelische
Erschütterungen möglich sein. Man kann dieses Wagnis durchaus mit dem der
ehemaligen Heimkinder – wenn sie über ihre Erfahrungen zu reden beginnen –
vergleichen, wenn auch die Hintergründe und die Folgen sehr verschieden sind.
In den Kinderheimen und Fürsorgeerziehungsheimen der vierziger bis siebziger
Jahre wurden vor allem solche Erzieherinnen und Erzieher traumatisierenden
Erfahrungen ausgesetzt, die mit pädagogischem Eros oder gar mit dem Vorsatz,
diese Verhältnisse zu ändern, in diesen Totalen Institutionen ihren berufliche Weg
begannen. Am 22.1.2009 widmete der Deutschlandfunk die Sendung „Hintergrund
Politik“ (18.40 Uhr bis 19 Uhr) dem Schicksal der ehemaligen Heimkinder. In der
Sendung wurde auch auf die Situation der ErzieherInnen eingegangen:
„Dennoch ergriffen junge Erzieherinnen und Erzieher manchmal auch für jene Partei,
die ihnen anvertraut waren. Eine Chance hatten sie jedoch nicht. Das System
Heimerziehung funktionierte nur, indem auch Mitarbeiter, die andere Vorstellungen
von ‚Fürsorge’ hatten, gebrochen wurden. Dietmar Krone erzählt, wie junge,
freundliche Erzieher sehr schnell, von heute auf morgen, verschwanden. Und Hans
Bauer (der ehemalige Leiter des Evangelischen Erziehungsverbandes wurde von der
Niedersächsischen Landesbischofin Käßmann mit einer Untersuchung über die
Fürsorgeerziehung und Heimerziehung in kirchlichen Einrichtungen beauftragt, M.K)
hat in seinen Ermittlungen auch mit ehemaligen Mitarbeitern in Heimen gesprochen,
unter anderem mit einer heute Siebzigjährigen, die Anfang der sechziger Jahre in
einem Heim für Mädchen tätig war. Sie erzählt, dass sie morgens ‚Unruhe in der
Gruppe hatte und dann kam der Pastor, der der Leiter dieser Einrichtung war, und
hat das moniert und hat dann ihre Hand genommen und gesagt: Und diese Hand
kann hier keine Ruhe schaffen? Dann hat er dem Mädchen, das da ein bisschen laut
war, einen Pantoffel ausgezogen und es kräftig zusammengeschlagen, dass das
Mädchen wimmernd auf dem Boden lag, hat einem anderen Kind befohlen, einen
Eimer kaltes Wasser zu holen, hat das Wasser über das Kind gekippt und hat die
junge Erzieherin angeguckt und gesagt: Und das konnten Sie nicht’!?“
Ehemalige Erzieherinnen und Erzieher haben mir berichtet, dass sie gegen ihre
pädagogische Überzeugung und ihre ethischen Norme bereits nach wenigen
Monaten ihrer Arbeit im Heim angefangen haben, Kinder zu schlagen. Ich zitiere aus
dem Bericht einer Ordensschwester:
„Ich habe als junge Nonne Heime gesehen, in denen kleine Kinder untergebracht
waren, ausgestoßen und allein gelassen. Ich war damals erschüttert, und ich schwor
bei Gott, dass ich diesen Kindern helfen wollte. Sie sollten sich im Heim wohl fühlen,
das Heim sollte für sie ein Zuhause sein. Ich wollte ihnen helfen, im Namen Gottes,
im Namen der christlichen Nächstenliebe. Bei meinen Besuchen in katholischen
Heimen habe ich Nonnen und weltliche Erzieher erlebt (…). Ich sprach damals mit
ihnen, bevor ich selbst im Heim arbeitete. Sie redeten alle von Nächstenliebe, aber
ich hatte den Eindruck, dass sie davon nur redeten und gerade das Gegenteil von
dem praktizierten: Sie schlugen aus nichtigen Anlässen auf kleine Kinder ein oder
verhängten Strafen. Sie waren einfach sehr autoritär, und was mir besonders auffiel:
Sie waren alle fast nicht in der Lage, Kinder wirklich zu lieben!
Als ich dann selbst im Heim arbeitete, wollte ich nicht dieselben Fehler machen. (…)
Doch schon bald hatte ich meinen Vorsatz aufgegeben. Ich verhielt mich den Kindern
gegenüber ebenso wie die anderen Nonnen. Auch ich fing an, Kinder zu schlagen,
zu bestrafen, sie mit Sanktionen zu belegen. Und ich wusste – wie alle Nonnen und
Erzieher auch – dass die Kinder sich nicht wehren konnten. Sie waren uns, unseren
Launen, unserer Macht hilflos ausgeliefert! Wir haben alle bei den Kindern eine
große Angst verbreitet. Die Angst beherrschte ihre Seele und ihren kleinen Körper
und ihr junges Leben. Ich hatte geglaubt, diese Mittel einsetzen zu dürfen, weil ich
mit der ganzen Situation nicht mehr fertig wurde.
Wir konnten nicht anders; wir hatten einfach keine anderen Möglichkeiten, ihnen zu
helfen, wir hatten ja auch keine pädagogische Ausbildung. Wir dachten: Wenn wir die
Kinder einer strengen religiösen Erziehung unterwerfen, so wäre das tatsächlich die
beste Hilfe, die man ihnen zuteil werden lassen kann. Doch ich muss sagen: Ich war
wie alle anderen Nonnen und Erzieher einem großen Irrglauben, ja einem Wahnsinn
verfallen. Wir alle glaubten, dass das die beste Erziehung ist. Wir dachten uns nichts
dabei, die Kinder streng anzufassen, auch mal zuzuschlagen, sie zu irgendetwas zu
zwingen. Wir haben den Kindern immer wieder gesagt, dass wir sie im Namen von
Jesus Christus erziehen und ihnen helfen wollen. Doch in Wirklichkeit haben wir –
auch wenn diese Erkenntnis schmerzlich ist! – gegen diese christlichen Grundsätze
verstoßen. Wir sind nicht auf die Kinder zugegangen wie Menschen, sondern wir
haben sie innerlich irgendwie abgelehnt (…).
Das Heim, in dem ich arbeitete, war ein katholisches Heim. Gott war das Fundament
der Erziehung! (…) Durch die Drohung mit Gott hatten wir die Kinder unter Kontrolle,
auch ihre Gedanken und Gefühle. Ist das nicht das Ziel jeder konfessionellen
Erziehung, jedes konfessionellen Heimes? (…)
Erst vor kurzem hatte ich wieder einen dieser Träume: Ich sah wieder, wie ich einen
etwa sieben Jahre alten Jungen bei der Selbstbefriedigung erwischte. Ich war außer
mir und stellte ihn zur Rede. Doch das Kind begriff nichts. Meine Wut wurde immer
größer, und ich zog ihn an den Haaren in den Duschraum. Dort habe ich kaltes
Wasser in eine Wanne einlaufen lassen und den Jungen mit Gewalt dort hinein
gezerrt und ihn viele Male untergetaucht. (…) Es sind schreckliche Szenen, ich weiß!
Doch was hilft das denn heute noch den Betroffenen – nichts! (…)
Wir haben viele Fehler gemacht. Es war für die Kinder teilweise eine furchtbare,
grauenhafte Zeit; es war ein großes Vergehen ihnen und Gott gegenüber.
Ich bin nicht sicher, ob ich wirklich weiß, was es für ein Kind bedeutet, überhaupt in
einem Heim leben zu müssen und dann noch unter solchen schlimmen
Bedingungen. Ich kann es, wenn überhaupt, nur erahnen. (aus: Homes 1984).
Wie dieser Nonne geht es anderen Erzieherinnen und Erziehern, die mir berichtet
haben, dass sie noch heute, nach Jahrzehnten, in Albträumen von den Bildern ihrer
Gewalttätigke
it gegenüber Kindern und Jugendlichen gepeinigt werden. In der
Anhörung des Petitionsausschusses berichtete ein Petent über ein Gespräch mit
einem seiner ehemaligen Erzieher. Dieser hatte ihm gesagt:
„Die Gesamtheit musste ja funktionieren, sonst waren da sehr schnell chaotische
Zustände, die man zu verhindern hatte. Wenn man als Erzieher einen Ruf hatte, bei
dem geht es drunter und drüber, das war ein schlechtes Image für einen selber, von
daher stand man schon unter dem Zwang, in seiner Gruppe Ordnung zu haben, und
das ließ sich bei der Masse von Kindern oft nur mit Gewalt durchsetzen. (…) Ich
sage heute, ich habe mich schuldig gemacht, das tut mir heute noch weh, die Jahre,
die man da Menschen misshandelt hat, aber als eigene Entlastung kann man sagen:
Es war damals in der Zeit noch so, und die Zustände waren einfach heillos. Was da
für Deformierungen von jungen Menschen passiert ist, das kann man nicht wieder
gutmachen, das ist schuldhaft, nur dass man es nicht als Schuld einsieht von den
Mitarbeitern, die dieses System verkörpert haben, das wird heute noch nicht als
Schuld gesehen, ich persönlich muss sagen: Ich sage mir manchmal, was sind wir
doch für erbärmliche Leute gewesen, dass wir so reagieren mussten. Man hätte ja
auch auf die Barrikaden gehen können.“
Der Beitrag ehemaliger Erzieherinnen und Erzieher wird für die zeitgeschichtliche
Einordnung der Heimerziehung und für die aufklärende Arbeit des Runden Tisches
unverzichtbar sein.
Resümee
Die Behauptungen, „Die Zeiten waren nun einmal so…“ und „Die Heimerziehung war
auch nicht anders als die in der Gesellschaft üblichen Verhältnisse“ und „Man kann
nicht mit Maßstäben von heute die Heimerziehungspraxis der vierziger bis siebziger
Jahre beurteilen“, werden durch eine zeithistorische Einordnung der Heimerziehung
widerlegt. Diese Behauptungen sind aber auch bezogen auf das gesetzlich
festgelegte Ziel der Heimerziehung und ihr formuliertes Selbstverständnis nicht
haltbar. Die Heimerziehung hatte den eindeutig definierten Auftrag, die Kinder und
Jugendlichen, die zum ganz großen Teil aus „unterpriviligierten Lebensverhältnissen“
kamen, nicht noch unter diese Verhältnisse zu drücken, sondern sie darüber hinaus
zu heben und ihnen eine Perspektive auf ein gelingendes Leben auf der Ebene des
durchschnittlichen Reproduktionsniveaus der bundesrepublikanischen Gesellschaft
zu eröffnen
Literatur
Damm / Fiege / Hübner u.a. (1978). Jugendpolitik in der Krise – Repression und
Widerstand in Jugendfürsorge – Jugendverbänden – Jugendzentren –
Heimerziehung. Materialien zum Jugendhilfetag 1978. Frankfurt am Main
Homes, Markus (1984). Heimerziehung – Lebenshilfe oder Beugehaft? Frankfurt am
Main
Kappeler, Manfred / Keune, Wilhelm (1964). Ist eine Tätigkeit im Heim für den
Sozialarbeiter noch interessant? In: Unsere Jugend 12/1964
Müller-Kohlenberg, Hildegard (1972). Das Berufsbild des Heimerziehers. Eine
empirische Untersuchung in Heimen für erziehungsschwierige Jugendliche.
Weinheim und Basel
Thiersch, Hans (1977). Kritik und Handeln – interaktionistische Aspekte der
Sozialpädagogik. Neuwied