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22. Juni 2013 6 22 /06 /Juni /2013 15:02

Entstehung einer Selbsthilfegruppe behinderter Heimopfer

Wie die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ entstand

Teil 1: „In die Puschen gestellt“:

In diesen Tagen wäre D. Ulrich Bach 82 Jahre geworden. Er starb im März 2009. Ulrich Bach war Pfarrer, zuletzt in der Evangelischen Stiftung Volmarstein bei Hagen und Lehrer in Sachen Theologie. Er unterrichtete im „Martineum“, im Diakoniewerk- Ruhr in Witten und gab Vorlesungen an der Evangelischen Fakultät der Universität Bochum.

An dieser Stelle soll nachgezeichnet werden, wie die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ - eine Gruppe behinderter Heimopfer des Kinderheims „Johanna-Helenen-Heim“ und ehemaliger Mitarbeiter der damaligen Orthopädischen Heil- Lehr- und Pflegeanstalten Volmarstein (heute Evangelische Stiftung) – entstand.

„Das glaubst Du doch selbst nicht“

In einem Brief an Ulrich Bach erinnerte Marianne Behrs (November 2012 verstorben) an ihre „Silberne Konfirmation“. Hier ein Auszug:

„Dann wurde ich 1989 von Dir zur Silbernen Konfirmation eingeladen. Ich habe all meinen Mut zusammengenommen und die Einladung angenommen. Es waren doch einige von damals dabei. Nach langen Jahren traf ich Dich wieder. Nachmittags gab es Kaffee und Kuchen im Martineum. Die Runde war klein und überschaubar. Plötzlich fingen einige um mich herum aus der Kindheit im JHH zu erzählen an. Roswitha schubste mich an und sagte: Erzähl du auch einmal etwas, du hast ja schließlich am meisten unter diesen Schwestern gelitten. Ich sehe immer noch Dein erstauntes Gesicht vor mir, mit der Frage: Warum habe ich davon nichts gewußt? Wie die Geschichte weiter gegangen ist weißt Du ja. Bevor ich nach Gevelsberg zog, war ich froh, daß ich zwei Nachmittage zu Dir kommen konnte, um Dir mit schonungsloser Offenheit alles von damals zu erzählen. Mir hat es leid getan, Dir diese harte Kost vorzusetzen. Du warst der Erste der raufrichtig Anteilnahme zeigte. Ich sehe uns beide noch weinend da sitzen.“

Behrs fährt fort:

“Mir hat es auch gut getan, daß Du bei Deiner Verabschiedung in den Ruhestand auf meine Geschichte aufmerksam gemacht hast. Deine Entschuldigung war ehrlich gemeint. Du hast zugegeben, daß Du damals im Konfirmationsunterricht nicht richtig zugehört hast, als ich all meinen Mut zusammennahm und erzählte, daß bei uns geprügelt wird. Das rechne ich Dir hoch an. Wer gibt schon gerne zu, daß er einen Fehler macht. Diesen Tag hättest Du viel freundlicher verbringen können. Danke, daß Du den Mut hattest. ...“ (1)

Pastor_Bach_klein.jpg Im Rahmen seiner Verabschiedung aus der Evangelischen Stiftung Volmarstein las Ulrich Bach ein Kapitel aus seinem Buch „Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz“ - Bausteine einer Theologie nach Hadamar, (Seite 87ff) Auszug aus seinem Resümee der Veranstaltung zur „Silbernen Konfirmation“:

„Was mich (ich spüre es jetzt noch spät abends) am meisten belastet: Ursula W. sagte: ‚Wissen Sie was?; einmal kamen wir bei Ihnen im Unterricht irgendwie auf das Wort 'mißhandeln', und ich sagte, da könnte ich aus eigener Erfahrung manches erzählen; wissen Sie, was Sie gesagt haben?’ - Natürlich wußte ich das nicht; aber sie hatte meine Antwort noch wörtlich im Ohr: ‚Das glaubst du doch selbst nicht!’ Und danach habe sie im Unterricht nie mehr davon angefangen. - Nach einer Pause sage ich, ich hätte heute den ganzen Tag so etwas wie ein Schuld-Gefühl: wie naiv bist du vor 25 Jahren gewesen, du hast die Kinder konfirmiert und hattest keine Ahnung; aber ich konnte mich immer ein bißchen in Schutz nehmen: ich wußte ja nichts, ich hatte eigentlich keine Gelegenheit, etwas zu ändern; nun sagt mir Frau W., ich hätte doch dazu Gelegenheit gehabt, aber ich habe einfach nicht richtig gehört. Ursula W. sah das viel lockerer: ‚Das war so wie immer; das glaubte uns ja doch niemand.’“ Bach weiter:

„Ich bat sie dann vor den anderen um Entschuldigung und sagte, sie müsse jetzt nicht antworten; mir wäre es aber wichtig, wenn sie mir irgendwann sagte, ob sie das so annehmen könne. Da müsse sie nicht lange überlegen, sagt sie; das sei in Ordnung so. - Ich kann es noch immer nicht begreifen, daß ich damals so reagierte; aber ich muß es ihr glauben, wie ich ihr und der übrigen Gruppe die anderen Ungeheuerlichkeiten auch glaube.“ (2)

Als Ulrich Bach diesen Auszug aus seinem Buch vortrug war es ganz still im Saal. Nur einer lief unruhig vor ihm auf und ab und tippte nervös auf seine Armbanduhr. Pastor Ernst Springer, 18 Jahre Leiter der Evangelischen Stiftung Volmarstein bis Ende 2006.

Spätestens an diesem Tag des Abschieds von Ulrich Bach aus der Evangelischen Stiftung Volmarstein war bekannt, dass sie Dreck am Stecken hatte, der schon einige Jahrzehnte roch. Damals hieß die Einrichtung für behinderte Kinder, Jugendliche und erwachsene Menschen „Orthopädische Heil- Lehr- und Pflege Anstalten Volmarstein“. Aber neue Socken machen noch keinen gestylten Menschen und ein neuer Name keine neue Anstalt. In den Köpfen der Opfer schwirrten immer noch die Verbrechen, unter denen sie als hilflose Kinder täglich zu leiden hatten.

Eines Tages klingelte das Telefon. Am anderen Ende war Ulrich Bach: „Helmut, hast Du von dem neuen Buch von Peter Wensierski gehört?“, fragte Bach und fuhr fort: „Ich lese gerade einen Artikel dazu in ‚Unsere Kirche’[Kirchenzeitung der Westfälischen Landeskirche]“. Tatsächlich hatte ich über dieses Buch nur nebenbei und unkonkret erfahren, hörte aber hier und da, dass dieses Buch die Verbrechen in Erziehungsheimen aufgedeckt haben soll. „Bei Euch war doch auch so etwas“, fuhr Bach fort, „Willst Du nicht einen Leserbrief dazu schreiben?“ Ich weiß natürlich heute nicht mehr, was ich ihm erwiderte. Ich kann Bach auch nicht mehr wörtlich zitieren. Ein, zwei Tage später rief Ulrich Bach wieder an und fragte nach einem Leserbrief von mir. Ich gab ihm zu verstehen, dass ich dieses Kirchenblatt überhaupt nicht abonniere. Er sagte mir umgehende Zusendung zu. Zwei Tage später lag die Zeitung vor mir. Ich las den Artikel „Missstände nicht verharmlosen“ und im Untertitel, dass Vertreter der Diakonie auf die im Buch erhobenen Vorwürfe reagiert haben wollen. (3)

Da ich Vertreter der Diakonie kennengelernt habe, aus einer Zeit als Heimbeiratsmitglied, wußte ich: Wenn die Diakonie reagiert, dann kann da nichts Ordentliches bei rauskommen. Also flog die Zeitung in die Nähe meines Papierkorbes. Instinktiv versenkte ich sie dort nicht. ‚Irgendwann musst Du mal darein schauen’, dachte ich mir. Dieses Irgendwann war schon am nächsten Tag: „Hast Du die Zeitung gelesen, Helmut?“, fragte Bach und als ich seine Frage verneinte, drang er mich, dies doch unbedingt zu tun.

Jetzt hatte ich allerdings überhaupt keine Lust mehr, mich mit diesem schwarzen Kapitel der Volmarsteiner Anstalten auseinanderzusetzen. Zu viele Jahre sind inzwischen vergangen. Wer interessiert sich noch dafür?

Ulrich Bach. Er interessierte sich dafür und rief erneut an, fragte, ob ich meinen Leserbrief schon zu „Unsere Kirche“ gesandt hätte, gab mir noch die Fax-Nummer der Redaktion und ermunterte mich, doch jetzt bald tätig zu werden. ‚Wie kannst Du ihn abwimmeln, die Arbeit vom Tisch bekommen?’, fragte ich mich und mir kam eine gute Idee: Ich schreibe einen rotzfrechen Leserbrief. Der wird in solch einer Zeitung sicher nicht gedruckt. Und damit ist der Fall für mich erledigt.

Ich sollte mich gewaltig irren und habe noch heute das untrügliche Gefühl, dass Ulrich Bach wohl wenige Tage später die Redaktion in Bielefeld angerufen haben muss. Eines Tages erhielt ich Meldung von ihm: „Dein Leserbrief steht in der UK.“ (4)

Der Frage nachgehen wollend, um wieviel Prozent der Leserbrief zusammengestrichen wurde, fuhr ich zu einem Nachbarn und besorgte mir eine Fotokopie.

Bei Zeitungsmenschen ist es immer so: Sie wollen die Hoheit über die Zeilen behalten und das letzte Wort zu sagen haben. So war es anlässlich vieler hunderter Zeitungsartikel, die ich im Laufe meines Arbeitslebens verfasst hatte. Aber man lernt draus und der jeweilige Lokalredakteur auch. Nach einigen Kürzungsversuchen merkte die Redaktion: Da gibt’s eigentlich nichts mehr zu streichen. Und so feierte ich Triumphe als Schmalspurjournalist.

Der Leserbrief war drin und nicht nur das. Er wurde wortwörtlich übernommen. Ich erschrak sehr. ‚Jetzt hast Du ein Problem an der Backe’, dachte ich mir und ahnte nicht, dass aus diesem kleinen, frechen Leserbrief einmal die Aufarbeitung der Verbrechen an behinderten Kindern von Volmarstein entstehen sollte.

Zunächst reagierte der Sprecher der Evangelischen Stiftung Ernst Springer, gleichzeitig Pfarrer, ziemlich sauer und erklärte mir zwischen den Zeilen seines Gegenleserbriefes, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe. Dazu später mehr.

Die „Westfälische Rundschau“, hier der Lokalredakteur der Stadt Wetter, Klaus Görzel, las meinen Leserbrief und konfrontierte die Evangelische Stiftung damit. Springer wiegelte ab: „Den ein oder anderen Satan wird es auch unter den Diakonissen gegeben haben“. Springer weiter: „Aber in dieser Bündelung und als bestimmendes Bild ... das glaube ich nicht“. (5)

Wenige Wochen nach meinen Leserbrief versuchte Ernst Springer, an Fakten heranzukommen. Er erbat, mir schien fast weinerlich, Daten, Jahreszahlen, Namen und Funktionen sowie eine Auflistung der Vergehen und formulierte abschließend: „Ihnen persönlich erbitte ich, dass andere Lebens-Erfahrungen Ihr Leiden an der damaligen Zeit doch letztendlich verringern und eine versöhnte Zukunft schenken.“ (6)

Hat er meinen Leserbrief gar nicht gelesen? Ich selbst habe an keiner Stelle irgendein persönliches Leid attestiert. Mir ging es darum, auf die Verbrechen an allen Schulkindern aufmerksam zu machen.

(1) http://gewalt-im-jhh.de/Brief_Marianne_an_Ulrich_091208.pdf

(2) http://gewalt-im-jhh.de/Grobe_Unwahrheit_-_ESV-Leiter_/Bach_Buchauszug_Marianne.pdf

(3) http://gewalt-im-jhh.de/Wie_alles_begann_-_Presseberic/UK_9_-_040306.jpg

(4) http://gewalt-im-jhh.de/Wie_alles_begann_-_Presseberic/UK_12_-_190306.jpg

(5) http://gewalt-im-jhh.de/Wie_alles_begann_-_Presseberic/WR060406.jpg

(6) http://gewalt-im-jhh.de/Wie_alles_begann_-_Presseberic/Brief_Springer_230306.jpg

Fortsetzungen:

Teil 2: Die Beleidigung, die Lüge, der Zusammenbruch eines Opfers

Teil 3: Die „Volmarsteiner Erklärung“, einige erneute Lügen, Reaktionen

Teil 4: Gründung der Freien Arbeitsgruppe JHH 2006

Teil 5: „Ohne Öffentlichkeitsarbeit kräht kein Hahn nach uns“

Heimkinder, Gewalt, Johanna-Helen-Heim, Volmarstein, Orthopädische Anstalten Volmarstein, Evangelische Stiftung Volmarstein, Freie Arbeitsgruppe JHH 2006

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