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20. Mai 2009 3 20 /05 /Mai /2009 22:55
Eine kleine Arbeitsgruppe dokumentiert zur Zeit im Internet Verbrechen an behinderten Kleinkindern und Schulkindern in einem Kinderheim in Deutschland. Inzwischen wissen wir, dass dieses Kinderheim eins unter etlichen anderen war, in dem zwischen 1947 und 1969 alle Facetten der Gewalt ausgeübt wurden. Zu den Verbrechen in den bundesdeutschen Kinder- und Jugendheimen schreibt der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche Deutschland, Huber: 'Es erfüllt uns mit Scham, was dabei zutage tritt. Aber wir dürfen uns davor nicht verschließen; denn wenn dieses Unrecht nicht beim Namen genannt wird, wird die Würde der betroffenen Menschen heute genauso verletzt wie damals.' Die Opfer werden auch ein weiteres Mal misshandelt, wenn angesichts der Sachlage überhaupt die Frage nach Entschädigung diskutiert wird. Noch unanständiger ist es, dass mit Hilfe runder Tische und sonstiger Ausschüsse so viel Zeit herausgeschunden wird, dass kaum ein Opfer Entschädigung erhalten wird. Huber, die katholische Kirche und alle seriösen Politiker sind aufgefordert - wollen sie glaubwürdig bleiben - diesem schmählichen Treiben ein Ende zu setzen. Ein Staat, der 500 Millarden Euro für Spekulanten und Zocker übrig hat, macht sich zur Bananenrepublik, wenn er diese Verbrechen nicht finanziell sühnt. Irland kann nur Vorbild sein!
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20. Mai 2009 3 20 /05 /Mai /2009 22:47
Vorbemerkung:
Die evangelische und katholische Kirche hat der
Ruhr-Universität Bochum einen Forschungsauftrag gegeben. In diesem Projekt
sollen Opferzahlen, rechtliche Grundlagen und Regularien erhoben und mit der
Praxis verglichen, ferner Fälle aufgearbeitet werden. Dazu der Projektleiter
Professor Traugott-Jähnischen: „Wir wollen einen Querschnitt der Realität in
den damaligen Heimen aufzeigen.“ Ziel des Projekts sei es zudem, die
Hintergründe der Zuständen in den Heimen zu ergründen. Auch die Verantwortung
des Staates sei noch zu klären.

Bevor über den Sinn und Unsinn eines solchen Projektes
angesichts der Informationsfülle in Internetforen diskutiert wird, ist ein
Kopfschütteln erlaubt. Es ist nicht so, dass die Kirchen ein völlig
unabhängiges Institut beauftragen, vielmehr geht es um die Kirchliche Fakultät
der Ruhr-Universität Bochum. Wer ähnliche Forschungsprojekte beobachtet hat,
hegt die Befürchtung, dass hier ein auf Kurs getrimmter „Lehrstuhl für
christliche Gesellschaftslehre“ den Dreck zusammenfegen soll, den die Kirchen
in 20 Jahren hinterlassen haben. Wahrscheinlich soll das Ziel dieses Projektes
die Umwandlung von Dreck in Kompost sein. Zwar kann Professor Jähnichen
verkünden, dass sein Lehrstuhl völlig unabhängig arbeitet und damit mag er
sogar Recht haben. Im Volksmund bleibt allerdings das alte Sprichwort: „Wes
Brot ich eß, des Lied ich sing.“ Dies mag völlig ungerechtfertigt und
unzutreffend sein. Dieses Vorurteil wird sich nicht ändern lassen. Schon darum
gilt diese Fakultät als befangen. Aufrichtige Wissenschaftler theol. Fakultäten müssten sich selbst als befangen betrachten und solche Projekte ablehnen, weil ihre
Glaubwürdigkeit nur von einem Teil der Bevölkerung in diesem Zusammenhang
anerkannt wird.

Wem nutzt ein solches Projekt? Das Projekt kann den Kirchen
insofern nutzen, als dass sie einmal einen zusammengefassten Überblick über die
Gräueltaten in den Nachkriegsjahren bis zu Beginn der 80er Jahre erhalten.
Diesen Überblick bekommen sie allerdings nur, wenn sich die Historiker die Mühe
machen, nicht nur bei den Kirchen vorliegende Storys zu sichten sondern auch
wochenlang im Internet zu recherchieren und selbst einzelne Fragmente
zusammenzufügen. Die allerwenigsten Opfer haben ihre Berichte fertig in der
Schublade liegen und tragen sie wie eine Monstranz vor sich her. Die
allermeisten beginnen erst mit dem Aufarbeitungsprozess, wie auch immer
ausgelöst, „ihre Geschichte“ zusammenzusetzen. So sind einzelne Fragmente auf
unterschiedlichen Seiten und in unterschiedlichen Foren verstreut.

Ob die evangelische Fakultät Bochum dieses Zusammensuchen
neben dem Lehrplan leisten kann, ist fraglich. Allerdings kann es auch sein,
dass bei gewissenhafter Ausführung des Projektes einkalkuliert wird, dass
dieses Projekt wenigstens ein Jahrzehnt beansprucht. Bis dahin reduziert sich
die Zahl der Opfer durch die biologische Lösung. Zahlreiche Äußerungen von
Rechtsnachfolgern aus dieser Zeit lassen erkennen, dass genau dies das Ziel
ist. Wenn beispielsweise angesichts der vorhandenen Fülle des Materials immer
noch Runde Tische gefordert werden, Diakoniepräsident Kottnik aber öffentlich
jammert, dass dieser Runde Tisch bisher nicht tagen konnte, weil noch kein
Vorsitzender gefunden wurde, muss man berechtigt fragen: Warum macht er ihn
nicht selbst oder kommt es ihm gerade recht, dass sich niemand für den Vorsitz
findet, - um schlichtweg Zeit zu schinden.

Dieses Forschungsprojekt hätte nur dann einen Sinn, wenn es parallel zu den notwendigen Schuldbekenntnissen und Sühnebestrebungen der
Kirchen laufen würde.

Die Opfer selbst haben von diesem Forschungsprojekt nichts.
Sie reiben sich verwundert die Augen, wenn Diakoniepräsident Kottnik
Familienministerin Ursula von der Leyen öffentlich auffordert, diesen Runden
Tisch zu finanzieren. Die Opfer vermuten dahinter die Fortsetzung in der
Forderung, dass die Öffentliche Hand den Schlamassel (der aus einer
Aneinanderreihung von Verbrechen besteht) ausbadet und die Aufgabe übernimmt,
Entschädigungsansprüche abzubügeln. Für die Kirchen bliebe eigentlich nur eine
kleine Überarbeitung des „Stuttgarter Schuldbekenntnisses“ von 1945. Dort heißt
es: „ ... aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer
gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Mit
solchen windelweichen Erklärungen haben sie schon einmal Politiker, Gläubige
und dumme Menschen am Nasenring durch die Manege geführt.

Die Opfer selbst haben von Runden Tischen und langzeitigen
Forschungsprojekten überhaupt nichts. Sie brauchen Hilfe. Jetzt und heute. Die
allermeisten würden ein anderes Leben, sorgenfreier, wahrscheinlich auch
finanziell gesicherter leben, wenn sie diese Kindheits- und Jugenderlebnisse
nicht gehabt hätten. Schon darum ist eine Opferentschädigung zwingend zu
akzeptieren. Genauso bedrückend ist ihre Sorge um die Zukunft: Wann ist es
soweit, dass ich wieder ins Heim muss und im Alter erneut erleben muss, was ich
in Kindheit und Jugend erlebt habe. Diese Angst ist völlig begründet, und wer
den Namen “Fussek” googlet, erfährt, dass es in vielen, auch kirchlichen
Altenheimen, heute Gewalt und psychischen Terror gibt. Dabei haben sich die
Kirchen damals vor 60 Jahren fortlaufend bis heute diese sozialen
Aufgabengebiete unter den Nagel gerissen, mit der Behauptung, sie würden alles
besser machen als staatliche Institutionen.

Das Forschungsprojekt kommt also nur den Beschuldigten zu
Gute. Es schindet Zeit und lässt damit die Anspruchsberechtigten biologisch
verschwinden.

Sollte die Evangelische Fakultät Bochum allerdings unabhängig
arbeiten wollen und dürfen, käme sie sehr schnell dahinter, dass die einzelnen
Berichte der Opfer sich wie Mosaiksteinchen zusammensetzen lassen. Sie
bestätigen unabhängig voneinander die Verbrechen bis in einzelne Heime und
Schlafzimmer hinein und lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie
tatsächlich stattgefunden haben.

Ich persönlich erwarte auch von diesem Projekt nichts. Die Darstellung des Forschungsprojektes unter Leitung der Professoren Dammberg und
Jähnich lässt nichts Gutes erwarten.
http://www.ruhr-uni-bochum.de/jaehnichen/kirchliche_heimerziehung.pdf
Helmut Jacob
23. 10. 2008
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18. Mai 2009 1 18 /05 /Mai /2009 01:10
Angesichts der Verbrechen an den Heimkindern, die in nunmehr 3 Jahren Aufarbeitung ans Tageslicht gekommen sind, den Opfern eine Entschädigung abzusprechen oder dieses zu versuchen, zeugt von einer moralischen Verlotterung, die den Gegner von Entschädigungen selbst ins Abseits stellt. Diese Verluderung dokumentiert sich schon in vielen Bereichen. Bänker werden mit Geld zugefüttert; - man braucht gar nicht lange nachzugrübeln, dass mit diesen Finanzspritzen zahlreiche Einlagen abgesichert werden sollen, die nicht den Weg nach Lichtenstein oder in die Schweiz geschafft haben. Dafür hat man für HartzIV-Mütter gerade mal 100€ Schulgeld übrig. Im übrigen bestätigt sich der Verdacht, dass wirklich alles unternommen wird, dieses Problem, dass aufmüpfige ehemalige Heimbewohner den Kirchen, staatlichen Aufsichtsbehörden und der Politik aufgetischt haben, einfach biologisch zu lösen. Es wird so lange schwadroniert, bis die Zielgruppe nicht mehr vorhanden ist. Allein die gesundbeterische Behauptung, es seien alles nur bedauerliche Einzelfälle, die keine Systematik erkennen ließen, ist heute nur noch eine Boshaftigkeit. So ist klar zu erkennen, dass es in etlichen Heimen eine Ausnahme war, wenn einzelne Betreuer/innen "gut" zu ihren Schützlingen waren. Sie selbst wurden oft gemobbt.
An der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels unseres Landes aktualisieren sich die moralischen Wertstäbe dieser Gesellschaft.
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16. Mai 2009 6 16 /05 /Mai /2009 18:06

Freie Arbeitsgruppe JHH 2006 - Pressemitteilung vom 12. Mai 2009

Behinderte Heimopfer vom "Runden Tisch Heimkinder" ausgesperrt


"Öffnete man in den 1950er und 1960er Jahren die Tür zum Johanna-Helenen-Heim, so sah man in einen Abgrund der Willkür, der Zerstörung, der Gewalt, der Angst und der Einsamkeit. Man blickte in das "Herz der Finsternis".

Mit diesem Satz beendeten die Historiker Dr. Ulrike Winkler und Prof. Hans Walter Schmuhl ihren Zwischenbericht über die Situation der Heimkinder vor 40 bis 60 Jahren in den damaligen Orthopädischen Anstalten Volmarstein. Zuvor schilderten sie Gewalttaten, die auch zur damaligen Zeit teilweise justiziabel waren. Sie ermittelten Schläge mit der Hand, mit der Faust und dem Stock, sowie Fußtritte gegen Kinder. Viele wurden zwangsgefüttert, ihnen selbst blutig Erbrochenes noch einmal auf dem Rücken liegend gewaltsam eingetrichtert. Weitere Formen der Gewalt waren das stundenlange Einsperren in dunklen Zimmern, sexuelle Übergriffe im Rahmen der Badetage, stundenlange Strafestehen auch schwer behinderter Kinder, solange, bis sie in der Klassenecke zusammenbrachen. Selbst danach wurden sie mit schweren Stockhieben wieder auf die Beine geprügelt.

Die Freie Arbeitsgruppe JHH 2006 hat ein halbes Jahr zuvor ähnliche Greueltaten und Verbrechen ermittelt und auf ihrer Homepage www.gewalt-im-jhh.de dokumentiert.

"Diese Schreckenszeit soll vor dem "Runden Tisch Heimkinder" in Berlin keine Rolle spielen", so Gruppensprecher Jacob entsetzt, "man sperrt die hilflosesten der Gesellschaft, behinderte Kleinkinder und Schulkinder, die im Alter ihr Recht einfordern, vom Runden Tisch aus:"

Anlass für diese Unverständnis ist ein Brief des Runden Tisches. "Mit der Problematik der Behindertenhilfe sprechen Sie ein wichtiges und sensibles Thema an. Der Deutsche Bundestag hat den Runden Tisch "Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren" mit der Aufarbeitung der Jugendhilfepraxis ... beauftragt. Daher wird sich der Runde Tisch ausschließlich mit der damaligen Heimerziehung befassen können."

"Wir wunderten uns sehr, dass Petitionsausschuss und Runder Tisch auf unsere zahlreichen Eingaben seit einem Jahr mit keinem Wort reagiert haben", so Jacob "aber nun ist die Katze aus dem Sack. Was wir längst befürchteten, haben wir jetzt schwarz auf weiß."

Auch die nachgeschobene Bemerkung: "Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Ergebnisse des Runden Tisches keine Signalwirkung auf angrenzende Bereiche, wie etwa die Behindertenhilfe, entfalten könnten," kann die Arbeitsgruppe nicht beruhigen. "Dies ist eine Expander-Formulierung, die je nach Tagespolitik ausgelegt werden kann", so Pressesprecher Klaus Dickneite.

Seit langem haben die behinderten Heimopfer einen engagierten Vertreter, der sich intensiv für ihre Rechte einsetzt, Diplom-Psychologe und Diplom-Theologe Dierk Schäfer, ehemals Evangelische Akademie Bad Boll. Vor kurzem wurde er mit dem Kinderrechtspreis des "Verbandes Anwalt des Kindes" ausgezeichnet. "Er wurde mit gleichem Schreiben auch abserviert", so Gruppensprecher Jacob, "offensichtlich ist er für die Rechtsnachfolger der Einrichtungen, die damals so viel Unheil angerichtet haben, zu unbequem". Schäfer fordert bereits seit weit über einem Jahr einen Opferentschädigungsfond. Ebenso mahnt er die Glaubwürdigkeit seiner Evangelischen Kirche an. Der Runde Tisch: "Auf Ihre Forderung, Herrn Schäfer dauerhaft an den Runden Tisch einzuberufen, möchte ich Ihnen mitteilen, dass die personelle Besetzung des Runden Tisches abgeschlossen ist. Die ehemaligen Heimkinder werden am Runden Tisch durch drei Betroffene vertreten. Um Kontinuität in der Zusammenarbeit zu gewährleisten, ist eine Veränderung dieser Zusammensetzung nicht geplant." Verschwiegen wird allerdings, dass den drei Betroffenen wenigstens vier Juristen gegenübersitzen. Dickneite: "Man muss nicht lange darüber nachdenken, welche Aufgabe diese Herren haben. Schadensbegrenzung."

Erwarten können die ehemaligen behinderten Heimkinder auch nichts vom Diakonischen Werk der evangelischen Kirche Deutschland. Nach dem Vortrag der Historiker hat die Arbeitsgruppe Diakoniepräsident Kottnik aufgefordert, sich öffentlich für das totale Versagen der Vorgängerinstitution Innere Mission zu entschuldigen. Kottnik dazu in seinem Antwortschreiben: "Grundsätzliche Stellungnahmen, insbesondere solche zu konkreten Vorgängen in einzelnen Einrichtungen der Diakonie, kann das Diakonische Werk der EKD daher nicht abgeben." Kottnik betont zwar, dass "die Ergebnisse der Forschungen zur Geschichte des Johanna Helenen Heims wesentlich in unser Gesamtbild der damaligen Heimerziehung eingehen werden", aber - so Marianne B., noch heute unter den Folgen schwerster Mißhandlungen leidend: "Dafür können wir uns auch nichts kaufen." Schließlich teilt sie ihre Angst mit vielen ehemaligen Schulkameraden: Die Angst vor dem Alter und neuen Gewalttätigkeiten, diesmal im Altenheim. Für sie ist es unvorstellbar, jemals wieder in ein Heim kommen zu müssen.

Die Freie Arbeitsgruppe JHH 2006 sieht ihre letzte Hoffnung in der Einrichtung eines Runden Tisches Heimkinder in Nordrhein-Westfalen. Zu diesem Zweck hat sie Landtagspräsidentin Regina van Dinther angeschrieben. "Ziel dieses Tisches muß es sein, Behindertenassistenz bis zum Lebensende abzusichern, damit die Opfer von damals ohne Angst ihren Lebensabend verbringen können." Pressesprecher Dickneite fügt hinzu: "Außerdem ist es ein unhaltbarer Zustand, dass die Opferrente mit anderen Sozialleistungen verrechnet werden. Viele wurden durch die Gewalt erst zu Sozialhilfeempfängern gemacht."

Mit freundlichen Grüßen

(Helmut Jacob)
Sprecher Freie Arbeitsgruppe JHH 2006


*

28.04.2009

Präsident des Bundestages
Herrn
Dr. Norbert Lammert
Deutscher Bundestag
Platz der Republik 1
11011 Berlin

"Runder Tisch Heimkinder"
hier: Aussperrung der behinderten Heimopfer

Sehr geehrter Herr Präsident!

Wir erinnern uns noch gut daran, als wir am 26. November des vergangenen Jahres vor den Computerbildschirmen saßen und die Aufzeichnung der letzten Sitzung des Petitionsausschusses in Sachen Heimkinder im Internet sahen.

Sie selbst haben die besondere Bedeutung dieses Themas Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in den Nachkriegsjahrzehnten mit Ihrer Teilnahme an der Sitzung verdeutlicht. In etlichen Presseerklärungen haben Sie die Wichtigkeit der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte betont. Obwohl die Heimaufsicht Ländersache war und ist, hat der Deutsche Bundestag am 04. Dezember 2008 die Einrichtung eines Runden Tisches unter der Leitung von Frau Dr. Antje Vollmer beschlossen.

Ist Ihnen, sehr geehrter Herr Präsident bekannt, das die Verbrechen an den Hilfslosesten der Gesellschaft, nämlich am körperlich und/oder geistig behinderten Kleinkindern und Kindern am Runden Tisch nicht aufgearbeitet werden sollen? Im Falle eines Kinderheims in Wetter Volmarstein hat die Freie Arbeitsgruppe JHH 2006 folgende Gräueltaten und Verbrechen zwischen 1947 und 1969 auf ihrer Homepage dokumentiert. Auszug:

"Zu den einzelnen Misshandlungen und Straftaten z. B.:

Hiebe mit dem Krückstock auf den Kopf, gegen den Rücken, in die Kniekehle
Schläge mit den Fäusten auf den Kopf, ins Gesicht, auf die Ohren
kindlichen Körper gegen Heizungsrohre schleudern
Aufschlagen des Kopfes auf die Pultplatte bzw. Einquetschen zwischen die Flügel der klappbaren Schultafel
Traktieren der "Eckensteher" mit dem Stock - wenn sie gefallen sind - solange, bis sie wieder aufstanden
Zwangsfütterung (selbst des Erbrochenen)

Weitere Gewalttätigkeiten bestanden in der Ausübung psychischer Gewalt z. B.:

Kleinkinder mit dem "Bullemann" oder der Leichenhalle drohen
Kleinkinder und andere Kinder in permanente Angstzustände versetzen durch Drohungen, unangekündigte Schläge, Schlafentzug, unkontrollierte Gefühlsausbrüche
Isolationsfolter, stundenlanges, tagelanges, wochenlanges Einsperren in Badezimmer, dunklem Abstellraum oder Wäschekammer - oder im Urlaub in einem leeren Zimmer
Aufforderung an einzelne Kinder, andere Kinder zu schlagen.

Sexueller Missbrauch z. B.:

Zur-Schau-Stellung der sekundären Geschlechtsmerkmale
Stimulierung und Erregung von Jugendlichen unter Einsatz des Waschlappens und Seife, wobei die direkte Berührung mit den Händen nicht ausgenommen war
Fortführung dieser Stimulierungen bis zum Erguß
Aufforderung an junge Diakonische Helferinnen, die Erregung bei Jungen zu beobachteten
Anschließende Bestrafung dieser Jungen, weil sie angeblich "Schweine" seien.
Untersuchung der Brüste und des Intimbereiches auf Weiterentwicklung, wobei vordergründig Büstenhalter angepasst werden sollten

Weitere Brutalitäten z. B.:

Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr; in einigen Fällen bis zur Reduzierung auf eine halbe Tasse Muckefuck pro Tag
Schwere körperliche Arbeit, in einem Fall bereits ab 7 Jahren. Alle Ehemalige, die zu körperlicher Arbeit fähig schienen, wurden eingesetzt.

Zur medizinischen Versorgung z. B.:

Fehlende Medikamente, da diese in die DDR verschickt wurden.
Fehlende Behandlung von Mittelohrentzündungen, in deren Folge es zu Operationen und einseitigen Taubheiten kam.
Druckstellen wurden erst behandelt, wenn sie völlig vereitert waren (HD).

Diese Misshandlungen wurden in einer ersten Zusammenfassung von den seitens der Ev. Stiftung Volmarstein (Rechtsnachfolgerin der damaligen Orthopädischen Anstalten Volmarstein) mit der Erforschung dieser Zeit beauftragten Historiker Dr. Ulrike Winkler und Prof. Hans-Walter Schmuhl großteils bestätigt. Die Zeit für den öffentlichen Vortrag dieser Historiker reichte nicht aus, um die zahlreichen Details vorzutragen.

Es sprengt den Rahmen unseres Verständnisses und würde Ihre Glaubwürdigkeit beschädigen, wenn Sie von dieser Aussperrung wüssten und nicht interveniert hätten. Bitte bereiten Sie diesem Skandal ein Ende.

Mit freundlichen Grüßen

(Helmut Jacob)
Sprecher Freie Arbeitsgruppe JHH 2006


*

17.04.2009

An die
Präsidentin des Landtags NRW
Frau Regina van Dinther
40002 Düsseldorf
Telefax (0211) 884-2258

Anregung zur Einrichtung eines Runden Tisches Heimkinder

Sehr geehrte Frau Präsidentin!

Am 26. März 2009 haben die Historiker Dr. Ulrike Winkler und Professor Hans-Walter Schmuhl einen Zwischenbericht über ihre Forschungsarbeit

"Gewalt in der Behindertenhilfe. Das Johanna-Helenen-Heim in den 1950er/60er Jahren"

in der Ev. Stiftung Volmarstein vorgetragen. Da Sie zum Kuratorium dieser Einrichtung gehören, sind Sie darüber sicher bereits informiert.

Auch die Freie Arbeitsgruppe JHH 2006 hat ihrerseits die Gräueltaten und Verbrechen an behinderten Kleinkindern und Kindern dokumentiert. Bereits im November 2008 hat sie diesen Bericht in ihre Homepage www.gewalt-im-jhh.de eingestellt. Der direkte Link ist:
http://www.gewalt-im-jhh.de/Zusammenfassung_der_Aufarbeitu/Aufarbeitung_der_Grausamkeiten_171108.pdf

Sicher ist Ihnen auch bekannt, dass der Deutsche Bundestag im Dezember 2008 einen "Runden Tisch Heimkinder" unter der Leitung von Frau Dr. Antje Vollmer beschlossen hat. Am 2. April tagte dieser Runde Tisch zum zweiten Mal.

Auch die Bundesländer gehen dazu über, ihrerseits Runde Tische einzurichten. Das Land Niedersachsen spielt in diesem Sinne wohl eine Vorreiterrolle. Da die bisher ermittelten Gräueltaten und Verbrechen in den 50er und 60er Jahren in den Kinder- und Jugendheimen Nordrhein-Westfalens in der Zahl an oberster Stelle stehen, drängt sich die Frage geradezu auf, wann das Land NRW seinerseits einen entsprechenden Runden Tisch einrichtet.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, wir möchten Sie dazu gewinnen, diesen Runden Tisch zu initiieren. Gleichzeitig möchten wir Sie bitten, durch Ihre Person in Form einer Geste (ähnlich wie es Bundestagspräsident Norbert Lammert getan hat, indem er demonstrativ an der letzten Sitzung des Petitionsausschusses teilgenommen hat) die besondere Bedeutung dieses Runden Tisches zu unterstreichen.

Falls Sie bereits in der Planung sind, möchten wir Sie schon jetzt bitten, darauf zu achten, dass die Fehler des Runden Tisches des Bundes sich auf Landesebene nicht wiederholen.

1. Auf Bundesebene gehören die drei Opfervertreter einem Verein an, der dadurch bekannt wurde, dass er die Petition durchgesetzt hatte. Es ist der "Verein ehemaliger Heimkinder".

2. Dieser Verein ist unseres Erachtens nicht in der Lage, jene Opfer zu vertreten, die nicht zum Verein gehören, insbesondere nicht die Heimkinder, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe misshandelt wurden.

3. Den drei Opfervertretern stehen 17 Vertreter aus den Kirchen, aus dem Diakonischen Werk, aus der Caritas, aus der Bundes- und einigen Landesregierungen gegenüber.

4. Die konkrete Teilnehmergruppe ist unbekannt, da es keine Veröffentlichungen gibt.

5. Auch der Runde Tisch des Bundes scheint eher geheim zu wirken. Protokolle sind im Internet nicht zu finden. Selbst der oben angeführte Verein gibt keine Auskunft. Es kann nicht sein, dass diejenigen, deren Interessen vertreten werden sollen, nichts darüber erfahren, auf welche Weise und mit welchem Inhalt ihre Interessen vertreten werden und ob hierzu überhaupt eine Übereinstimmung mit den Betroffenen besteht.

6. Zahlreiche Opfer, wie auch unsere Arbeitsgruppe, wünschen sich die Herren Professor Manfred Kappeler und Diplom-Psychologe/Diplom-Theologe Dierk Schäfer an den Runden Tisch des Bundes. Diese beiden Herren vertreten eindeutig die Interessen aller Opfer, also auch der Opfer aus Einrichtungen der Behindertenhilfe. Sie melden sich immer wieder öffentlich zu Wort, fordern eine schnelle Aufarbeitung dieser Jahrzehnte und zeigen die Konsequenzen für die Rechtsnachfolger auf. Dies ist zwar der "Gegenseite" der Opfer höchst unangenehm, aber für die Betroffenen im wahrsten Sinne des Wortes ein Segen. Genauso, wie Sie, Frau Präsidentin, immer wieder klare Worte zur "Volmarsteiner Anstaltsgeschichte in den 50er und 60er Jahren" gefunden haben. So ist es zu erklären, dass entsprechende Eingaben mit der Bitte um Einberufung dieser Herren unbeantwortet bleiben. Nach unserer Meinung ist dies eine weitere Verhöhnung der Opfer. Wir möchten Sie auf diese Missstände aufmerksam machen, damit der Runde Tisch NRW für alle Betroffenen ein Erfolg wird.

Die Freie Arbeitsgruppe JHH 2006 wird Sie in vollem Umfang unterstützen, wenn NRW diesen Runden Tisch installiert. Nennen Sie uns für diesen Fall bitte eine Bezugsperson. Über diesen Runden Tisch NRW würden wir auf einer Sonderseite unserer Homepage alle anderen Opfer in NRW informieren.

Als Anlage übersende ich Ihnen Positionspapiere des Herrn Dierk Schäfer. Weil es sich bei der Aufarbeitung der Verbrechen in den damaligen Orthopädischen Anstalten Volmarstein nicht um solche an "Erziehungszöglingen" handelt, brauchen wir einen eigenen Vertreter am Runden Tisch NRW, der unsere besondere Problematik, und die der behinderten Opfer anderer Einrichtungen berücksichtigt. Dies ist eindeutig Pastor Dierk Schäfer.

Frau Präsidentin, weil unsere Arbeit transparent im Internet verfolgt werden kann, bitten wir auch um Ihre Zustimmung, alle Beiträge aus Ihrem Hause auf unserer Homepage veröffentlichen zu dürfen. Es hat sich gezeigt, dass uns diese Praxis glaubwürdig gemacht hat. Persönliche Briefe oder Absätze in dienstlichen Schreiben, die als persönlich oder mit "intern" gekennzeichnet sind, bleiben von einer Veröffentlichung ausgeschlossen.

Mit freundlichen Grüßen

(Helmut Jacob)
Sprecher Freie Arbeitsgruppe JHH 2006 (FAG JHH 2006)

Mitglieder: Marianne Behrs, Klaus Dickneite, Christel Flügge, Eberhard Flügge, Helmut Jacob, Wolfgang Möckel, Horst Moretto, Karl-Joachim Twer


*

Quelle:
Pressemitteilung vom 12. Mai 2009
Freie Arbeitsgruppe JHH 2006
Pressesprecher: Klaus Dickneite
Am Leiloh 1, 58300 Wetter
E-Mail: kdickneite@online.de
Internet: www.gewalt-im-jhh.de

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16. Mai 2009 6 16 /05 /Mai /2009 14:47
"Ich bedauere zutiefst, was damals im Namen der Diakonie geschehen ist", sagte Kottnik, Präsident des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), am Freitag in Hannover. ....
Er habe früher von Einzelschicksalen gesprochen, sagte der Präsident. Heute wisse er, dass dies eine unzulässige Bagatellisierung sei. Das erzieherische Handeln in Freistatt und anderen Einrichtungen übertreffe bei weitem das, was damals in den Schulen und Familien üblich war. "Ich will, dass es für die Betroffenen in irgendeiner Form eine Wiedergutmachung gibt", betonte Kottnik. Der vom Bundestag eingerichtete Runde Tisch, an dem sich auch die Diakonie beteiligt, wolle Ende Juni erste Vorschläge unterbreiten.
http://www.epd.de/nachrichten/index_65034.html

Kommentar

Tiefes Bedauern ist noch keine Entschuldigung. Eine Entschuldigung beinhaltet den Begriff „Entschuldigung“. Ihm folgt eine Bekanntgabe der Fakten, für die man sich entschuldigen will. Warum diese Kleinkariertheit? Weil im Internet unzähliges „tiefes Bedauern“ zu finden ist. Bereits am 18.09.2008 hat sich Kottnik mit einer ähnlichen Formulierung verbogen: „Es tut mir unendlich leid“. Dieses Zitat findet sich selbst auf der Homepage des Bundesverbandes Diakonie. Ähnliche Sprachregelungen findet man auch andererorts. Der ehemalige Leiter der Evangelischen Stiftung Volmarstein, Ernst Springer, formulierte gar im „Volmarsteiner Gruß“ 3/2006: "Die ESV verneigt sich vor den Opfern physischer und psychischer Gewalt, bittet um Versöhnung und hat alle Beteiligten jener Zeit zu einem Treffen am 24. September 2006 eingeladen."

Völlig vermurkst ist ein weiterer Entschuldigungsversuch aus Springers Feder in seiner „Volmarsteiner Erklärung“, der auf der Homepage der Freien Arbeitsgruppe JHH 2006 dokumentiert ist: „Wir sprechen diesen Opfern der damaligen Zeit unsere Anteilnahme aus, trauern mit ihnen über ggfs. eine „verlorene Kindheit“ und solidarisieren uns mit ihren Leiderfahrungen“. www.gewalt-im-jhh.de

Tatsächliche Entschuldigungen sind im breiten Internet nur zwei zu finden: die von Bischöfin Käßmann und die des Landschaftsverbandes Rheinland.

Im Übrigen ist Kottnik zu Beginn seiner Amtszeit drei Schläge hinter den Aussagen seines Vorgängers Jürgen Gohde zurückgerudert und hat erst einmal streckenweise geleugnet, verharmlost, in Frage gestellt und dieses schwarzes Kapitel der Diakonie glorifiziert. Zur Situation der Opfer von Freistatt äußerte sich Kottnik in der ZDF-Sendung „frontal 21“ am 22. April 2008: „Zwangsarbeit wäre ja so etwas wie eine systematische Situation. Den Vergleich mit der Zwangsarbeit, den sehen wir nicht gegeben. Es war damals zu diesem Zeitpunkt völlig üblich, dass auch die Kinder auf Bauernhöfen mitgearbeitet haben, mit zum Erwerb der Familie beigetragen haben. Und so haben die Kinder, die in den Heimen gelebt haben, mitgeholfen, zum Unterhalt der Heime beizutragen. Also Zwangsarbeit ist etwas, was wir da überhaupt nicht als eine Parallele ansehen.“

So fühlte ich mich gezwungen, ihn in einem offenen Brief zu fragen: „Sehr geehrter Herr Präsident! Schlagen Sie Ihre Frau? „Nein!“, werden Sie entrüstet sagen. Und das ist auch gut so, denn man schlägt keinen anderen Menschen. Allerdings muß ich Ihnen entgegenhalten: Eigentlich müssten Sie Ihre Frau jeden Tag schlagen, wenn Sie sich an Ihren eigenen Worten messen, wenn Sie glaubwürdig sein wollten.“

Ich versuchte, ihm zu verdeutlichen, dass in seinem Haushalt auch eine gewisse Zwangsarbeit ausgeführt würde und er seine Frau, im Gegensatz zu den Zwangsarbeitern in Freistatt, sicher nicht dabei verprügeln würde. http://frontal21.zdf.de/ZDFforum/ZDFde/inhalt/12/0,1872,7227596,00/msg1633687.php

Ein Stück Unglaubwürdigkeit ist auch in dem Umstand zu finden, dass er sich hinter dem Runden Tisch verschanzt. Er wartet auf Vorschläge des Runden Tisches, wie die Verbrechen gesühnt werden könnten, legt aber selbst keine Konzepte vor.

In einem Leserbrief von 2007 betont Dierk Schäfer, Psychologe und Theologe, auch die finanzielle Mitverantwortung der Kirchen: „Eine kirchliche Bitte um Vergebung würde um so glaubhafter, wenn die Kirchen zusammen mit den staatlichen Instanzen einen Opferfonds finanzierten, aus dem dann die erforderlichen Psychotherapien bezahlt werden können, die den traumatisierten Heimkindern helfen, mit ihrer Vergangenheit fertig zu werden.“

Mit seinen verbalen Manövern hat Kottnik letzten Endes Schaden angerichtet. Seine Glaubwürdigkeit ist eher ruiniert und er hat zu der Skandalchronik der Evangelischen Kirche ein weiters Kapitel hinzugeschrieben.

Helmut Jacob, 16.05.2009


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9. Mai 2009 6 09 /05 /Mai /2009 22:17
Prof. Dr. Manfred Kappeler
Vortrag in der 1. Arbeitssitzung des Runden Tisches
zur Aufarbeitung der Heimerziehung der vierziger bis siebziger Jahre
am 2./3. April 2009
Thema:
Zur zeitgeschichtlichen Einordnung der Heimerziehung
Meine Damen und Herren, in meinem Vortrag beziehe ich mich
– auf veröffentlichte und nichtveröffentlichte Berichte von ehemaligen Heimkindern
– auf eine erste kritische Durchsicht von dreißig Jahrgängen der wichtigsten
   Fachzeitschriften in kirchlicher und nichtkirchlicher Herausgeberschaft
   (Sozialpädagogik / Evangelische Jugendhilfe / Jugendwohl / Pädagogischer
   Rundbrief des Caritasverbandes Bayern / Unsere Jugend / Nachrichtendienst /
   Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt / Praxis der Kinderpsychologie
   und Kinderpsychiatrie / Soziale Arbeit), auf Rundbriefe, Stellungnahmen und
   Resolutionen von Dachorganisationen (AFET / DV / DPW / IGFH), auf
   einschlägige Monografien und auf Verlautbarungen der öffentlichen Träger der
   Jugendhilfe (vor allem Länderministerien, Landschaftsverbände und
   Landesjugendämter).
– und nicht zuletzt auf eine mittlerweile fünfzigjährige Erfahrung in Praxis und
   Theorie der Sozialpädagogik, davon fünfundzwanzig Jahre in Heimerziehung,
   Bewährungshilfe, Offene Jugendarbeit und Drogenarbeit und fünfundzwanzig
   Jahre in Lehre und Forschung.
Von 1959 bis 1974 war ich insgesamt acht Jahre als Sozialpädagoge in Heimen tätig
und sechs Jahre in der Fort- und Weiterbildung und der Supervision von
HeimerzieherInnen. Unter anderem konzipierte und leitete ich die berufsbegleitende
Ausbildung von ErzieherInnen der zentral verwalteten Heime des
Landesjugendamtes West-Berlin und beteiligte mich an der Initiierung der
Heimkampagne der späten sechziger und der siebziger Jahre.
Die Heimerziehung der vierziger bis siebziger Jahre der alten Bundesrepublik und
ihre Wirkungen/Folgen für das Leben der Menschen, die Zeiten ihrer Kindheit und
Jugend in Säuglings-, Kinder- und Fürsorgeerziehungsheimen verbringen mussten,
kann ohne eine zeitgeschichtliche Einordnung/Kontextualisierug nicht zutreffend
dargestellt, analysiert und beurteilt werden. Von entscheidender Bedeutung ist daher
wie, das heißt auf welchen empirischen Grundlagen, mit welchen analytischen
Kriterien und welchen fachlichen Maßstäben diese „Einordnung“ erfolgt.
In meinem Referat werde ich Inhalte skizzieren und Wege aufzeigen, wie diese
Inhalte meines Erachtens am Runden Tisch in ihrer Bedeutung für die Fragen der
Genugtuung/Rehabilitierung und der Entschädigung ehemaliger Heimkinder
aufgeklärt werden können.
Zuerst bedarf einer zeithistorischen Einordnung der Heimerziehung eine
Verständigung über den historischen Zeitrahmen, der als ökonomischer, politischer
und sozialkultureller Kontext der Heimerziehung die Folie für deren „Einordnung“ sein
muss.
In der Einladung zur heutigen Sitzung wird dieser Zeitraum auf die fünfziger und
sechziger Jahre begrenzt. Ich schlage vor, den Zeitraum um die vierziger und
siebziger Jahre zu erweitern.
Begründung: Ich bin 1940 geboren und hätte als Kleinkind und Vorschulkind bereits
während der NS-Zeit in einem Heim leben können und danach, als Schulkind in einer
der vier Besatzungszonen bis zur Gründung der Bundesrepublik im Herbst 1949
usw., bis ich mit der Erreichung der Volljährigkeit 1961 hätte aus der öffentlichen
Erziehung entlassen werden müssen. Tatsächlich ist es Frauen und Männern aus
der Gruppe der ehemaligen Heimkinder so ergangen. Ich selbst habe in meinem
ersten sozialpädagogischen Praktikum in einem Heim 1960 solche Jugendlichen
kennen gelernt. Für sie wäre 1950 eine willkürliche Festlegung, die mit ihrer
Heimbiografie nichts zu tun hat.
Ebenso verhält es sich mit den siebziger Jahren. Die Heimkampagne der späten
sechziger und siebziger Jahre brauchte ein ganzes Jahrzehnt des Skandalisierungen
der Heimmisere – die in Fachkreisen immer bekannt war – bis Ende der siebziger
Jahre die Jugendhilfe auf breiter Ebene daran ging, die schon in den
Besatzungszonen notwendig gewesenen Reformen zu realisieren. „Der alltägliche
Skandal der Heimerziehung“ – so der Titel einer Großveranstaltung mit circa
achttausend TeilnehmerInnen auf dem Jugendhilfetag 1978 in Köln – begleitete die
siebziger Jahre. Die großen Heimskandale: Isenbergheim/Bremen,
Birkenhof/Hannover, Diakoniezentrum Heiligensee/Berlin, Mädchenaufnahmeheim
der Diakonie/Köln – um hier nur einige zu nennen – wurden 1977/78 aufgedeckt. Die
staatlichen Fürsorgeerziehungsheime Fuldertal für Mädchen (Hessen) und
Glückstadt für Jungen (Schleswig-Holstein) wurden 1973 aufgelöst. Die brutale
Erziehungspraxis in Freistatt/Bethel wurde Mitte der siebziger Jahre eingestellt und
das Katholische Vincenz-Heim in Dortmund (Fürsorgeerziehungsheim für Mädchen)
sorgte während der ganzen siebziger Jahre für Schlagzeilen. Auf dem 6. Deutschen
Jugendhilfetag 1978 in Köln mussten wir eine bittere Bilanz für das Jahrzehnt nach
Beginn der Heimkampagne ziehen:
„Die Hintergründe dieser Skandale zeigen, dass es in allen Fällen immer um zentrale
Grundrechtseingriffe und Menschenrechtsverletzungen gegenüber den betroffenen
Jugendlichen geht. Die Verantwortlichen für diese von Menschenverachtung und
Ignoranz gezeichneten Unterdrückungspraktiken finden wir sowohl in den
Spitzenverbänden der ‚freien’ und privaten Wohlfahrtspflege (vor allem
Caritasverband, Diakonisches Werk) als auch den aufsichtführenden
Landesjugendbehörden. Die konfliktlose Zusammenarbeit zwischen den
Landesjugendämtern und den großen Heimträgern ist ein System für das
gemeinsame Interesse von Staat und Kirche an der Aufrechterhaltung eines
Erziehungszustandes in Fürsorge-Erziehungsheimen, der die Kinder und
Jugendlichen zur Unterordnung unter Hausordnungen, Anweisungen, Befehle,
Verbote und Strafe zwingen will.“ (Damm/Fiege u.a. 1978. 153)
1977 veröffentlichte Hans Thiersch den Klassiker der Sozialarbeitsliteratur „Kritik und
Handeln – interaktionistische Aspekte der Sozialpädagogik“. Zur Situation der
Heimerziehung in den späten siebziger Jahren schreibt Thiersch:
„Kritik wird notwendig, wo die Diskrepanz von Möglichkeit und Realität in einer
konkreten historischen Situation unerträglich wird; dass die Institution Heimerziehung
gegenwärtig zunehmend heftiger, verzweifelter und aggressiver kritisiert und
attackiert wird, resultiert aus offenkundigen Widersprüchen zwischen
gesellschaftlichen Postulaten und Praxis und Theorie der Heimerziehung (…).
Erfahrungen und Empirie belegen übereinstimmend, wie oft Heimerziehung nur als
Abbruch von Lebensmöglichkeiten, als Einengung und Entindividualisierung realisiert
ist. Die Frage nach der Heimerziehung als Frage nach einer totalen Institution ist die
denkbar härteste Herausforderung an die Heimerziehung, die Frage nämlich nach
einer ihr eigenes Ziel unterlaufenden und desavouierenden Gegenstruktur (…).
Die Armut, die Dominanz der Verwaltung und Entindividualisierung in der Totalen
Institution sind für den Heranwachsenden nicht nur deshalb so fatal, weil sie ihn
direkt in der Entfaltung der Selbstkompetenz hindern, sondern auch indirekt, weil der
Heranwachsende in ihnen spürt, dass man eine solche Selbstkompetenz von ihm
nicht erwartet. Die kläglichen Verhältnisse etwa demonstrieren ihm, dass er nichts
wert ist, die Dominanz der Verwaltung macht evident, dass er nur als Objekt zählt,
die Totale Institution, dass man Möglichkeiten der Individualität und Kreativität in ihm
nicht voraussetzt. Indem er solche institutionalisierten Verhaltenserwartungen
übernehmen muss, verfestigt sich bei ihm das entmutigende Bewusstsein von seiner
Wertlosigkeit.
Nicht nur die unmittelbare Erfahrung der Heimerziehung wirkt stigmatisierend auf den
Heranwachsenden, sondern ebenso das öffentliche Renommee, die Vorstellung
also, die Außenstehende mit der Heimerziehung verbinden und unter denen
Heranwachsende ins Heim kommen. Bürger und Eltern drohen mit der
Heimerziehung (…).
Eine solche Heimerziehung pervertiert den pädagogischen Schonraum, um in ihm
jene gesellschaftlichen Bedingungen und Zwänge zu wiederholen, ja zu
intensivieren, vor denen sie, ihrer Intention gemäß, die Heranwachsenden zu
schützen hätte.“ (75ff.)
Thiersch beschreibt und kritisiert die Regelpraxis, wie sie 1977 in der Bundesrepublik
bestand. Man kann auch die seit 1970 entstandenen Alternativen beschreiben, die
als praktische Kritik an der Regelpraxis entwickelt wurden. Aber das waren eben
noch die Ausnahmen, von denen nur wenige Kinder und Jugendliche etwas hatten.
Die siebziger Jahre primär unter dem Fokus der Alternativen und Reformen zu
betrachten, würde den bitteren Erfahrungen der großen Mehrheit der Heimkinder
nicht gerecht. Diese Alternativen und neuen Formen der Heimerziehung wurden erst
in den achtziger Jahren allmählich zur Regelpraxis. Obwohl ich in Theorie und Praxis
an der Entwicklung solcher Alternativen beteiligt war, würde es mir nicht in den Sinn
kommen, die Heimerziehung der siebziger Jahre von dieser Seite her als gelungene
öffentliche Erziehung zu interpretieren.
Die vierziger bis siebziger Jahre bilden meines Erachtens den historischen
Untersuchungszeitraum, in den die Heimerziehung eingeordnet werden muss. Ich
werde mich in meinen Ausführungen auf diesen Zeitraum beziehen. In sich sind
diese dreißig Jahre natürlich stark gegliedert. Sie umfassen so unterschiedliche
Epochen wie Kriegsende und unmittelbare Nachkriegszeit, die für sehr viele
Menschen bis etwa 1955 die Lebensbedingungen und den Alltag bestimmten, dann
die Phase des sogenannten Wiederaufbaus und Wirtschaftswunders von 1955 bis
1965, die gleichzeitig die Zeit der sogenannten Halbstarken-Krawalle und der
jugendkulturellen Selbstbestimmungsversuche war, im Kontext beinahe erreichter
Vollbeschäftigung und bescheidenem Massenwohlstand, dann die zweite Hälfte der
sechziger und die siebziger Jahre mit dem einschneidenden Regierungswechsel, der
Achtundsechziger Bewegung mit ihren weite Bereiche der Gesellschaft
liberalisierenden Wirkungen, das Jahrzehnt der „großen Reformen“, aber schon
begleitet von der ersten Wirtschaftskrise mit aufkommender Arbeitslosigkeit und
Ausbildungsnotstand für Jugendliche. Erinnert sei daran, dass noch um 1970 über
siebzig Prozent eines Jahrgangs mit fünfzehn Jahren die Schule verlassen mussten
und einen Platz im Erwerbsleben suchten.
Diesen gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen entsprachen jeweils
unterschiedliche epochale Sozialerfahrungen. Mit diesen Veränderungen und ihren
Wirkungen auf Kinder und Jugendliche müssen die Lebensbedingungen und
Perspektiven der Heimkinder jeweils abgeglichen werden, wenn eine zeithistorische
Einordnung der Heimerziehung gelingen soll. Der Ausgangspunkt für diesen
Vergleich muss das durchschnittliche Reproduktionsniveau der bundesdeutschen
Gesellschaft sein, auf der Basis der vorgeschlagenen Periodisierung, in
Zehnjahresschritten: 1945 bis 1955 / 1955 bis 1965 / 1965 bis 1975. Dieser Vergleich
wird die schon von Siegfried Bernfeld in den zwanziger Jahren als „Tantalus-
Situation“ beschriebene permanente Bedürfnisrestriktion von Kindern in öffentlicher
Erziehung deutlich machen.
Verglichen werden müssen:
– die räumliche Situation und die Raumaneignungsmöglichkeiten in Heimen
– Essen und Esskultur
– Kleidung
– Körperpflege
– medizinische Versorgung
– jugendkulturelle Bedingungen (Ausgang, frei gewählte Beziehungen mit
    Gleichaltrigen, Kino, Fernsehen, Jugendgruppen außerhalb des Heims, Tanz,
    Reisen und Erholung, Musik etc.)
– Strafpraxis vom Entzug sogenannter Vergünstigungen über körperliche
    Züchtigung bis hin zu Isolierung in Arrestzellen
– Arbeit zur Aufrechterhaltung der Binnenstruktur der Heime und produktive Arbeit
    in heimeigenen oder Fremdbetrieben einschließlich der Taschengeld- und
    Entlohnungsregelungen
– Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten
   Umgang mit sogenannten Auffälligkeiten wie Bettnässen, Schlafstörungen,
    „Essensverweigerung“, sogenannter Lügenhaftigkeit, Onanie, Weglaufen aus
    dem Heim, sogenannte Arbeitsscheu etc.
– und schließlich ständige Kontakt- und Beziehungsabbrüche durch
    Personalwechsel, Wechsel der Kinder und Jugendlichen in der
    Erziehungsgruppe, Verlegungen in andere Heime.
Weitere Vergleichspunkte bezogen auf die Situation von Kindern und Jugendlichen in
durchschnittlichen Erziehungsverhältnissen und solchen in der Heimerziehung
werden sich aus den Berichten der Ehemaligen ergeben.
Zur zeithistorischen Einordnung der Heimerziehung gehört auch eine Gewichtung
der Rechtsstellung von Kindern und Jugendlichen, die in Heimen lebe mussten im
Vergleich mit solchen, die im Rahmen uneingeschränkter Elterlicher
Gewalt/Elterlicher Sorge in Familien oder Familienverbänden aufwachsen konnten.
„Heimkinder als Träger von Menschenrechten“ / „Die Grundrechte von
Minderjährigen in Fürsorgeerziehungsanstalten“ – das waren Themen, die je größer
der Abstand zum NS-System wurde, je heftiger der „alltägliche Skandal der
Heimerziehung“ empfunden wurde, an Bedeutung gewannen.

„Die Zeiten waren nun mal so…“
Ich beginne mit Zitaten aus LeserInnen-Briefen und Stellungnahmen in den
zurückliegenden Monaten.
Während der Anhörung von Sachverständigen durch den Petitionsausschuss des
Bundestags im Januar 2008 sagte ein Abgeordneter sinngemäß: Er könne nicht
verstehen, warum die ehemaligen Heimkinder heute, dreißig, vierzig oder mehr
Jahre nach ihrer Zeit im Heim, mit solcher Dramatik über ihre Erfahrungen reden. Ob
es denn überhaupt möglich sei, nach so langer Zeit sich so bestimmt an einzelne
Handlungen von Erzieherinnen und Erziehern und an Einzelheiten des Heimalltags
zu erinnern.
In der Frage des Abgeordneten im Petitionsausschuss und vielen ähnlichen Fragen
von Bürgerinnen und Bürgern werden mehr oder weniger offen die erinnerten
Erfahrungen von Ehemaligen der Heim- und Fürsorgeerziehung bezweifelt. Dieser
Zweifel resultiert aus dem Vergleich der eigenen Lebenserfahrungen, vor allem
natürlich bei AltersgenossInnen, beziehungsweise der Anlegung der Folie der für
sich selbst in Anspruch genommenen bürgerlichen Normalbiografie, an die
Lebenserfahrungen von in der Heimerziehung traumatisierten Menschen. Dieser
Zweifel kann sich bis zum Verdacht und zum Vorwurf des Sozialschmarotzertums
steigern.
Ein Beispiel dafür ist ein Kommentar des Redakteurs des Württembergischen
Evangelischen Gemeindeblatts in der Ausgabe 4/2009 und durch ihn provozierte und
mitgeteilte LeserInnen-Briefe. Der Kommentator will die Bewertung der Arbeit von
Kindern und Jugendlichen in der Heim- und Fürsorgeerziehung der
Nachkriegsjahrzehnte als Zwangsarbeit nicht gelten lassen. Er schreibt, es sei
„geradezu primitiv, vom hohen Ross der Gegenwart aus Geschehnisse beurteilen zu
wollen, die vierzig Jahre zurück liegen“ und erhebt den Vorwurf, es „gehe zu vielen in
der nun begonnenen Debatte nicht um Gerechtigkeit, sonder um Geld“. Ich zitiere
aus den Briefen von Lesern und Leserinnen, die auf den Kommentar antworten:
„Volle Zustimmung zu dem Kommentar! Es ist völlig abwegig, von heutigen
Erziehungsgrundsätzen aus die damalige Praxis zu verurteilen. Harte Methoden
(Prügelstrafe als Selbstverständlichkeit) waren doch bis in die 50er Jahre, zum Teil
noch bis in die 60er Jahre in allen Schulen gang und gäbe! Da müssen die
allermeisten 70- oder 80Jährigen Entschädigung verlangen, nicht nur die Zöglinge
(christlicher) Heime! Ist es denn so sehr von Übel, wenn Kinder zur Gartenarbeit
herangezogen werden? Welcher Bauernsohn, welche Bauerntochter hat nicht schon
in jungen Jahren auf dem Feld mitgeholfen? Es ist ganz abwegig, derlei als
‚Zwangsarbeit’ zu bezeichnen.“
„Demnächst werde ich wohl gegen das Kultusministerium klagen müssen wegen
‚Misshandlung’ und Schmerzensgeld fordern. In meinen Schulen in der Kriegs- und
Nachkriegszeit waren nämlich Ohrfeigen, ‚Tatzen’ und ‚Hosenspanner’ an der
Tagesordnung. Wegen geringer Anlässe wurden wir ‚übergelegt’. Es war bisweilen
schon schlimm. Dass ich aber deswegen schwer geschädigt sei und Anspruch auf
Wiedergutmachung habe, das wird mir erst heute – 65 Jahre danach – klar. Auch
meine eigene Mutter, die nach dem Krieg als Alleinerziehende uns vier Kinder
durchzubringen hatte, werde ich wohl posthum verklagen müssen: ‚Zwangsarbeit’
hatten wir Kinder zu leisten im Haushalt, im Garten und in einer Handweberei. (…)“
„(…) Jetzt beklagen sich die inzwischen 60-jährigen Erwachsenen darüber dass sie
schwer arbeiten mussten und behaupten, sie seien traumatisiert, sie klagen über zu
wenig Zuwendungen. Die Erzieher konnten ja damals nicht jedem Kind tägliche
Schmeicheleinheiten geben.
Der Höhepunkt ist ja wohl, dass jetzt um Entschädigungen und Vergebung gebeten
wird. Die Zöglinge sollten sich in erster Linie fragen, warum sie auf die Karlshöhe
kamen und was für eine bessere Alternative es gegeben hätte. Es wäre erfreulich,
wenn sich auch jemand zu Wort melden würde, der heute noch dankbar dafür ist,
dass er auf der Karlshöhe aufgenommen wurde und dort einen guten Start in sein
ferneres Leben erfahren hat.“
Die SchreiberInnen dieser Leserbriefe setzten ihre Kindheits- und
Jugenderfahrungen mit harten Erziehungsmethoden, der Mithilfe in Haushalt, Garten
und Familienbetrieb gleich mit den Lebensbedingungen von Kindern und
Jugendlichen, die in Heimen leben mussten. Die gehässigen und empörten
Zwischentöne, die zeigen, wie die Stigmatisierung von Heimkindern bis in die
unmittelbare Gegenwart weiterwirkt, will ich hier beiseite lassen. Es geht um den
Vergleich der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in proletarischen
und kleinbürgerlichen Familienverhältnissen einerseits, und in der Heim- und
Fürsorgeerziehung andererseits.
Um diesen Vergleich geht es auch dem Autor der „Sachstandserhebung zur Situation
von Heimkindern in katholischen Einrichtungen zwischen 1945 und 1975“, die im
Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erarbeitet wurde. Diese 117 Seiten starke
Stellungnahme wurde im Mai 2008 vom Sekretariat der Bischofskonferenz dem
Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags zugeleitet. Ich zitiere aus der
Sachstandserhebung:
„Die gesamte Haltung gegenüber Kindern war eine andere. Dies bedeutete, dass ein
Erzieher, der Kinder in Heimen schlug, meist auf Verständnis stoßen konnte, wenn er
nicht gewisse Grenzen überschritt, da den Jugendlichen auch zu Hause Prügel,
Arrest und vergleichbare Strafen drohten; im Einzelfall forderten Eltern die
Heimerzieher bei Besuchen ihrer Kinder sogar auf, diese auch zu schlagen, falls sie
nicht gehorsam ein sollten.“
Der Autor behauptet, es gäbe „keine Quelle, aus der sich mit Sicherheit entnehmen
lässt, ob in einem Heim geschlagen wurde oder nicht“. Und dann schreibt er auf
derselben Seite: „Zumindest in den fünfziger und sechziger Jahren erwarteten die
Kinder und Jugendlichen, dass sie nach einer Verfehlung auch bestraft wurden. Sie
akzeptierten dies, da mit der Strafe auch die Tat ‚verbüßt’ war und keine weiteren
Sanktionen folgten. Sie kannten dies meist auch aus ihrem Elternhaus“.
Wenn Erzieher und Erzieherinnen in den Heimen geschlagen hätten, schreibt der
Autor, konnten sie davon ausgehen, „dass sie den Kindern nicht schaden würden, da
Schläge nach den damaligen Vorstellungen auch außerhalb der Heime nicht verpönt
waren. Es bringt wenig aus der heutigen Erkenntnis heraus, Personen einer weit
zurückliegenden Zeit zu beschuldigen, nicht so gehandelt zu haben, wie dies heute
üblich sein sollte. Selbst Entschuldigungen scheinen unangebracht, denn warum soll
sich jemand für eine Handlung entschuldigen, die unter damaligen rechtstaatlichen
Verhältnissen nicht anfechtbar waren, nur weil dies heute anders gesehen wird.“
Der Autor bedauert zwar, dass es in den fünfziger bis neunziger Jahren keine andere
Haltung zu den Problemen gab, hält es aber für verfehlt, „aus heutigen
Überzeugungen heraus eine generelle Schuld derjenigen Personen anzunehmen,
die gezüchtigt haben, da es für diese, innerhalb gewisser Grenzen, die allmählich
seit den sechziger Jahren immer stärker eingeengt wurden – ein Recht zur
Züchtigung gegenüber den Kindern und Jugendlichen gab, die ihnen anvertraut
waren: Sei es, dass dieses bei den Eltern lag, oder sei es, dass dieses bei einer
angeordneten Erziehung ausgeübt wurde (Schule oder Heim)“.
Das Fazit dieser Forderung lautet:
„Allgemein gilt wohl, dass die Heimerziehung in den fünfziger und in den sechziger
Jahren auf Methoden und Vorstellungen der damaligen Zeit zurückgriff und –
vielleicht abgesehen von geschlossenen Heimen und den daraus resultierenden
Einschränkungen – nicht grundsätzlich autoritärer waren. Denn in Schulen,
Internaten, aber auch im Elternhaus galten Disziplin, Gehorsam und Unterordnung
als notwendige Mittel, um aus dem Kind und späteren Jugendlichen einen in der
Gesellschaft brauchbaren, das heißt in der Arbeitswelt einsetzbaren Erwachsenen zu
machen.“
Abschließend resümiert der Autor bezogen auf die gegen die Heimerziehung in
kirchlichen Heimen erhobenen Vorwürfe:
„Es ist daher nicht korrekt, wenn bei den Beschuldigungen gegen konfessionell
geführte Heime für die fünfziger bis siebziger Jahre von rechtlichen und
gesellschaftlichen Bedingungen ausgegangen wird, wie sie am Ende des
zwanzigsten beziehungsweise zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts in der
Bundesrepublik Deutschland herrschen.“
Im September 2006 verteilte das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz an
katholische Einrichtungen und Organisationen ein Papier mit dem Titel
„Wahrscheinliche Fragen an die Kirche mit Bezug zur Problematik der ehemaligen
Heimkinder und Antworten dazu (im Sinne von Sprachregelungen im kirchlichen
Bereich)“. Darin wird vorgeschlagen, auf den Vorwurf der Zwangsarbeit von
Jugendlichen in kirchlichen Erziehungsheimen folgendermaßen zu antworten: „In den
damaligen Heimen waren Kinder und Jugendliche nicht als Arbeitskräfte eingesetzt.
Es war jedoch üblich, dass die in den Heimen lebenden jungen Menschen in der
Garten- und Landwirtschaft mitgeholfen haben. Das entsprach in aller Regel dem
Maß, wie es zu dieser Zeit auch in den Familienhaushalten üblich war.
In den damaligen Erziehungsheimen, in denen Jugendliche untergebracht waren,
gab es eine Arbeitstherapie. Das Ziel war, Jugendlichen (ab vierzehn Jahre) zu
helfen, einen Arbeitsplatz zu bekommen beziehungsweise ihren Arbeitsplatz
behalten zu können. Damit diese Arbeitstherapie möglichst realitätsgerecht geschah,
wurden auch Aufträge der Industrie ausgeführt.
Im Übrigen zählte damals – auch in Familien – mehr noch als heute die
Eingliederung in einen Tagesablauf mit regelmäßigen Arbeitszeiten zu den
pädagogischen Mitteln im Rahmen der Erziehung.
Die Heime waren keine Wirtschaftsbetriebe, sie verfolgten vielmehr pädagogische
Zwecke, die man heute im Rahmen der Gemeinnützigkeit ansiedeln würde. Die von
den jungen Menschen erarbeiteten Erträge dienten ausschließlich der Finanzierung
ihres Heimaufenthalts.“
Der Autor der Sachstandserhebung (ein Historiker) und die Deutsche
Bischofskonferenz benutzen in quasi wissenschaftlicher Sprache die gleiche
Argumentation wie die Leserbrief-SchreiberInnen aus dem Württembergischen
Evangelischen Gemeindeblatt. Diese Argumentation, die ich als rechts- und
geschichtspositivistisch bezeichnen möchte, kann nur entwickelt und durchgehalten
werden, weil die Stimmen der Ehemaligen, ihre veröffentlichten und auf anderen
Wegen mitgeteilten Erfahrungsberichte, ihre Berichte im Rahmen der Anhörung im
Petitionsausschuss ausgeblendet werden. An keiner einzigen Stelle der
Sachstandserhebung werden die berichteten und dokumentierten Erfahrungen der
Ehemaligen ernst genommen. Sie gehören für diesen, die Heimerziehung der
vierziger bis siebziger Jahre erforschenden Historiker nicht zu den empirischen
Grundlagen seiner Forschung. Im Gegenteil: Dort, wo an den Aussagen Ehemaliger
nicht vorbeizukommen ist, werden diese durchgängig als unglaubwürdig infrage
gestellt und in bestimmten Wendungen sogar diskriminiert. Dagegen werden die
Stimmen solcher Ehemaligen, die über ihre Erfahrungen in der Heimerziehung
positiv berichten, als glaubwürdig hervorgehoben.
In einer Sprachanalyse dieser bislang von katholischer Seite umfangreichsten
Stellungnahme zur Heimerziehung der vierziger bis siebziger Jahre bin ich zu dem
Ergebnis gekommen, dass der Autor der Sachstandserhebung Punkt für Punkt das
„Sprachregelungspapier“ des Sekretariats der Bischofskonferenz vom September
2006 entlang der dort vorgegebenen Antworten abarbeitet. Ein klassischer Fall von
Auftragsforschung. Darüber hinaus wird bei der Lektüre dieses Textes deutlich, dass
der Autor sich weder mit der Theorie noch mit der Praxis der Heimerziehung des von
ihm untersuchten Zeitraums auseinander gesetzt hat. Die Argumentation in der
Sachstandserhebung ist von Anfang an darauf ausgerichtet, die kirchenoffizielle
Sprachregelung „vom bedauerlichen Einzelfall“, mit der dem Vorwurf umfangreicher
Menschenrechtsverletzungen und der Missachtung der Würde von Kindern und
Jugendlichen in der Heimerziehung begegnet werden soll, wissenschaftlich zu
legitimieren.
Mit der Argumentation „Die Zeiten waren nun einmal so…“ wird im ersten Schritt
versucht, das an Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung begangene
Unrecht zu relativieren und zu minimieren, um im zweiten Schritt die Verantwortung
für dieses Unrecht vom eigenen Handeln auf den „Zeitgeist“ übertragen zu können –
den schließlich niemand für irgendetwas wirklich verantwortlich machen kann. Dabei
ergibt sich allerdings ein nicht auflösbarer Widerspruch. In den Publikationen beider
Kirchen beziehungsweise ihrer Trägerverbände zur Heimerziehung wird zu jedem
Zeitpunkt betont, dass in kirchlichen Heimen aufgrund der an christlichen Werten
orientierten Erziehungspraxis, Kindern, die in ihrem Herkunftsmilieu vernachlässigt
und geschädigt worden sind, besonders wirksam und nachhaltig geholfen werden
kann und „verwahrlosten“ Jugendlichen Orientierung, Halt und Zukunftsperspektiven
gegeben werden könne. Mit dieser Begründung wurde das Subsidiaritätsprinzip
verteidigt, die absolute Vorrangstellung in der öffentlichen Erziehung begründet und
die staatliche Heimaufsicht über Jahrzehnte erfolgreich zurückgewiesen. Freilich
kann man an diversen, die besonderen Qualitäten kirchlicher Heimerziehung
anmahnenden Beiträgen in der konfessionellen Fachpresse auch erkennen, dass der
Widerspruch zwischen religiös-theologischem Anspruch und erzieherischer
Wirklichkeit durchaus bekannt und bewusst war. Mit dem Versuch, die
Erziehungspraxis in kirchlichen Heimen dem „Zeitgeist“ anzulasten, wird nun das
immer behauptete „Proprium“ oder „das Spezifische“ dieser Erziehung gerade
geleugnet. Auf die rhetorische Frage in dem Sprachregelungspapier der Deutschen
Bischofskonferenz „Wodurch unterschieden sich Heime in kirchlicher Trägerschaft
von anderen?“ wird empfohlen zu antworten:
„Die Frage ist schwer zu beantworten, weil zum Einen die damaligen Heime weit
überwiegend in kirchlicher Trägerschaft standen, zum Anderen oftmals auch die nicht
von kirchlichen Trägern vorgehaltenen Heime von Ordensleuten geleitet waren. Es
kommt hinzu, dass ethische Vorstellungen das handlungsleitende Bild vom
Menschen – wie dann eben auch die daraus resultierende pädagogische Praxis – in
den 1940ern bis Ende der 1960er Jahre in nahezu allen Bevölkerungskreisen, auch
konfessionsübergreifend, in etwa gleich waren.
Daraus kann man den Schluss ziehen, dass in kirchlichen Heimen nicht anders
erzogen und mit Kindern und Jugendlichen umgegangen wurde, als in der damaligen
Gesellschaft sonst auch. Die den Heimen heute oft zur Last gelegten strengen
Erziehungsmethoden waren allgemein üblich und nicht besonders kennzeichnend für
kirchliche Heime.“
Würde man dieser rechts- und geschichtspositivistischen Argumentation folgen, wäre
eine Auseinandersetzug mit den Wirkungen und Folgen der Heimerziehung, mit der
Vergangenheitsschuld der Jugendhilfe, weder nötig noch möglich. Die von mir
zitierten Texte sind allerdings nur exemplarische Beispiele. Viele Verantwortliche der
Kinder- und Jugendhilfe auch von öffentlichen Trägern benutzen in der Abwehr der
Kritik und der Forderungen ehemaliger Heimkinder gleiche oder ähnliche
Argumentationen. Auch darf bei der berechtigten Kritik an der Heimerziehung in
kirchlicher Trägerschaft nicht vergessen werden, dass die Verhältnisse in staatlichen
Heimen meist anders waren und der Staat die Gesamtverantwortung für die
Heimerziehung hatte.
Die Kritik an den Verhältnissen und Zuständen in der Heimerziehung war zu jedem
Zeitpunkt ihrer Geschichte bekannt
Wer den skizzierten Weg der Legitimation von Versagen und Vergangenheitsschuld
der Jugendhilfe der vierziger bis siebziger Jahre wählt, darf nicht zur Kenntnis
nehmen oder muss aktiv unterschlagen, dass es seit den Anfängen organisierter und
professioneller öffentlicher Erziehung von Kindern und Jugendlichen eine entwickelte
Kritik an menschenunwürdigen und unter sozialpädagogischen Gesichtspunkten
kontraproduktiven Verhältnissen, Sichtweisen und Methoden der Heimerziehung
gegeben hat. In dem langen Jahrzehnt der Weimarer Republik waren die
Heimerziehungs-Skandale ein Dauerthema. Ich erinnere an das von Piscator
inszenierte Theaterstück „Revolte im Erziehungshaus“, an Peter Martin Lampels
„Jungen in Not“, an Justus Erhardts „Straßen ohne Ende“, an Brandts „Gefesselte
Jugend“, an die Debatten im Reichstag. Diese Kritik führte Ende der zwanziger,
Anfang der dreißiger Jahre zu einer beeindruckenden sozialpädagogischen
Theoriediskussion und zu ersten Versuchen einer neuen Praxis. Zur historisch
belegten Genugtuung der dominanten Erziehungskräfte in Staat, Kirchen und
Verbänden wurde der Reformdiskurs und die ihn begleitende neue Praxis dann von
den Nationalsozialisten mit einem Schlag beendet. Das autoritäre und
menschenverachtende Anstaltssystem mit seinen die Menschen nach
Brauchbarkeits- und Nützlichkeitskriterien selektierenden Klassifikationen erfuhr noch
einmal, gegenüber der Zeit vor 1933, eine Verschärfung. Die Akteure dieser
Zwangserziehung unter nationalsozialistischen Vorzeichen blieben nach dem Ende
des NS-Systems ganz überwiegend in ihren Positionen in der Jugendhilfe, im
gesamten Fürsorgesystem, in der Justiz, im Gesundheitswesen und auch in den
einschlägigen Wissenschaften. Hinter den Anstaltsmauern arbeitete weitgehend
dasselbe Personal mit denselben Sichtweisen und erzieherischen Praktiken wie vor
dem 8. Mai 1945. Die Forschung zur Geschichte der Sozialen Arbeit in Deutschland
nach Nationalsozialismus und Krieg hat seit Mitte der achtziger Jahre die Gründe für
diese von heute aus gesehen bestürzende Kontinuität umfangreich und in vielen
Facetten untersucht. Eine ernstzunehmende zeithistorische Einordnung der
Heimerziehung kann nicht von einer „Stunde Null“ in der Jugendhilfe ausgehen. Die
jahrzehntelange Verweigerung notwendiger tiefgreifender Reformen im System der
Heimerziehung werden, bei aller Bedeutung weiterer zeithistorischer Bedingungen
und Tendenzen, ohne die Berücksichtigung dieses spezifisch deutschen Kontextes
nicht zu verstehen sein.
Die 1933 durch Vertreibung, Berufs- und Publikationsverbote und anderen Formen
existentieller Bedrohung mundtot gemachten Kritiker und Reformer, soweit sie
überlebt hatten, äußerten sich nach 1945 mit Kritik am System und mit weitgehenden
Reformvorschlägen. Ihnen ist es zu verdanken, dass es schon bald in der deutschen
Nachkriegsgeschichte eine entwickelte Kritik der Heimerziehung, als dem Kernstück
der Jugendhilfe, gab. Zu jedem einzelnen Kritikpunkt wurden Verbesserungs-
beziehungsweise Veränderungsvorschläge entwickelt, und es gab schon in den
fünfziger Jahren alternative Praxis und einige als Modelleinrichtungen zur Reform der
Heimerziehung konzipierte Heime. Die Landesjugendämter als „Fürsorgeerziehungs-
Behörde“ waren seit Gründung der Westdeutschen Bundesrepublik gesetzlich
verpflichtet, die Minderjährigen, für die Fürsorgeerziehung angeordnet war oder
Freiwillige Erziehungshilfe vereinbart wurde, während der ganzen Zeit ihres
Heimaufenthalts persönlich zu begleiten und sich über ihr Wohlergehen ständig zu
informieren. Die kommunalen Jugendämter, die Kinder auf der Grundlage der
Paragraphen 5 und 6 des Jugendwohlfahrtsgesetzes in Heimen „unterbrachten“,
waren verpflichtet, sich über die Wirkungen der Heimerziehung auf diese Kinder auf
dem Laufenden zu halten. Die Vormünder, die ihre Zustimmung zur „Unterbringung“
gaben, waren verpflichtet, ihre Mündel auch während ihres Heimaufenthalts zu
begleiten, sich um ihr Wohlergehen zu sorgen und sie vor Schädigungen zu
schützen. Da alle „unehelich geborenen“ Kinder bis in die siebziger Jahre hinein
automatisch einen Amtsvormund bekamen und diese Kinder eine sehr große Gruppe
in der Heim- und Fürsorgeerziehung bildeten, trug das „Vormundschaftswesen“
insgesamt eine große Verantwortung für sehr viele Kinder und Jugendliche. 1961 hat
die AGJJ mit ihrer Studie „Kinder ohne Familien – das Schicksal des unehelichen
Kindes in unserer Gesellschaft“ darauf aufmerksam gemacht. Die
Vormundschaftsrichter, die Fürsorgeerziehung anordneten, sollten die Jugendlichen
anhören und sich ein umfassendes Bild von ihrer Situation machen. Die
Jugendrichter, die im Wege eines Jugendstrafverfahrens Fürsorgeerziehung
verhängten, waren verpflichtet, zu prüfen, ob die Anstalten, in die die Jugendlichen
eingewiesen wurden, dem Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht gerecht werden
konnten. Die öffentlichen und freien Träger der Heime waren verpflichtet, für optimale
Rahmenbedingungen (Zustand und Einrichtung der Gebäude, leibliche Versorgung
der Kinder und Jugendlichen, einschließlich medizinischer Hilfen, Möglichkeiten zur
Schul- und Berufsausbildung) und für eine das Wohl der Kinder achtende und die
Belastungen aus ihrer Vergangenheit überwindende Erziehung durch ausreichendes
und qualifiziertes Personal Sorge zu tragen. Die Heimleitungen waren verpflichtet, für
die Umsetzung der entwickelten erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen
Standards durch ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu sorgen und darauf zu
achten, dass die Würde der Kinder und Jugendlichen durch „harte
Erziehungsmaßnahmen“ nicht verletzt wurde. Die Erzieherinnen und Erzieher waren
verpflichtet, in ihrem unmittelbaren Umgang mit den Kindern und Jugendlichen eine
unterstützende und behütende Pädagogik zu praktizieren, im Geiste des Artikel 1
des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar…“ und der Leitnorm
im RJWG „Jedes deutsche Kind hat ein Recht…“. Auf allen diesen Ebenen von
Verantwortlichkeit haben sich Verantwortliche unverantwortlich verhalten. Das
geltende Jugendrecht und die in der Kinder- und Jugendhilfe auch damals schon
entwickelten Standards wurden in der Praxis der Heimerziehung und der „Wege ins
Heim“ – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht verwirklicht.
Fazit: An den entscheidenden Stellen des Jugendhilfesystems, bei öffentlichen und
privaten Trägern, fehlte die Einsicht und der politische Wille, die Kritik anzunehmen,
sie ernst zu nehmen und die auf dem Tisch liegenden fachlich qualifizierten
Vorschläge zu realisieren.
(Vgl. dazu meine Stellungnahme als Sachverständiger im Petitionsausschuss vom
Januar 2009)
Zur zeitgeschichtlichen Einordnung der Heimerziehung gehört eine Analyse und
Bewertung dieses nicht zu übersehenden großen Widerspruchs zwischen fachlich
auf hohem Niveau geführten Reformdebatten und den übermächtigen
Beharrungstendenzen in der Administration, der materiellen Ausstattung der
Heimerziehung bis hin zur alltägliche Versorgung der Kinder und Jugendlichen und
der auf Zwang setzenden Erziehung, die auf absoluten Gehorsam und Unterordnung
setzte und mit einer bis in die letzten intimsten Bereiche eindringenden
Fremdbestimmung, Demütigung und Erniedrigung bewirkte.
An dieser Starrheit des Systems arbeiteten sich über dreißig Jahre engagierte
PädagogInnen, PsychologInnen, TherapeutInnen, TheologInnen aus allen Bereichen
und Organisationen der Jugendhilfe ab. Wenn man ihre Beiträge, vor allem in den
Periodika, aber auch in einer beachtlichen Reihe von Monographien chronologisch
liest, fällt erstens auf, dass ihre Analysen und Veränderungsvorschläge in diesem
über drei Jahrzehnte reichenden Zeitraum immer um die selben Punkte kreisen und
im Laufe der Zeit, je länger die Reformverweigerung anhält, immer dringender von
den „längst überfälligen“, „seit langem geforderten“, „endlich zu realisierenden“
Reformen geredet wird.
Man muss diesen Diskurs als fachlich entfaltete Kritik an einer schon seit Gründung
der Republik einer demokratischen Gesellschaft, die in ihrer Verfassung auf die
Menschenwürde setzt und sich als Alternative zu dem gerade überstandenen
Schreckenssystem verstehen wollte, unwürdigen und von Anfang an nicht zu
verantwortende Praxis lesen.
In dem jetzt laufenden Diskurs über die Heimerziehung der vierziger bis siebziger
Jahre fällt mir auf, dass die in der Fachliteratur publizierten Reformvorschläge oft mit
ihrer Realisierung in der Praxis gleichgesetzt werden – so, als hätten Administration,
Heimorganisation und Erziehungspraxis, nicht zu vergessen die am Anfang jeder
„Heimkarriere“ stehenden „Wege ins Heim“, nur auf diese Vorschläge gewartet, um
sie umsetzen zu können. Das Gegenteil war der Fall. Eine wesentliche
Voraussetzung wären haushalts- und jugendpolitische Entscheidungen von Bund,
Ländern und Kommunen gewesen, die für systemverändernde Reformen
notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen und mit jugend- und
fachpolitischem Druck die Reformen einzuleiten und zu verstetigen. Das geschah
nicht. Eine andere wesentliche Voraussetzung wären weit- und tiefreichende
Bewusstseinsänderungen und entsprechende Veränderungen von
Handlungskompetenzen beim Personal der Heime gewesen. Dazu kam es nicht, weil
mächtige ideologische Barrieren dem entgegen standen, nicht in die
sozialpädagogische Ausbildung investiert wurde und in der Folge die
gesellschaftliche Stellung des Berufsstands „Heimerzieher“ so schlecht blieb wie eh
und je. In der Fachliteratur jener Jahrzehnte wiederholt sich immer wieder die Klage
über den großen Bruch von Theorie und Praxis und die am erzieherischen Personal
(einschließlich der Heimleitungen) scheiternde Vermittlung von Theorie und Praxis.
Zur Personalfrage, die jahrzehntelang im Mittelpunkt der Klagen über die
„Heimmisere“ stand – und bis heute nicht befriedigend gelöst ist – gehörte nicht nur
die Qualifikation und die Arbeitsbedingungen der sozialpädagogischen
ErzieherInnen, sondern auch die der ArbeitserzieherInnen und der Wirtschafts- und
Verwaltungsangestellten in den Heimen. Auch die Qualifikation der für die „Wege ins
Heim“ verantwortlichen Fachleute in den Jugend- und Landesjugendämtern, im
gesamten Vormundschaftswesen einschließlich der Gerichte und in der
Jugendstrafrechtspflege war auf einem von heute aus gesehen bestürzend
niedrigem Niveau, was Bewusstsein und nach fachlichen Standards gemessene
Professionalität anbelangt.
Nach der Umwandlung der Fachschulen für Wohlfahrtspflege in Höhere Fachschulen
für Sozialarbeit 1960/61 waren die SozialarbeiterInnen die in Deutschland
bestausgebildeten Fachkräfte in allen Bereichen der Wohlfahrtspflege. Unter den
AbsolventInnen dieser Ausbildungsstätte war eine ausgeprägte Ablehnung
gegenüber einer Arbeit in der Heimerziehung verbreitet. (Vgl. dazu Kappeler/Keune
1964)
1972 veröffentlichte der Beltz-Verlag eine empirische Untersuchung über „Das
Berufsbild des Heimerziehers“ in Heimen für „erziehungsschwierige Jugendliche“. Ich
zitiere aus dieser Studie:
„Auf die Unhaltbarkeit des derzeitigen Ausbildungsniveaus der Erzieher – gemessen
an den Anforderungen der Praxis – ist von verschiedener Seite hingewiesen worden.
Hans Pfaffenberger stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ‚ob nachweisbare
Unterschiede in Größe, schwere oder Umfang der schulpädagogischen und der
sozialpädagogischen Berufsaufgabe die bestehenden Unterschiede der Ausbildung
rechtfertigen können oder ob nicht vielmehr der sozialpädagogisch-soziale Sektor als
,unterentwickelter Beruf einen ähnlichen Entwicklungsweg wie der Lehrer noch vor
sich hat und alles daran setzen sollte, ihn möglichst schnell zu beschreiten, um der
Vergleichbarkeit der Berufsaufgabe entsprechend eine vergleichbare Ausbildung
jenseits des berufsbildenden Fachschulwesens zu erreichen.’
Curt Bondy zieht den Vergleich mit dem Lehrer, der eine dreijährige Ausbildung hat,
und dem Arzt. der noch viel länger geschult werden muss, und fährt fort: ‚Es ist
wirklich nicht zu verstehen, dass (…) der Heimerzieher, der mir Kindern und
Jugendlichen zu tun hat, die meistens sowohl körperlich als auch seelisch nicht in
Ordnung sind, keine oder nur eine sehr geringe Ausbildung erhält’. Ebenso die
internationale Gesellschaft für Heimerziehung; sie forderte auf ihrer Tagung über die
Aus- und Fortbildung für Erzieher im Heim im Februar 1970: ‚Die Tätigkeit des
Erziehers im Heim ist an der pädagogischen Aufgabe gemessen der des Lehrers
gleichzusetzen. Dem ist sowohl hinsichtlich des Status wie der Besoldung Rechnung
zu tragen’. Erklärungen dieser Art, die die Entsprechung der Tätigkeit des
Heimerziehers und des Lehrers artikulieren, ließen sich noch weiter fortsetzen. –
Interessanter scheint jedoch die Frage, wieso Ausbildungsstand und Besoldung in
den Heimen noch immer katastrophal ungenügend sind. Bei dieser Fragestellung
wird man das ganze Spektrum pädagogischer Arbeit mit Jugendlichen im Blick
haben müssen. Es fällt auf, dass die Ausbildung der Erziehenden umso besser ist, je
günstiger die Ausgangssituation der Jugendlichen ist. Das Kontinuum reicht vom
Hochschullehrer über den Gymnasial- und Hauptschullehrer bis zum Heimerzieher
und zum Vollzugsbeamten im Jugendstrafvollzug, dessen Qualifikation meist gleich
Null ist, der seine überaus anspruchsvolle erzieherische – eigentlich therapeutische –
Arbeit ausführt ‚ohne oftmals auch nur eine Ahnung von den Voraussetzungen
jugendpädagogischer Arbeit zu haben’.“ (31f.)
Zur zeithistorischen Einordnung der Heimerziehung schlage ich zwei Wege der
Annäherung vor:
1. Die Reformdebatte nicht als Reformvollzug, sondern als Kritik am Bestehenden zu
lesen und
2. diese Kritik in Verbindung zu setzen mit den Berichten ehemaliger Heimkinder, die
aus allen Bereichen der Heim- und Fürsorgeerziehung inzwischen zu Hunderten
mündlich und schriftlich vorliegen und im Verlauf der Arbeit dieses Gremiums weiter
anwachsen werden. Diesen Berichten gegenüber haben die Erinnerungen
ehemaliger HeimleiterInnen, ErzieherInnen und JungendamtsmitarbeiterInnen
weniger aufklärerisches Gewicht. Diese brisante These will ich etwas genauer
begründen.
Der Psychoanalytiker und Traumatologe Prof. Gerion Heuft, Leiter der Klinik für
Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster, berichtete im
Petitionsausschuss über Langzeitfolgen traumatischer Erfahrungen. Im Unterschied
zu anderen konflikthaften Erfahrungen würden solche realitätsnäher, das heißt ohne
sekundäre Bearbeitung, im Gedächtnis aufbewahrt und können offensichtlich auch
nach Jahrzehnten plötzlich wieder „vor Augen stehen“. Er belegte diese Mitteilung
mit Beispielen aus seiner Praxis.
Die Traumaforschung hat seit den achtziger Jahren beeindruckende Erkenntnisse
über auslösende Situationen für dieses plötzliche, oft schockartige Reaktionen
bewirkende, „Auftauchen“ traumatisierender Erfahrungen aus lange zurückliegenden
Lebensabschnitten erbracht. Traumatisierendes Erleben wird, um weiter leben, um
überleben zu können, gleichsam psychisch eingekapselt, abgedichtet und,
psychoanalytisch gesprochen, im Vorbewussten aufbewahrt. Es wird nicht, wie
neurotische Konflikte, verdrängt und damit ins Unbewusste geschoben, wo sie
bekanntlich virulent bleiben, sondern eher wie ein gründlich verlegtes Fotoalbum,
scheinbar „zufällig“ wiederentdeckt. Ein ganzes Arsenal von Erinnerungen wird damit
geöffnet. Allerdings erfolgt dieses plötzliche Auftauchen der Bilder nicht so zufällig,
wie es den von ihren Erinnerungen buchstäblich „Heimgesuchten“ selbst und
Außenstehenden erscheinen mag. Situationen, Begegnungen, Bilder, Gebäude, die
jetzt die oft dramatischen Erinnerungen bewirken, haben diese Wirkung über
Jahrzehnte nicht gehabt. Sie werden erst in Schwellensituationen des Lebens,
mehrheitlich in der zweiten Lebenshälfte an der Schwelle des Alters oder im Alter zu
auslösenden Faktoren. Wir Älteren wissen aus eigener Erfahrung, dass im Rückblick
auf ein langes Leben Fragen nach dem Sinn des Lebens zunehmen und
Bilanzierungen versucht werden. In unserem Langzeitgedächtnis entdecken wir
dann, wenn wir es zulassen, längst vergessen geglaubte Bilder, Erlebnisse,
Ereignisse, sinnliche Erfahrungen mit einer verblüffenden Schärfe und Genauigkeit.
Aber für die meisten älter werdenden Menschen handelt es sich dabei nicht um
Bilder aus dem überlebensnotwenigen, bislang hermetisch verschlossenen
psychischen Bereich für traumatisierende Erfahrungen und den ihnen
entsprechenden Gefühlen von Ausgeliefertheit, Hilflosigkeit, Verlassenheit,
Entblößung, Beschämung und Scham – sondern um in der Regel zwar ambivalente,
aber überwiegend positiv besetzte Erinnerungen, die, nach allen retrospektiven
Begradigungen – nach dem frommen Motto „Vom Ziel her gesehen sind Gottes
Wege immer gerade“ – unterm Strich eine positive Lebensbilanz zulassen.
Die Vorbereitungsgruppe des „Tags der Erinnerung“ in der Diakonischen Anstalt
„Karlshöhe“ (Ludwigsburg) hat im Februar 2009 einen Fragebogen entwickelt, in dem
zu wichtigen Fragen des Heimalltags ehemaliger „Zöglinge“ (Jungen und Mädchen)
und ehemaliger ErzieherInnen gleichlautende Fragen gestellt wurden.
An den Antworten der ehemaligen Heimkinder und der ehemaligen ErzieherInnen
der Karlshöhe in den ausgewerteten Fragebögen hat mich dieser Unterschied am
stärksten berührt. Die Bilanz der ErzieherInnen bezogen auf die Bedeutung der
Karlshöher Zeit für ihr Leben, ist „im Ganzen“ deutlich positiv. Die Bilanz der
Heimkinder und Jugendlichen ist dagegen ebenso „im Ganzen“ negativ. Das schließt
die auf beiden Seiten geäußerten Ambivalenzen mit ein. Die Bilanz der ehemaligen
Heimkinder und Jugendlichen bleibt auch nicht, wie bei den Erzieherinnen und
Erziehern im Allgemeinen, sondern geht mit einer teilweise beeindruckenden
Klarsicht ins Einzelne und Konkrete.
Der Unterschied in den Lebensbilanzen der ehemaligen Heimkinder zeigt, bei allen
subjektiven und individuellen Akzentuierungen, nicht zufällig so große
Übereinstimmungen bis in die Details des täglichen Lebens. Diese
Übereinstimmungen haben objektive Gründe und lassen Rückschlüsse auf
Strukturen zu. In den Bilanzen der ErzieherInnen dominieren, aus vielerlei Gründen,
andere Erinnerungen mit anderen Bearbeitungsformen, die die Verhältnisse der
Heimerziehung, unter denen sie arbeiten mussten und ihre in diesen Verhältnissen
praktizierte Erziehungsarbeit in der Regel als „bestandene Bewährungsprobe“
interpretieren, in der sie sich, trotz großer Belastungen durch die Arbeitsbedingungen
und die Kinder „behauptet“ haben.
Aber auch ErzieherInnen haben in der Heimerziehung der vierziger bis siebziger
Jahre traumatisierende Erfahrungen machen müssen. Für sie ist es sehr schwer,
heute offen und selbstkritisch über ihre Sichtweisen und Handlungen im Berufsalltag
jener Jahre zu reden. Wie vielen ehemaligen Heimkindern schließt auch ihnen die
Scham den Mund und möglicherweise sogar die Erinnerung. Aber die Scham der
Erziehenden ist eine andere als die der „Zöglinge“. Während die der „Zöglinge“ aus
verinnerlichten Schuldzuschreibungen und gesellschaftlichen Unwert-Urteilen
resultiert, hat die Scham der Erziehenden ihre Wurzeln im „pädagogischen
Gewissen“ und im Erschrecken vor dem Leiden, das sie den ihnen zur
Unterstützung, zu Hilfe und Geborgenheit anvertrauten Kindern und Jugendlichen
angetan haben. Dieses Versagen sich selbst, den ehemaligen Heimkindern und
möglicherweise in der gegenwärtigen Auseinandersetzung einer breiteren
Öffentlichkeit einzugestehen, erfordert große Selbst-Aufrichtigkeit und sehr großen
Mut. Ein solcher Schritt ist in jedem Fall ein Wagnis und wird nicht ohne seelische
Erschütterungen möglich sein. Man kann dieses Wagnis durchaus mit dem der
ehemaligen Heimkinder – wenn sie über ihre Erfahrungen zu reden beginnen –
vergleichen, wenn auch die Hintergründe und die Folgen sehr verschieden sind.
In den Kinderheimen und Fürsorgeerziehungsheimen der vierziger bis siebziger
Jahre wurden vor allem solche Erzieherinnen und Erzieher traumatisierenden
Erfahrungen ausgesetzt, die mit pädagogischem Eros oder gar mit dem Vorsatz,
diese Verhältnisse zu ändern, in diesen Totalen Institutionen ihren berufliche Weg
begannen. Am 22.1.2009 widmete der Deutschlandfunk die Sendung „Hintergrund
Politik“ (18.40 Uhr bis 19 Uhr) dem Schicksal der ehemaligen Heimkinder. In der
Sendung wurde auch auf die Situation der ErzieherInnen eingegangen:
„Dennoch ergriffen junge Erzieherinnen und Erzieher manchmal auch für jene Partei,
die ihnen anvertraut waren. Eine Chance hatten sie jedoch nicht. Das System
Heimerziehung funktionierte nur, indem auch Mitarbeiter, die andere Vorstellungen
von ‚Fürsorge’ hatten, gebrochen wurden. Dietmar Krone erzählt, wie junge,
freundliche Erzieher sehr schnell, von heute auf morgen, verschwanden. Und Hans
Bauer (der ehemalige Leiter des Evangelischen Erziehungsverbandes wurde von der
Niedersächsischen Landesbischofin Käßmann mit einer Untersuchung über die
Fürsorgeerziehung und Heimerziehung in kirchlichen Einrichtungen beauftragt, M.K)
hat in seinen Ermittlungen auch mit ehemaligen Mitarbeitern in Heimen gesprochen,
unter anderem mit einer heute Siebzigjährigen, die Anfang der sechziger Jahre in
einem Heim für Mädchen tätig war. Sie erzählt, dass sie morgens ‚Unruhe in der
Gruppe hatte und dann kam der Pastor, der der Leiter dieser Einrichtung war, und
hat das moniert und hat dann ihre Hand genommen und gesagt: Und diese Hand
kann hier keine Ruhe schaffen? Dann hat er dem Mädchen, das da ein bisschen laut
war, einen Pantoffel ausgezogen und es kräftig zusammengeschlagen, dass das
Mädchen wimmernd auf dem Boden lag, hat einem anderen Kind befohlen, einen
Eimer kaltes Wasser zu holen, hat das Wasser über das Kind gekippt und hat die
junge Erzieherin angeguckt und gesagt: Und das konnten Sie nicht’!?“
Ehemalige Erzieherinnen und Erzieher haben mir berichtet, dass sie gegen ihre
pädagogische Überzeugung und ihre ethischen Norme bereits nach wenigen
Monaten ihrer Arbeit im Heim angefangen haben, Kinder zu schlagen. Ich zitiere aus
dem Bericht einer Ordensschwester:
„Ich habe als junge Nonne Heime gesehen, in denen kleine Kinder untergebracht
waren, ausgestoßen und allein gelassen. Ich war damals erschüttert, und ich schwor
bei Gott, dass ich diesen Kindern helfen wollte. Sie sollten sich im Heim wohl fühlen,
das Heim sollte für sie ein Zuhause sein. Ich wollte ihnen helfen, im Namen Gottes,
im Namen der christlichen Nächstenliebe. Bei meinen Besuchen in katholischen
Heimen habe ich Nonnen und weltliche Erzieher erlebt (…). Ich sprach damals mit
ihnen, bevor ich selbst im Heim arbeitete. Sie redeten alle von Nächstenliebe, aber
ich hatte den Eindruck, dass sie davon nur redeten und gerade das Gegenteil von
dem praktizierten: Sie schlugen aus nichtigen Anlässen auf kleine Kinder ein oder
verhängten Strafen. Sie waren einfach sehr autoritär, und was mir besonders auffiel:
Sie waren alle fast nicht in der Lage, Kinder wirklich zu lieben!
Als ich dann selbst im Heim arbeitete, wollte ich nicht dieselben Fehler machen. (…)
Doch schon bald hatte ich meinen Vorsatz aufgegeben. Ich verhielt mich den Kindern
gegenüber ebenso wie die anderen Nonnen. Auch ich fing an, Kinder zu schlagen,
zu bestrafen, sie mit Sanktionen zu belegen. Und ich wusste – wie alle Nonnen und
Erzieher auch – dass die Kinder sich nicht wehren konnten. Sie waren uns, unseren
Launen, unserer Macht hilflos ausgeliefert! Wir haben alle bei den Kindern eine
große Angst verbreitet. Die Angst beherrschte ihre Seele und ihren kleinen Körper
und ihr junges Leben. Ich hatte geglaubt, diese Mittel einsetzen zu dürfen, weil ich
mit der ganzen Situation nicht mehr fertig wurde.
Wir konnten nicht anders; wir hatten einfach keine anderen Möglichkeiten, ihnen zu
helfen, wir hatten ja auch keine pädagogische Ausbildung. Wir dachten: Wenn wir die
Kinder einer strengen religiösen Erziehung unterwerfen, so wäre das tatsächlich die
beste Hilfe, die man ihnen zuteil werden lassen kann. Doch ich muss sagen: Ich war
wie alle anderen Nonnen und Erzieher einem großen Irrglauben, ja einem Wahnsinn
verfallen. Wir alle glaubten, dass das die beste Erziehung ist. Wir dachten uns nichts
dabei, die Kinder streng anzufassen, auch mal zuzuschlagen, sie zu irgendetwas zu
zwingen. Wir haben den Kindern immer wieder gesagt, dass wir sie im Namen von
Jesus Christus erziehen und ihnen helfen wollen. Doch in Wirklichkeit haben wir –
auch wenn diese Erkenntnis schmerzlich ist! – gegen diese christlichen Grundsätze
verstoßen. Wir sind nicht auf die Kinder zugegangen wie Menschen, sondern wir
haben sie innerlich irgendwie abgelehnt (…).
Das Heim, in dem ich arbeitete, war ein katholisches Heim. Gott war das Fundament
der Erziehung! (…) Durch die Drohung mit Gott hatten wir die Kinder unter Kontrolle,
auch ihre Gedanken und Gefühle. Ist das nicht das Ziel jeder konfessionellen
Erziehung, jedes konfessionellen Heimes? (…)
Erst vor kurzem hatte ich wieder einen dieser Träume: Ich sah wieder, wie ich einen
etwa sieben Jahre alten Jungen bei der Selbstbefriedigung erwischte. Ich war außer
mir und stellte ihn zur Rede. Doch das Kind begriff nichts. Meine Wut wurde immer
größer, und ich zog ihn an den Haaren in den Duschraum. Dort habe ich kaltes
Wasser in eine Wanne einlaufen lassen und den Jungen mit Gewalt dort hinein
gezerrt und ihn viele Male untergetaucht. (…) Es sind schreckliche Szenen, ich weiß!
Doch was hilft das denn heute noch den Betroffenen – nichts! (…)
Wir haben viele Fehler gemacht. Es war für die Kinder teilweise eine furchtbare,
grauenhafte Zeit; es war ein großes Vergehen ihnen und Gott gegenüber.
Ich bin nicht sicher, ob ich wirklich weiß, was es für ein Kind bedeutet, überhaupt in
einem Heim leben zu müssen und dann noch unter solchen schlimmen
Bedingungen. Ich kann es, wenn überhaupt, nur erahnen. (aus: Homes 1984).
Wie dieser Nonne geht es anderen Erzieherinnen und Erziehern, die mir berichtet
haben, dass sie noch heute, nach Jahrzehnten, in Albträumen von den Bildern ihrer
Gewalttätigke
it gegenüber Kindern und Jugendlichen gepeinigt werden. In der
Anhörung des Petitionsausschusses berichtete ein Petent über ein Gespräch mit
einem seiner ehemaligen Erzieher. Dieser hatte ihm gesagt:
„Die Gesamtheit musste ja funktionieren, sonst waren da sehr schnell chaotische
Zustände, die man zu verhindern hatte. Wenn man als Erzieher einen Ruf hatte, bei
dem geht es drunter und drüber, das war ein schlechtes Image für einen selber, von
daher stand man schon unter dem Zwang, in seiner Gruppe Ordnung zu haben, und
das ließ sich bei der Masse von Kindern oft nur mit Gewalt durchsetzen. (…) Ich
sage heute, ich habe mich schuldig gemacht, das tut mir heute noch weh, die Jahre,
die man da Menschen misshandelt hat, aber als eigene Entlastung kann man sagen:
Es war damals in der Zeit noch so, und die Zustände waren einfach heillos. Was da
für Deformierungen von jungen Menschen passiert ist, das kann man nicht wieder
gutmachen, das ist schuldhaft, nur dass man es nicht als Schuld einsieht von den
Mitarbeitern, die dieses System verkörpert haben, das wird heute noch nicht als
Schuld gesehen, ich persönlich muss sagen: Ich sage mir manchmal, was sind wir
doch für erbärmliche Leute gewesen, dass wir so reagieren mussten. Man hätte ja
auch auf die Barrikaden gehen können.“
Der Beitrag ehemaliger Erzieherinnen und Erzieher wird für die zeitgeschichtliche
Einordnung der Heimerziehung und für die aufklärende Arbeit des Runden Tisches
unverzichtbar sein.
Resümee
Die Behauptungen, „Die Zeiten waren nun einmal so…“ und „Die Heimerziehung war
auch nicht anders als die in der Gesellschaft üblichen Verhältnisse“ und „Man kann
nicht mit Maßstäben von heute die Heimerziehungspraxis der vierziger bis siebziger
Jahre beurteilen“, werden durch eine zeithistorische Einordnung der Heimerziehung
widerlegt. Diese Behauptungen sind aber auch bezogen auf das gesetzlich
festgelegte Ziel der Heimerziehung und ihr formuliertes Selbstverständnis nicht
haltbar. Die Heimerziehung hatte den eindeutig definierten Auftrag, die Kinder und
Jugendlichen, die zum ganz großen Teil aus „unterpriviligierten Lebensverhältnissen“
kamen, nicht noch unter diese Verhältnisse zu drücken, sondern sie darüber hinaus
zu heben und ihnen eine Perspektive auf ein gelingendes Leben auf der Ebene des
durchschnittlichen Reproduktionsniveaus der bundesrepublikanischen Gesellschaft
zu eröffnen
Literatur
Damm / Fiege / Hübner u.a. (1978). Jugendpolitik in der Krise – Repression und
   Widerstand in Jugendfürsorge – Jugendverbänden – Jugendzentren –
   Heimerziehung. Materialien zum Jugendhilfetag 1978. Frankfurt am Main
Homes, Markus (1984). Heimerziehung – Lebenshilfe oder Beugehaft? Frankfurt am
   Main
Kappeler, Manfred / Keune, Wilhelm (1964). Ist eine Tätigkeit im Heim für den
   Sozialarbeiter noch interessant? In: Unsere Jugend 12/1964
Müller-Kohlenberg, Hildegard (1972). Das Berufsbild des Heimerziehers. Eine
   empirische Untersuchung in Heimen für erziehungsschwierige Jugendliche.
   Weinheim und Basel
Thiersch, Hans (1977). Kritik und Handeln – interaktionistische Aspekte der
Sozialpädagogik. Neuwied

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9. Mai 2009 6 09 /05 /Mai /2009 21:55
Prof. Dr. Manfred Kappeler

Überlegungen zum Umgang mit Vergangenheitsschuld in der Kinder- und Jugendhilfe

In den fünfziger bis siebziger Jahren war die Heimerziehung/Fürsorgeerzieung das wichtigste Teilsystem der Kinder- und Jugendhilfe und zugleich sein Schluss-Stein, von dem her das ganze sogenannte „Vor-Feld“ bestimmt wurde.
Das Unrecht, das Kindern und Jugendlichen in diesem System zugefügt wurde, ist nicht nur die Schuld einzelner Menschen. Diese Schuld betrifft die Vergangenheit der Bundesrepublik insgesamt, einen großen Abschnitt ihrer Geschichte. Sie verdunkelt die nachfolgende Gegenwart und macht Vergangenheitsschuld zu einem generationenübergreifenden Thema in der Sozialen Arbeit.[1]

Der juristische Schuldbegriff bezieht sich „auf Handlungen und Unterlassungen, die im Widerspruch zu Normen des geltenden Rechts stehen“, der alltägliche Begriff der Schuld bezieht sich auf die Verletzung anderer Normen, „Normen der Religion, der Moral, des Takts, der Sitte und des Funktionierens von Kommunikation und Interaktion. Beide Male wird an das eigene Verhalten eines Einzelnen angeknüpft und für den Schuldvorwurf vorausgesetzt, dass der Einzelne sich normwidrig verhalten hat, obwohl er zu normgemäßem Verhalten fähig war.“ (Schlink 2002, 12).

Die Behauptung, die TäterInnen seien „Kinder ihrer Zeit“, sie handelten in Übereinstimmung mit den „gängigen Vorstellungen von Erziehung und mit dem vorherrschenden Bild von schwer erziehbaren Kindern und Jugendlichen“, sie hätten in der Heimerziehung/Fürsorgeerziehung nur die Erziehung praktiziert, die auch außerhalb der Einrichtungen in der Gesellschaft „üblich“ gewesen sei, bezweckt eine Generalamnestie, die das „System“ entlasten soll. Es kann nachgewiesen werden, dass es zu allen Zeiten, besonders aber in der Deutschen Nachkriegsgeschichte, eine entwickelte Kritik an menschenunwürdigen und unter sozialpädagogischen Gesichtspunkten kontraproduktiven Verhältnissen, Sichtweisen und Methoden gegeben hat. Es gab zu jedem einzelnen Kritikpunkt Verbesserungs- beziehungsweise Veränderungsvorschläge und es gab alternative Praxis, bis hin zu als Modelleinrichtungen zur Reform der Heimerziehung konzipierten Heimen. Die wissenschaftlich-fachliche Kritik und die alternative Praxis als praktische Kritik können dokumentiert werden. Die Landesjugendämter als „Fürsorgeerziehungs-Behörde“ waren gesetzlich verpflichtet, die Minderjährigen, für die Fürsorgeerziehung angeordnet war oder freiwillige Erziehungshilfe vereinbart wurde, während der ganzen Zeit ihres Heimaufenthalts persönlich zu begleiten und sich über ihr Wohlergehen ständig zu informieren. Die kommunalen Jugendämter, die Kinder auf der Grundlage der Paragraphen 5 und 6 des Jugendwohlfahrtsgesetzes in Heimen „unterbrachten“, waren verpflichtet, sich über die Wirkungen der Heimerziehung auf diese Kinder auf dem Laufenden zu halten. Die Vormünder, die ihre Zustimmung zur „Unterbringung“ gaben, waren verpflichtet, ihre Mündel auch während ihres Heimaufenthalts zu begleiten, sich um ihr Wohlergehen zu sorgen und sie vor Schädigungen zu schützen. Da alle „unehelich geborenen“ Kinder bis in die siebziger Jahre hinein automatisch einen Amtsvormund bekamen und diese Kinder eine sehr große Gruppe in der Heim- und Fürsorgeerziehung bildeten, trug das „Vormundschaftswesen“ insgesamt eine große Verantwortung für sehr viele Kinder und Jugendliche. Die Vormundschaftsrichter, die Fürsorgeerziehung anordneten, waren verpflichtet, die Jugendlichen anzuhören und sich ein umfassendes Bild von ihrer Situation zu schaffen. Die Jugendrichter, die im Wege eines Jugendstrafverfahrens Fürsorgeerziehung verhängten, waren verpflichtet, zu prüfen, ob die Anstalten, in die die Jugendlichen eingewiesen wurden, dem Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht gerecht werden konnten. Die öffentlichen und freien Träger der Heime waren verpflichtet, für optimale Rahmenbedingungen (Zustand und Einrichtung der Gebäude, leibliche Versorgung der Kinder und Jugendlichen, Möglichkeiten zur Schul- und Berufsausbildung) und für eine das Wohl der Kinder achtende und die Belastungen aus ihrer Vergangenheit überwindende Erziehung durch qualifiziertes Personal Sorge zu tragen. Die Heimleitungen waren verpflichtet, für die Umsetzung der entwickelten erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Standards durch ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu sorgen und darauf zu achten, dass die Würde der Kinder und Jugendlichen durch „harte Erziehungsmaßnahmen“ nicht verletzt wurde. Die Erzieherinnen und Erzieher waren verpflichtet, in ihrem unmittelbaren Umgang mit den Kindern und Jugendlichen eine unterstützende und behütende Pädagogik zu praktizieren, im Geiste des Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar…“. Auf allen diesen Ebenen von Verantwortlichkeit haben sich Verantwortliche „normwidrig“ verhalten. Sie sind schuldig geworden, weil sie zu „normgemäßem Verhalten“, zu dem sie das geltende Jugendrecht und die in der Kinder- und Jugendhilfe auch damals schon entwickelten Standards verpflichteten.

Gegen das ihnen in der Heimerziehung/Fürsorgeerziehung zugefügte Unrecht haben Kinder und Jugendliche zu allen Zeiten, also auch schon vor der Heimkampagne Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, Widerstand geleistet. Die Zeugnisse dieses Widerstands, diese Kritik an einer menschenfeindlichen „Schwarzen Pädagogik“ in Einrichtungen der Jugendhilfe“ müssen gesammelt und dokumentiert werden. Sie sind ein authentischer Beleg für das Unrechtssystem, für die Stimme der Opfer, die in der Fach- und allgemeinen Öffentlichkeit hätte gehört werden können, aber nicht gehört wurde. An diesem Punkt geht es um gesellschaftliche, historische Schuld, die analysiert werden muss. Es geht um die Offenlegung der Ideologien, Strukturen und Interessen, die dieses System produzierten und aufrecht erhielten und es geht darum, aus dieser Analyse für Theorie und Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe heute pädagogische und politische Konsequenzen zu ziehen:
a) Bezogen auf die moralische und materielle „Wieder-Gut-Machung“ in der Form von vorbehaltloser Entschuldigung für das zugefügte Leid und materieller Entschädigung für zerstörte Lebenschancen und konkrete finanzielle Einbußen, zum Beispiel bei der Höhe der Rente.
b) Bezogen auf die aktuelle Debatte über Geschlossene Unterbringung, Boot-Camps, jugendliche Intensivtäter, Änderungen des Jugendstrafrechts, Lob der Disziplin etc.

Schuld haben nicht nur die unmittelbaren Täter, sondern auch die Verantwortlichen für das „System der Totalen Institutionen“ und alle, die Widerstand und Widerspruch unterlassen haben, obwohl sie dazu fähig waren. Die Grundlage für ihre Schuld ist die Norm: Verbrechen nicht nur nicht zu begehen und sich nicht an ihnen zu beteiligen und nicht von den Taten anderer zu profitieren, sondern ihnen mit Widerstand und Widerspruch entgegen zu treten. Das hat nichts mit „Kollektivschuld“ zu tun (vgl. Schlink a.a.O.).

Die Angehörigen der nächsten Generationen in der Jugendhilfe, das wären auf jeden Fall alle Professionellen unterhalb des fünfzigsten Lebensjahres, sind weder TäterInnen noch TeilnehmerInnen oder NutznießerInnen des Jugendhilfeunrechts der dreißig Jahre nach Krieg und Faschismus in Deutschland, noch konnten sie diesem Unrecht durch Widerspruch und Widerstand begegnen. Dennoch sind sie aufgefordert, sich betreffen zu lassen und als Angehörige eines Hilfesystems und einer Profession, die das Unrecht an Kindern und Jugendlichen zu verantworten hatte, Kritik und Scham bezogen auf diese Vergangenheitsschuld zum Ausdruck zu bringen: Ihre Betroffenheit kann sich zeigen bei der Konfrontation mit allen Spuren dieser Geschichte der Jugendhilfe: Dokumenten, Berichten, vor allem aber in der Begegnung mit den Opfern, die sie nicht meiden sondern suchen sollten. Sie können dem Selbstgerechten und Selbstzufriedenen auftrumpfen, dem Verharmlosen, der zweiten Viktimisierung der Opfer, dem Sich-Herausreden mit der Rede „vom bedauerlichen Einzelfall“, an ihrem Arbeitsplatz, aber auch in der Fach- und allgemeinen Öffentlichkeit entgegentreten. Sie können auch die Selbstorganisation der Ehemaligen aus der Heim- und Fürsorgeerziehung unterstützen, zum Beispiel bei der Suche und Sicherung von historischen Materialien in den Institutionen der Jugendhilfe, besonders bei der Entdeckung und Sicherung von Akten der Jugendämter, des Vormundschaftswesens, der Gerichte, der Psychiatrie und der Heime beziehungsweise ihrer Träger selbst.
Die Beteiligung der jüngeren Generation in der Jugendhilfe hat berufsethische Begründungen und ist ein Ausdruck des Respekts, der Wertschätzung, des professionellen Takts. Es gibt auch berufliche Anstandsregeln für die Fachkräfte in der Sozialen Arbeit.
Die dominante Reaktion der Politik in Deutschland nach 1945, schreibt Bernhard Schlink, sei die umfassend praktizierte Strategie des „Aussitzens der schuldbeladenen Vergangenheit“ gewesen, in der Hoffnung, dass mit der Zeit die „Angelegenheit“ erledigt sein werde. Bezogen auf zeitgeschichtliche Vorgänge und Erfahrungen werde die „Halbwertzeit der Erinnerung“ immer kürzer. Es besteht die Gefahr, dass die Kinder- und Jugendhilfe der Gegenwart diesen Umgang mit der Vergangenheitsschuld wiederholt. Die Reaktionen auf die Initiative des Vereins der ehemaligen Heimkinder und auf die Versuche einzelner Ehemaliger, für das erfahrene Leid Genugtuung zu bekommen, sind dafür ein bedrückendes Beispiel. Auch von Fachkräften der Jugendhilfe habe ich gehört, dass sie von alledem nichts wussten und sich nicht vorstellen können, dass es „so etwas“ in der demokratischen Bundesrepublik gegeben haben könnte. Systematische Missachtung der Menschenrechte und Menschenwürde von Kindern und Jugendlichen in der Geschichte der Bundesrepublik passt nicht in das Bild, in den Trend zur Herstellung einer bundesrepublikanischen Identität nach dem Untergang der DDR. Dafür ist nur das Unrecht der SED-Diktatur, auch auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe, speziell der Heimerziehung, nützlich und willkommen. Alle Versuche der Verharmlosung, der Minimierung, der Legitimation, und des Leugnens beziehungsweise Nicht-Wissens sind Bestandteile einer Identitätspolitik, die nicht zuletzt von Vergangenheitsschuld entlasten soll. Während diese Entlastung bezogen auf Krieg und Faschismus mit dem Hinweis, dass die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erst danach und als Alternative zu dem Vor-Her begonnen habe, wofür regelmäßig als Beleg das Grundgesetz mit seinen die Menschenwürde schützenden Freiheitsrechten bemüht wird, bei den heute Gesellschaft und Staat tragenden Altersgruppen weitgehend funktioniert, wird das massenhafte Unrecht an Kindern und Jugendlichen innerhalb der nach-faschistischen, demokratisch verfassten Geschichte der Bundesrepublik zu einem wirklichen Problem für die Identitätspolitik; auch für die Kinder- und Jugendhilfe und darüber hinaus der ganzen Sozialen Arbeit. Diese Identitätspolitik versucht, den Zusammenhang von Schuld und Geschichte zu zerreißen. Aber dieser Zusammenhang lässt sich nicht zerreißen, er lässt sich nur verleugnen. Was für die Rechtswissenschaft nach 1945 die „Naturrechtsrenaissance“ (Schlink) als vermeindliche Alternative zum NS-Rechtspositivismus war, das war für die Soziale Arbeit die zentrale Kategorie „Hilfe“ und die Selbstdefinition als „helfende Profession“. Aber auch die eugenische bevölkerungspolitische Orientierung der Sozialen Arbeit bis 1945 und in Teilen darüber hinaus operierte im Zeichen der „Hilfe“. Mit dieser Selbstdefinition, die als das „Eigentliche“ der Sozialen Arbeit von den Anfängen bis zur Gegenwart verstanden wird, wird versucht, die Integrität der Profession gegen die historische Schuld zu setzen und damit diese zu leugnen.
Rechtshistorisch gäbe es einen weitergefassten Begriff von Verantwortung, Haftung und Sühne als er in unserem juristischen Schuldbegriff enthalten sei, schreibt Bernhard Schlink. Das Problem liege darin, dass das kollektive Eintreten für eine Schuld, die lediglich individuell und subjektiv definiert wird, nicht vorgesehen sei und im Verantwortungs-Horizont nicht erscheine. Da für die Angehörigen der nachgeborenen Generationen, die Übernahme von Verantwortung für die Geschicke der Opfer nicht aus einem individuellen Schuldbegriff abgeleitet werden könne, müsse es, so Schlink, aus einem Verantwortungsbegriff beziehungsweise einem Verantwortungsbewusstsein hergeleitet werden, das sich mit der Verantwortung des Gemeinwesens für das Leiden der Opfer und seine „annäherungsweise Behebung“ ethisch begründen lässt. Im Opferentschädigungsgesetz, in der Arbeit des „Weißen Ringes“ kommt dieser Gedanke zum Ausdruck. Allerdings beziehen sich diese Ansätze nicht auf Unrecht, das Einzelnen oder Gruppen im Namen des Staats geschehen ist. Sie setzen immer den Einzeltäter und die Einzelfallprüfung voraus. Dass sich die politischen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland mit der Anerkennung und Entschädigung von Unrecht auseinander setzen müssen, das in ihrem eigenen Namen geschehen ist, wie es bei den ehemaligen Heimkindern/Fürsorgezöglingen der Fall ist, ist, soweit ich sehen kann, bislang noch nicht vorgekommen. Das erklärt meines Erachtens auch die politische Brisanz des Vorgangs. Es handelt sich um einen echten Präzedenzfall, dem weitere folgen können: Knastopfer, Psychiatrieopfer, Opfer des Pflegesystems.
Bezogen auf das nationalsozialistische Deutschland und die DDR gibt es eine Reihe von Unrechtstatbeständen, für die politische und juristische „Lösungen“ gefunden wurden. Aber das waren in jedem Fall Opfer von Unrechtsstaaten, von Unrechtsystemen, von Staaten also, zu denen sich, wie gesagt, die Bundesrepublik Deutschland als Alternative und, historisch betrachtet, als deren Überwindung, nicht aber als deren Nachfolge betrachtet. Das genau ist das Problem. Die Heimerziehung in den vierziger bis siebziger Jahren als ein postfaschistisches System zu bezeichnen, das strukturell auf die Missachtung von Menschenwürde und Menschenrechten angelegt war, was wissenschaftlich unschwer zu belegen ist, wird von PolitikerInnen und Jugendhilfe-Verantwortlichen in der Regel mit Empörung zurückgewiesen (vor allem bezogen auf die von Jugendlichen geleistete Zwangsarbeit in der Fürsorgeerziehung), ebenso auch das Aufzeigen von Übereinstimmungen der Heimerziehung West mit der Heimerziehung Ost. In diesem historisch-politischen Abwehrsyndrom liegt neben der Angst vor Entschädigungszahlungen die Hauptbarriere. Sicherlich ist auch beides miteinander verknüpft: Die ideologische Abwehr dient der Legitimation der Ablehnung von finanziellen Forderungen der Opfer.
Dem kann entgegengehalten werden, dass die Träger der Jugendhilfe (die öffentlichen und privaten) für die in ihrem Namen und ihrer Verantwortung geschehenen Unrechtshandlungen den einzelnen Opfern gegenüber haften müssen, weil sie eine Solidar- und Wirtschaftsgemeinschaft mit den einzelnen Heimen, in denen Kinder und Jugendliche geschädigt wurden, gebildet haben und ohne Unterbrechung dreißig Jahre lang aufrecht erhalten haben. Sie haben gemeinsam von dem Geschehen in den Heimen profitiert: ideologisch-politisch und materiell. Die Träger haben die Einrichtungen begünstigt und die Bestrafung der TäterInnen systematisch vereitelt. Das hat die historische Forschung inzwischen eindrucksvoll belegt. Vielleicht ist der Begriff „Staatsverbrechen“ hier angebracht. Da die Exekutive in Form der Landesjugendämter und Jugendämter immer beteiligt war, müssen hier in einem demokratischen System der Gewaltenteilung Legislative und Judikative die Haftung der Träger der Jugendhilfe politisch und rechtlich durchsetzen. Dabei liegt aus rechtlichen und aus Zeitgründen die Priorität zum Handeln bei der Legislative. „Die Netze der Schuld“, schreibt Bernhard Schlink, „zu denen sich Handlungen derart verflechten, reichen weit. In ihnen verfängt sich nicht nur der Täter, sondern jeder, der zum Täter in Solidargemeinschaft steht und diese nach der Tat aufrecht erhält. Gerade dieser Zusammenhang zeigt, dass sich der Schuldbegriff nicht nur an den Normen des geltenden Rechts, sondern auch an anderen Normen anknüpft.“ (Schlink 2002) An den schon erwähnten Normen der Religion und der Moral, des Takts und der Sitte sowie des Funktionierens von Kommunikation und Interaktion. Jede einzelne dieser Normen ist von den öffentlichen und privaten Trägern der Kinder- und Jugendhilfe massiv und dauerhaft in der Heimerziehung der fünfziger bis siebziger Jahre verletzt worden. Die weitgehend kritiklose Solidarität zwischen öffentlichen und privaten Trägern der Jugendhilfe im Falle der Heimerziehung/Fürsorgeerziehung richtete sich faktisch gegen Kinder und Jugendliche. Sie war selbst eine Norm, die dieses Verhältnis jahrzehntelang stabilisierte. Sie wurde kontrafaktisch und lernunwillig von den Verantwortlichen durchgehalten und konnte und kann nur durch massiven politischen Druck von außen (Heimkampagne in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren und gegenwärtig die Initiative der Ehemaligen mit breiter Medienunterstützung) aufgebrochen werden. Weil das so war, muss die Verantwortung für die Dominanz der Schwarzen Pädagogik in der Heimerziehung/Fürsorgeerziehung auch beiden, öffentlichen und freien Trägern gleichermaßen, zugerechnet werden. Diese Zurechnung resultiert nicht aus einer besonderen Moral. „Es sind die Regeln, nach denen Kommunikation und Interaktion funktionieren. Wenn Aufrechterhaltung und Herstellung von Solidarität nicht Aufrechterhaltung und Herstellung von Verantwortungsgemeinschaft, von Gemeinschaft des Tragens von Folgen und Vorwürfen ist, dann ist sie nichts.“ (Schlink 2002) Die in der Vergangenheit praktizierte unkritische Solidarität wirkt auch in der Gegenwart. Das Nicht-Verurteilen, Nicht-Lossagen, die Perpetuierung der Leiden der Opfer stiftet neue Schuld. Das Nicht-Lossagen, verstrickt in alte und fremde Schuld, und zwar so, dass es neue, eigene Schuld erzeugt. Ein Beispiel dafür ist ein Papier des „Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz“ aus dem September 2006, in dem für den Bereich der Katholischen Jugendhilfe „Sprachregelungen“ formuliert sind. Bezogen auf die nicht-sozialversicherte und nicht-entlohnte Zwangsarbeit heißt es da: „In den damaligen Heimen waren Kinder und Jugendliche nicht als Arbeitskräfte eingesetzt. Es war jedoch üblich, dass die in den Heimen lebenden jungen Menschen in der Garten- und Landwirtschaft mitgeholfen haben. Das entsprach in alle Regel dem Maß, wie es zu dieser Zeit auch in Familienhaushalten üblich war.
In den damaligen Erziehungsheimen, in denen Jugendliche untergebracht waren, gab es eine Arbeitstherapie. Das Ziel war, Jugendlichen (ab vierzehn Jahren) zu helfen, einen Arbeitsplatz zu bekommen beziehungsweise ihren Arbeitsplatz behalten zu können. Damit diese Arbeitstherapie möglichst realitätsgerecht geschah, wurden auch Aufträge der Industrie ausgeführt. (…) Die Heime waren keine Wirtschaftsbetriebe, sie verfolgten vielmehr pädagogische Zwecke, die man heute im Rahmen der Gemeinnützigkeit ansiedeln würde. Die von den jungen Menschen erarbeiteten Erträge dienten ausschließlich der Finanzierung ihres Heimaufenthalts.“ Zum Umgang mit der eigenen Vergangenheitsschuld heißt es in diesem Papier: „Trotz allem Bedauern über das Schicksal einzelner ehemaliger Heimkinder können weder die Deutsche Bischofskonferenz als Ganze noch Kardinal Lehmann als der Vorsitzende eine grundsätzliche Entschuldigung aussprechen. Bei den beschriebenen Misshandlungen und Demütigungen handelt es sich um Verfehlungen einzelner Personen und um das Schicksal einzelner Menschen. Dafür können sich nur die damals Verantwortlichen selbst oder stellvertretend für sie die Leitungen der entsprechenden Einrichtungen oder Orden individuell bei den Betroffenen entschuldigen. Misshandlungen und Demütigungen von Kindern in Heimen können keiner Grundhaltung zugeschrieben werden, die durch die Kirche vorgegeben oder die von der Kirche gefordert worden wäre.“ Zu der erwarteten Frage „Wodurch unterschieden sich Heime in kirchlicher Trägerschaft von anderen?“ wird empfohlen zu antworten, „dass in kirchlichen Heimen nicht anders erzogen und mit Kindern und Jugendlichen umgegangen wurde, als in der damaligen Gesellschaft sonst auch. Die den Heimen heute oft zur Last gelegten strengen Erziehungsmethoden waren allgemein üblich und nicht besonders kennzeichnend für kirchliche Heime.“
In solchen Formulierungen, die auch von Repräsentanten des Diakonischen Werks Deutschland und von Vertretern der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und der Jugendministerkonferenz zu hören sind, wird die Solidargemeinschaft mit den Tätern aufrecht erhalten. Bei den kirchlichen Organisationen wiegt das besonders schwer, denn sie haben in allen nachzulesenden Begründungen für ihre Dominanz in der öffentlichen Erziehung behauptet, dass gerade sie den besonderen auf Wertschätzung und Liebe gegründeten Werten des Christentums verpflichtet sind und sich darum besser als weltanschaulich neutrale Träger für die Erziehung vernachlässigter Kinder und Jugendliche eignen würden. In der katholischen und der evangelischen Theologie sind die Begriffe Schuld, Schuldbekenntnis, Demut und Buße von allergrößter Bedeutung. Die Repräsentanten der Kirche und ihrer Wohlfahrtsverbände zeigen von diesen christlichen Kardinaltugenden keine Spur. Sie müssen sich an ihren eigenen Ansprüchen messen lassen, aus denen ihnen eine besondere Schuld erwächst.
Die Glieder der Solidargemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe, die nicht durch eigene Taten schuldig geworden sind, müssen sich dennoch mit der Vergangenheitsschuld des Systems, das sie heute noch repräsentieren, auseinander setzen. Sie laden eigene Schuld auf sich, wenn sie auf den Vorwurf nicht dadurch antworten, dass sie sich von der fremden Schuld lossagen. Für diese Form der Verstrickung in Schuld gibt es in Deutschland ein Beispiel von historischer und epochaler Bedeutung: Dass die Deutschen, die vor 1945 nicht Täter und Beteiligte waren, indem sie sich danach von den Tätern und Beteiligten nicht losgesagt haben, zu Schuldigen wurden. Dass die Deutschen sich nicht oder nur halbherzig vom NS-System losgesagt haben, unterliege keinem historischen Zweifel mehr, schreibt Bernhard Schlink. Diese Tatsache hat im Umgang mit den Opfern der NS-Verbrechen in der Deutschen Nachkriegsgeschichte verheerende Folgen für die Opfer und für die politische Kultur in Deutschland gehabt. Ich will betonen, dass es mir bei diesem Vergleich nicht um die faktische Identität von NS-Jugendhilfe und Jugendhilfe der Bundesrepublik Deutschland geht, sondern um die strukturelle Übereinstimmung im Umgang mit Schuld und mit Opfern. Und noch ein Faktum ist hier von großer Bedeutung: Wir wissen, dass die Leiden, die Erfahrungen, die Traumatisierungen der Opfer sich in den Kindern der Opfer und in ihren Kindeskindern auf die eine oder andere Weise fortsetzen. „Oft sind sie auf ähnlich hilflose und verzweifelte Weise vom Leiden ihrer Eltern gezeichnet. Dass die Leiden der Opfer über zwei Generationen weiter wirken, ist ein weiterer Grund, der es verbietet, den so sehr gewünschten Schluss-Strich unter eine Geschichte der Vergangenheit zu setzen. Sie bleibt, ob wir das nun anerkennen oder nicht, eine Geschichte der Gegenwart.“ (Schlink 2002) Bezogen auf die NS-Täter trifft diese Verstrickung in Vergangenheitsschuld auch auf deren Kinder und Enkelkinder zu, die, so Schlink, ein schweres Erbe zu verarbeiten haben. Ob es auch Kinder und Enkelkinder von Jugendhilfe-TäterInnen gibt, weiß ich nicht. Wenn wir im übertragenen Sinne als solche, die Frauen und Männer des beruflichen Nachwuchses in der Jugendhilfe annehmen, haben wir Älteren meines Erachtens ihnen gegenüber zumindest eine Verantwortung bezogen auf die finsteren Zeiten der Professionsgeschichte, für die wir selbst noch Zeitzeugen sind, in denen wir auf die eine oder andere Weise Akteure waren. Diese Verantwortung haben auch diejenigen, die, obwohl sie Nachgeborene sind, heute leitende Funktionen in den Organisationen haben, zu deren historischer Kontinuität auch das Unrecht an den Kindern und Jugendlichen der Heimerziehung und Fürsorgeerziehung der Jahrzehnte nach 1945 bis in die siebziger Jahre gehört. Die Kinder und Jugendlichen, die in jenen Jahrzehnten in der Heim- und Fürsorgeerziehung leben mussten, sind heute überwiegend im Alter zwischen fünfzig und siebzig Jahren. Sie fordern mit Recht eine aktive Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte, die auch die Geschichte der Jugendhilfe ist, und einen praktischen Beitrag zur Entschuldigung und Entschädigung. Die Kinder- und Jugendhilfe heute sollte auf allen Ebenen und mit allen ihren Funktionsträgern sich dieser Vergangenheitsschuld und den aus ihr resultierenden Forderungen ohne Vorbehalte stellen und damit auch einen wichtigen Beitrag zur politischen Kultur der Bundesrepublik heute leisten.


Literatur
Zwei Fachzeitschriften mit Schwerpunktheften zum Thema:
Jugendhilfe. Dezember 2007.
Forum Erziehungshilfe. April 2008.
Zum Umgang mit der Geschichte in der Sozialen Arbeit vgl. die Zeitschrift Widersprüche. Heft 101: Geschichten und Geschichte der Sozialen Arbeit.
Zur Verstrickung der Sozialen Arbeit in Vergangenheitsgeschichte vgl. Kappeler, Manfred (2000). Der schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen - Rassenhygiene und Eugenik in der Sozialen Arbeit. Marburg
und
Schlink, Bernhard (2002). Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht. Frankfurt am Main


[1] Besondere Anregungen zu diesem Vortrag verdanke ich den rechtsphilosophischen Essays von Bernhard Schlink (2002).

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6. Mai 2009 3 06 /05 /Mai /2009 20:21
18.05.2008
Sehr geehrter Herr Präsident!

Schlagen Sie Ihre Frau? „Nein!“, werden Sie entrüstet sagen. Und das ist auch gut so, denn man schlägt keinen anderen Menschen. Allerdings muß ich Ihnen entgegenhalten: Eigentlich müssten Sie Ihre Frau jeden Tag schlagen, wenn Sie sich an Ihren eigenen Worten messen, wenn Sie glaubwürdig sein wollten.

Kommen wir zu Ihrer Glaubwürdigkeit konkret. In der Sendung „Frontal“ vom 22. April 2008 sagten Sie:
„Zwangsarbeit wäre ja so etwas wie eine systematische
Situation. Den Vergleich mit der Zwangsarbeit, den sehen
wir nicht gegeben. Es war damals zu diesem Zeitpunkt völlig
üblich, dass auch die Kinder auf Bauernhöfen mitgearbeitet
haben, mit zum Erwerb der Familie beigetragen haben. Und
so haben die Kinder, die in den Heimen gelebt haben,
mitgeholfen, zum Unterhalt der Heime beizutragen. Also
Zwangsarbeit ist etwas, was wir da überhaupt nicht als eine
Parallele ansehen.“


Arbeitet Ihre Frau nicht auch in Ihrem Haushalt? Hilft sie Ihnen nicht, zum Erwerb der Familie beizutragen, indem sie Ihnen den Rücken freihält und die Hausarbeiten erledigt, in der Küche arbeitet, dafür sorgt, dass Ihre Gäste Essen und Trinken haben und gut bewirtet sind?

Sie haben recht, die Kinder in den Heimen haben gearbeitet und zum Heimerwerb beigetragen. Der Unterschied ist allerdings ein großer: Ihre Frau arbeitet freiwillig. Die Kinder und Jugendlichen wurden gezwungen, bei Wind und Wetter z.B. Torf abzustechen. Es bedurfte nicht einmal einer Verweigerungshaltung, um sich sporadisch Schläge, psychische Brutalitäten und sexuelle Gewaltattacken einzufangen. Ich wage es gar nicht, diese Situation auf Ihren familiären Bereich zu übertragen.

Aber erkennen Sie Ihre Inkonsequenz? Wenn Sie Ihre Frau dankenswerterweise nie schlagen dafür, daß sie Ihnen hilft, dann müssten Sie Ihre Abscheu und Empörung für jeden Schlag zum Ausdruck bringen, den Kinder und Jugendliche unter Ihrem Dach und unter dem Kreuz Jesu erhalten haben. Herr Präsident, in diesem Frontal-Beitrag haben Sie Ihre Abscheu nicht artikuliert. Können Sie ermessen, was Sie mit dieser Unterlassung ihrem obersten Chef am Kreuz angetan haben?

Tun Sie Buße Herr Präsident. Verzichten Sie auf Runde Tische, an denen schwadroniert und dummes Zeug geredet wird. Stellen Sie sich an die Spitze derer, die einen Opferentschädigungsfond fordern!

Ich komme zurück auf Ihre Formulierung: „Zwangsarbeit wäre ja so etwas wie eine systematische Situation.“
Herr Präsident, wenn Ihre Frau jeden Tag in der Küche steht, Ihnen jeden Tag den Rücken freihält, Ihnen jeden Tag die Zimmer sauber hält, Ihnen jeden Tag die Hemden gebügelt hinlegt, was ist das anderes, als eine systematische Situation? Müssen Sie unter diesen Umständen nicht sogar zugeben, dass Ihre Frau eine Art Zwangsarbeit leistet? Dies nur mit einem verschmitzten Lächeln an Sie, damit Sie zukünftig überlegen, mit welchen verqueren Formulierungen Sie versuchen, Opferansprüche abzuwimmeln.

Hochachtungsvoll
Helmut Jacob

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6. Mai 2009 3 06 /05 /Mai /2009 19:21
Gesendet: Mittwoch, 6. Mai 2009 08:52
An:

Sehr geehrte [ ..................... ]

zu Ihrer Anfrage teile ich Ihnen mit:
Die Protokolle der Sitzungen des Runden Tisches Heimerziehung sind nicht öffentlich einsehbar.

Mit freundlichen Grüßen!

  Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ
- Child and Youth Welfare Organisation -
Mühlendamm 3, 10178 Berlin - Deutschland / Germany
Tel.:  0049 (0) 30 ...
Fax: 0049 (0) 30 - 400 40 232
 
Internet: www.agj.de
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3. Mai 2009 7 03 /05 /Mai /2009 00:33
Dierk Schäfer zur Frage, warum die Behindertenhilfe vom Runden Tisch nicht behandelt wird:

Und nun ganz neu die Frage der in Heimen untergebrachten behinderten Kinder. Ganz neu natürlich nicht. Schon lange beschäftigt ein Arbeitskreis ehemaliger Heimkinder sich und die für die Heimkinderfrage „zuständigen“ amtlichen Ansprechpartner mit den „Gewalttaten und Verbrechen im Johanna-Helenen-Heim, der damaligen Orthopädischen Heil-, Lehr- und Pflegeanstalten Volmarstein (heute: Evangelische Stiftung Volmarstein) in den 50er und 60er Jahren“. Es gibt auch eine wissenschaftliche Untersuchung der Historiker Dr. Ulrike Winkler und Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl. Beide sprechen davon, daß sie einen Blick in das „Herz der Finsternis“ getan haben. Es lohnt sich, bei Joseph Conrad im gleichnamigen Buch nachzulesen, wie er „das Grauen“ beschreibt, das sind die letzten Worte seines Romans.
Seit langem informieren die ehemaligen Heimkinder vom Johanna-Helenen-Heim über ihre Schicksale auch Frau Vollmer. Am 21. April schließlich bekommen sie vom Büro des Runden Tisches als Antwort, der Runde Tisch sei gar nicht zuständig, er habe seinen Auftrag nämlich nur für Heimunterbringungen als Jugendhilfe-Maßnahme. Eine rein formal-juristische Antwort nach so langer Zeit.

Es gibt zwei Erklärungsmöglichkeiten.
Die eine heißt Hinhaltetaktik und Aushungern.
Die andere, banale, heißt: Der Runde Tisch kam mit einem Geburtsschaden zur Welt (s. http://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/runder-tisch-bericht-ds.pdf, Seite 2 f). Er ist immer noch nicht richtig in die Puschen gekommen. Darum wurde auf die Mails der Freien Arbeitsgruppe JHH nicht eher reagiert. Es gibt ja beim Runden Tisch anscheinend auch immer noch keinen Ansprechpartner, der hinreichend kompetent wäre, die Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder verständnisvoll entgegenzunehmen, sowie es auch weiterhin an der nötigen Transparenz der Arbeitsweise des Runden Tisch mangelt. Dieser „verspäteten Institution“ scheint jedes Fingerspitzengefühl abzugehen für den Umgang mit traumatisierten Menschen, die hoch-vulnerabel sind. Man scheint „business as usual“ zu machen, in gut bürokratischer Manier eins nach dem anderen und unter Beachtung der Zuständigkeiten.
Wäre ich ehemaliges Heimkind und in Unkenntnis amtlichen (Ver-)Waltens, würde ich dahinter auch einen böswilligen Masterplan vermuten.
Da ich jedoch biographisch nicht vorbelastet bin, neige ich dazu, Unverständnis und nicht etwa Eigeninteresse hinter diesen Dingen zu vermuten.
Der Runde Tisch kann mithelfen, diese doch etwas exkulpierende Sichtweise zu unterstützen:
   1. Mehr Transparenz!
   2. Verbindliche Zielsetzungen für plausibel nachgewiesene Mißstände in den Heimen!
   3. Ausdehnung der Untersuchungen des Runden Tisches auf alle „totalen Institutionen“, in denen Kinder im fraglichen Zeitraum untergebracht waren! Es gibt keinen sachlichen Grund, Heime für behinderte Kinder vom Verfahren völlig auszunehmen, auch wenn der rechtliche Hintergrund für Behindertenheime ein anderer war als für die Heime im Bereich Jugendhilfe.
Wenn der Runde Tisch sich nicht den begründeten Einwänden gegen sein Prozedere stellt, nährt er die Verschwörungstheorien.
Wenn der Runde Tisch sich nicht den begründeten Einwänden gegen sein Prozedere stellt, muß man den Petitionsausschuß über diesen Mißstand informieren!

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