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26. April 2014 6 26 /04 /April /2014 14:16

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider dozierte am 11. März 2014 auf einem Symposium von EKD und Evangelischer Polizeiseelsorge in Berlin über das Wächteramt der Kirche. [1]

Für Theologen ist das nicht weiter spannend, weil nicht neu.

Nicht-Theologen, auch nicht-Christen könnten fragen, ob ein Wächteramt der Kirche einerseits eine Anmaßung, vielleicht gar Bedrohung ist, und ob andererseits die Kirche die angemaßte Rolle tatsächlich ausfüllen kann und in der Vergangenheit ausgefüllt hat.

Ehemaligen Heimkindern könnte beim Stichwort Wächteramt auch noch die Wächterfunktion der Jugendämter einfallen. Doch das Thema Anmaßung will ich nicht vertiefen.

Interessanter erscheint mir ein anderer Zusammenhang. Wer etwas beansprucht, sollte Referenzen vorweisen können. Schneider erwähnt öffentliche Debatten, die auch in konkreter Wahrnehmung ihres kirchlichen Wächteramtes inspiriert waren. Sie hätten sogar unsere Kirche vor manche Zerreißprobe gestellt. Schneider erinnert an die Formulierung V in der Barmer Theologischen Erklärung[2]: »Sie (die Kirche) erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.«

Mit der Verkündigung des Evangeliums an »alle Welt« ist als Auftrag mit gesetzt, die Gebote in aller Welt zur Geltung zu bringen. …Wir sehen es als Aufgabe, in Auslegung des Dekalogs [10 Gebote] und in Aufnahme der Weisungen Jesu den Ordnungsrahmen des Gemeinwesens zu beschreiben. Unser Reden schöpft einerseits aus dem Kern der biblischen Botschaft und ist andererseits sachlich argumentierend. In diesem Sinne gibt es tief in der biblischen Überlieferung verwurzelte Grundentscheidungen, die für unsere ethische und politische Kultur prägend sind. Ich nenne nur die Stichworte: Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Schutz der Schwachen.1

Nun, da mag er ja Recht haben. Auch ich bin der Meinung, daß wir Christen den Auftrag haben, Gerechtigkeit und Menschlichkeit nicht nur zu praktizieren, sondern auch einzufordern und uns in den politischen Prozeß einzumischen, und dies auch dann, wenn es Nachteile bringt.

Doch wer mit diesem Anspruch fordert, sollte auch liefern. Dabei denke ich nicht an die Verbrechen in kirchlichen Erziehungseinrichtungen in der Vergangenheit. Die hat Schneider nicht zu verantworten. Ich denke an den Betrug an den ehemaligen Heimkindern in der Gegenwart. Entschuldigungsgestammel gab es – nach geraumer Anlaufzeit – zuhauf. Aber die Kirchen haben den ehemaligen Heimkindern jede Entschädigung versagt. Wo waren da Menschenwürde, Gerechtigkeit und Schutz der Schwachen?

Da blieb dann wohl allein die Rechtsstaatlichkeit, dank derer die Kirche sich mit der Verjährungseinrede aus der Bredouille ziehen konnte.

So wurde eine theologisch wie ideengeschichtlich interessante Vorlesung zum Wortgeklingel und damit zur Täuschung der Öffentlichkeit. Wächteramt in christlicher Verantwortung sieht anders aus.

[1] epd-Dokumentation 16/14 Polizeiseelsorge

[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Barmer_Theologische_Erkl%C3%A4rung

http://dierkschaefer.wordpress.com/2014/04/14/das-wachteramt-der-kirche/

 

Kommentar: Der Wolf als Schäfer?

Den Ausführungen von Dierk Schäfer ist nicht viel hinzuzufügen. Sieben Jahre wühlen im Sumpf haben mir eine Erleuchtung gebracht. Niemand hat mehr Wunden in die Psyche von Heimkindern gerissen, wie gerade die Kirchen. Als ihre Wächterfunktion gefragt war, haben sie kläglich versagt. Zunächst haben sie Aufgaben übernommen, denen sie nicht gewachsen waren. Sie haben den Anspruch erhoben, Kinder und Jugendliche zu erziehen, Behinderte zu beschulen und zu pflegen, Waisen und verstoßene Säuglinge zu umsorgen, psychisch kranken Kindern und Jugendlichen medizinischen und seelsorgerischen Beistand zu leisten. In allen Disziplinen haben die Kirchen versagt. Zum einen reichte das Personal ständig nicht aus, um diesen eklatanten Mangel zu kompensieren, haben die kirchlichen Anstaltsleiter die ihnen Anvertrauten zu Sklaven gemacht. Sie haben die Hausarbeit erledigen und für ihr Essen schuften müssen. Das Essen war in den meisten Einrichtungen ein unzumutbarer Schweinefraß, der sich vom Essen für die wenigen Angestellten dieser Einrichtungen deutlich abhob. Die nachträgliche Begründung des Mangels in den Nachkriegsjahrzehnten ist eine mehrfach widerlegte Lüge jeder Einrichtung.

Weil das Wächteramt der Anstaltsleitungen nicht wahrgenommen wurde, haben die Einrichtungen Wracks hinterlassen. Ehemalige Anstaltssäuglinge erfahren durch ihre Therapeuten, dass sie in grauer Vergangenheit Ablehnung erfuhren. Ehemalige "Erziehungszöglinge" sind heute psychisch und/oder physisch krank und haben keine Rolle mehr im gesellschaftlichen Leben spielen dürfen. Viele schliddern als gescheiterte Existenzen am Existenzminimum vorbei. Die in die Psychiatrie Zwangseingewiesenen und dort auch berechtigterweise Untergebrachten erzählen immer mehr, dass es ihnen unter kirchlicher Trägerschaft dieser Institutionen schlecht ging. Das Ausmaß der Misshandlungen ist längst noch nicht aufgezeigt und die Folgen werden erst in vielen Jahren dokumentiert sein. Bis in die 90er Jahre hinein haben Heime unter kirchlicher Trägerschaft immernoch ihre Wächteraufgabe nicht ausgeführt. Verstärkt kamen in den letzten fünf Jahren die sexuellen Misshandlungen an die Öffentlichkeit.

Nach erheblichem Druck durch die Öffentlichkeit, mit Hilfe des Internets, kamen immer mehr Verbrechen ans Tageslicht und die Politik wurde gezwungen, zu reagieren. Es wurde ein "Runder Tisch Heimerziehung" eingerichtet. Erneut haben die Kirchen ihr Wächteramt missbraucht, indem sie ihre Juristen am Tisch platzierten, die nicht etwa die Opfer bewachten und vor politisch gesteuerten Betrügereien schützten, sondern diese Opfer erneut quälten. Die Kirchenvertreter haben im Verein mit den anderen Juristen hilflose Opfervertreter übertölpelt und letztendlich zu Unterschriften erpresst, die verhängnisvoll die wahren Forderungen der Opfer vom Tisch fegten.

Selbst in den Gremien des Opferfonds, jetzt auch in denen des Fonds für Opfer sexueller Gewalt, haben sie ihre schmutzigen Finger und verlangen die totale Entblößung der Opfer. Damit demütigen sie diese erneut und verhindern zum größtenteil, dass die Opfer überhaupt Anträge stellen.

Was den Umgang der heutigen Rechtsvertreter der Anstalten mit den Opfern betrifft, ist zu beobachten, dass sie sich samt und sonders hinter den Beschlüssen des "Runden Tisches Heimerziehung" verschanzen und die Empfehlungen des "Runden Tisches sexueller Missbrauch" schlichtweg ignorieren. Dr. Christine Bergmann sieht nämlich die Anstalten in der Haftung.

Eine kleine, positive Einschränkung muss gemacht werden. Die Evangelische Stiftung Volmarstein leistet bisher unkonventionell Opferhilfe. Sie hilft mit beträchtlichen Geldern, die Auswirkungen der Heimzeit ihrer Opfer zu kompensieren. Aber das reicht nicht.

Das Wächteramt über ihre Opfer nehmen die Kirchen auch heute nicht wahr! Sie tun nichts, aber auch gar nichts, damit die damals Gequälten und Geschundenen nicht erneut ins Heim müssen; nun aufgrund ihres Alters oder zunehmender Behinderung. Anstatt mit wehenden Talaren vor den übergeordneten Sozialämtern Gelder für die Zukunftssicherung im häuslichen Bereich einzufordern, verkriechen sie sich auch weiterhin wie Wölfe, die ein paar Schrotkugeln ins Fell bekommen haben. Sie lecken ihre Wunden und hoffen, dass die Bevölkerung irgendwann vergisst und die Opfer aussterben. Wer nicht mehr lebt, hält endlich die Schnauze.

Die Hoffnung geht nicht auf, wenigstens nicht so schnell. Wenn das Internet frei bleibt, werden diese Verbrechen noch lange nachlesbar sein und die Kirchen noch Jahrzehnte an ihren damaligen Taten gemessen werden.

Wenn Nikolaus Schneider für die Evangelische Kirche immer noch das Wächteramt reklamiert, misshandelt auch er erneut die Heimkinder. Diesen Anspruch haben die Kirchen verwirkt. Sie sollten sich selbst kontrollieren lassen, weil sie immer wieder auf ganzer Linie versagen.

Evangelische Kirche, Nikolaus Schneider, Moral, Heimkinder, Heimerziehung, psychische Gewalt, physische Gewalt, sexueller Mißbrauch, Zwangsarbeit, Ausbeutung, Diakonie

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