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11. Januar 2010 1 11 /01 /Januar /2010 22:03
Immer wieder werden die Ehemaligen und ihre UnterstützerInnen gefragt: Warum
wird erst jetzt darüber geredet? Wie konnte es zu diesem langen Schweigen
kommen? Vor allem JournalistInnen wollen auf diese berechtigte und notwendige
Frage eine Antwort haben. Meine Antwort als Mitinitiator der „Heimkampagne“ der
„langen achtundsechziger Jahre“: Wir haben durch die Skandalisierung der
Heimerziehung einen wesentlichen Anstoß zur Reform der Kinder- und Jugendhilfe
gegeben, die in einem langen und schwierigen Prozess schließlich 1990/91 zum jetzt
geltenden Kinder- und Jugendhilfegesetz führte. In diesem Gesetz gibt es den
„unbestimmten Rechtsbegriff Verwahrlosung“ nicht mehr, mit dessen Hilfe seit seiner
Einführung im Preußischen Fürsorgeerziehungsgesetz von 1900 (und ähnlichen
Gesetzen in allen Bundesstaaten des Kaiserreichs) und schließlich im
Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 Millionen Kinder und Jugendliche in die
Öffentliche Erziehung gebracht wurden. Fürsorgeerziehung und die sogenannte
Freiwillige Erziehungshilfe, sowie die „Unterbringung“ mit Hilfe der §§ 5 und 6 des
Jugendwohlfahrtsgesetzes gibt es nicht mehr und die „Geschlossene Unterbringung“
als Regelpraxis und Schluss-Stein des Jugendhilfe-Systems des zwanzigsten
Jahrhunderts in Deutschland ist verschwunden.1 Das System wurde geändert – die
Opfer wurden vergessen; auch von mir und anderen AkteurInnen aus dem Spektrum
der Kritischen Sozialen Arbeit. Sie verschwanden in der Unauffälligkeit scheinbar
gelingenden bürgerlichen Alltagslebens oder im Knast und der Psychiatrie oder sie
schleppten sich mit den Folgen physischer und psychischer Misshandlungen von
einer Therapie in die andere. Manche sind aus Deutschland geflohen, weil sie mit
den Stigmata „Verwahrlosung“, „schwer erziehbar“, „Heimzögling“ beziehungsweise
„Fürsorgezögling“ in dieser Gesellschaft nicht leben konnten und wollten. Viele sind
gestorben, manche durch die eigene Hand. Allen gemeinsam war das Schweigen,
der Versuch, das Unsagbare zu verdrängen. Als Kinder und Jugendliche mussten sie
erfahren, dass man ihnen nicht glaubte, wenn sie um Schutz und Hilfe bettelnd – bei
Vormündern, SozialarbeiterInnen der einweisenden Jugendämter, LehrerInnen und
Pfarrern und – das war vielleicht am schlimmsten – bei Eltern und Verwandten,
sofern sie überhaupt die Möglichkeit dazu hatten – über das ihnen zugefügte Leid
reden wollten. Die tägliche Botschaft: Du bist nichts wert, aus dir wird nie etwas, du
bist ein Kinder der Sünde, Gott sieht alle deine Schlechtigkeiten, dir kann man nichts
glauben – diese umfassende Beurteilung als „VersagerIn“ – hat bei sehr vielen die
Entstehung von Selbstvertrauen verhindert und zu einer Scham geführt, die den
Mund verschloss. Auch gegenüber den Allernächsten im späteren Leben, den
Partnerinnen und Partnern in der Liebe, den eigenen Kindern, den FreundInnen und
KollegInnen und, um leben zu können, gegenüber der eigenen inneren Stimme der
Erinnerung. Selbst Geschwister, die gleichzeitig oder nacheinander in Heimen leben
mussten, haben „danach“ nie wieder miteinander „darüber“ gesprochen. Dieses
Schweigen der Opfer über Jahrzehnte hat das gesellschaftliche „Vergessen“ des an
ihnen begangenen Unrechts ungewollt erleichtert. Und noch eins: Die wenigen, die
sich nicht „zufrieden geben“ wollten, unterlagen regelmäßig auf dem langen Weg
durch die Instanzen und wurden immer wieder und weiter gedemütigt und
viktimisiert. „Es hat keinen Zweck, sich aufzulehnen – du musst dich anpassen und
schweigen, sonst kannst du nicht leben“ – das war die Maxime der Allermeisten.
In den zurückliegenden sechs Jahren haben sich bei JournalistInnen,
WissenschaftlerInnen, vor allem aber bei den Aktiven des 2004 gegründeten Vereins
ehemaliger Heimkinder e.V. um die zweitausend Ehemalige gemeldet. Nach jedem
Zeitungsartikel, nach jedem Beitrag im Fernsehen oder im Rundfunk, nach jeder
öffentlichen Veranstaltung trauen sich Weitere, Kontakt aufzunehmen. Viele
zunächst noch unter dem Vorbehalt der Verschwiegenheit. Die große Mehrheit der
noch Lebenden aus der von mir errechneten Zahl von circa 800.000 Mädchen und
Jungen, die in den dreißig Jahren von 1945 bis 1975 in Heimen leben mussten,
schweigt auch weiterhin. Die Verdrängung aufzuheben, sich mit der eigenen
Geschichte an die Öffentlichkeit zu wagen, ist ein riskantes Unterfangen.
Posttraumatische Reaktionen bis hin zu Panikattacken werden von Vielen, die den
Schritt gewagt haben, berichtet und auch dramatische Reaktionen im sozialen
Nahfeld sind nicht selten. Die Versuche, die lückenhafte und gebrochene Biografie
zu „rekonstruieren“, an die Jugendamts-, Vormundschafts- und Heimakte zu
kommen, die Orte des Schreckens aufzusuchen, mit ehemaligen PeinigerInnen zu
reden – diese ganze Erinnerungs-Arbeit ist besetzt mit Ängsten, kann zu
Verzweiflung und Depression, aber auch zu Aggression, zu Wut- und
Hassausbrüchen führen. Als im Dezember 2008 das Familienministerium versuchte,
den nach Jahren erstrittenen Bundestagsbeschluss in wesentlichen Punkten zu
unterlaufen (ich berichte weiter unten genauer über diese Vorgänge), kam diese Wut
und Verzweiflung in allen Medien, vom Internet bis zum TV, zu einem erschütternden
Ausbruch. Auf einen TAZ-Artikel gab es dreiundvierzig Äußerungen von Ehemaligen
im TAZ-Leserportal. Ein wahres Scherbengericht über die Ministerin von der Leyen.
Aber es muss nicht so bleiben, wie das Beispiel Irland zeigt. Gezwungen durch die
landesweite Empörung, die der Film über die „Unbarmherzigen Schwestern“
auslöste, musste die Irische Regierung eine Untersuchungskommission einrichten,
die für die zurückliegenden vier Jahrzehnte Fälle von körperlicher Misshandlung und
sexuellem Missbrauch untersuchen musste. Begleitend wurde ein Beratungsservice
für ehemalige Heimkinder eingerichtet. Innerhalb von knapp zwei Jahren meldeten
sich circa 15.000 Betroffene, die gegenwärtig vom Irischen Staat mit einer Milliarde
Euro und 128 Millionen Euro von der Katholischen Kirche entschädigt werden.
Es ist beschämend, wenn von Verantwortlichen der Kirchen und ihrer
Wohlfahrtsverbände, von Landesjugendämtern, Jugendministerien und der Politik
behauptet wird: Dass die Vorwürfe nur von vergleichsweise Wenigen erhoben
würden, zeige, dass es sich um „bedauerliche Einzelfälle“ handele, die von wenigen
untauglichen ehemaligen ErzieherInnen zu verantworten seie. Die ganz große
Mehrheit habe offensichtlich keinen Grund zur Klage und sei durch die
Heimerziehung und Fürsorgeerziehung in ihrer Entwicklung gefördert worden.
Die so argumentierenden reden wider besseres Wissen, denn es kann ihnen nicht
entgangen sein, dass Schweigen, Verdrängung und Scham bei den Opfern, die die
eugenische und rassistische Vernichtungspolitik des NS-Regimes überlebten, eines
der großen Probleme im individuellen und kollektiven Umgang mit ihren Erfahrungen
war. Das zeigte sich zuletzt bei der erst in den späten achtziger Jahren erfolgten
Anerkennung der Opfer der in Kooperation von SS und Jugendbürokratie (vom
Reichsinnenministerium bis hinunter zu den kommunalen Jugendämtern) errichteten
Jugend-Konzentrationslagern und der erst 1998 durch den Bundestag anerkannten
Opfer der Zwangssterilisierung als Verfolgte des NS-Systems. Es kann den so
Argumentierenden, zumindest wenn es sich um Professionelle der Kinder- und
Jugendhilfe handelt, auch nicht unbekannt sein, dass frühe traumatische
Erfahrungen aus Überlebensgründen ein Leben lang abgespalten werden und dass
die Gefahr post-traumatischer Reaktionen an der Schwelle des Alters und im Alter
groß ist, weil durch veränderte Lebensumstände (Ausscheiden aus dem
Erwerbsleben, Einsamkeit, Krankheiten, Angst vor Hilflosigkeit, Angewiesenheit und
erneuter Fremdbestimmung) und nachlassende psychische Kräfte die
Abspaltungsleistungen nicht mehr durchgehalten werden können. Wie oft habe ich
gehört. „Das ist doch eigenartig, dass diese Leute jetzt solche Behauptungen
aufstellen, wo sie doch offenbar jahrzehntelang einigermaßen gut gelebt haben, was
wollen sie damit erreichen?“


Prof. Dr. Manfred Kappeler in:
"Der Kampf ehemaliger Heimkinder um die Anerkennung des an
ihnen begangenen Unrechts"
http://www.gewalt-im-jhh.de/Kappeler-Kampf_ehemaliger_Heimkinder__um_Anerkennung.pdf


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