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1. September 2011 4 01 /09 /September /2011 20:59

Traumhaft

Veröffentlicht in heimkinder, Kirche, Theologie von dierkschaefer am 1. September 2011

Weit war der Weg und ich müde. Nur noch schlafen!

Eine Stimme weckte mich:

Nimm und lies!

Ich blickte um mich: Lauter würdige Herren, viele mit Talaren und langen Gewändern, Beffchen, Bischofstäbe, auch eine Tiara, einige Nonnen in ihrer Tracht, gold-blinkende Kreuze auf der Brust.

Nimm und lies!, wieder diese Stimme. Vor mir lag ein Buch, die Bibel, aufgeschlagen beim Evangelisten Markus.

Nimm und lies!

Und ich las, aber meine Stimme zitterte leicht angesichts der Gegenwart all dieser ehrwürdigen Männer und Frauen.

Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes.

 

Genug, sagte die Stimme. Was habt ihr mit den Kindern gemacht? Habt ihr sie zu mir kommen lassen?

Da erhob sich ein vielstimmiges Gemurmel. Aber ja! – Doch, doch. – Selbstverständlich. – Für die verlorenen unter ihnen, haben wir sogar Rettungshäuser gegründet. – Mit täglichen Andachten. – Sonntags Gottesdienst. – Biblische Unterweisung. – Wir haben nichts unversucht gelassen.

Genug, sagte die Stimme. Was sagen die Kinder?

Da stand plötzlich eine Reihe von gebeugten Gestalten. Eine nach der anderen trat hervor, straffte sich und sprach: Seid verflucht in Ewigkeit.

  • Die eine sagte: Ihr habt meine Mutter zur Hure erklärt, mich ein Kind der Sünde genannt und auch so behandelt. Seid verflucht!
  • Eine andere: Ihr habt vor unseren Augen geschlemmt und uns schlechtes Essen gegeben. Wenn wir erbrachen, habt ihr es uns wieder mit Gewalt reingezwängt. Seid verflucht!
  • Ihr habt mich bloßgestellt vor allen mit meinem durchnäßten Bettlaken. Seid verflucht!
  • Ihr habt uns in Eure scheinheiligen Gottesdienste gezwungen und uns den Namen Gottes verhaßt gemacht. Seid verflucht!
  • Ihr habt mich geschlagen und tagelang im dunklen Keller eingesperrt, obwohl ich noch ein wehrloses Kind war. Seid verflucht!
  • Ich mußte dich oral befriedigen. Sei verflucht!
  • Ihr habt mich ständig gedemütigt bis ich selbst glaubte, daß ich nichts tauge. Seid verflucht!
  • Ihr habt in mir Mißtrauen gegen jedermann gesät; das hat mein Leben verdüstert. Seid verflucht!
  • Ihr habt mich gezwungen, für Euch zu hart arbeiten, ohne Entlohnung. Seid verflucht!
  • Ihr habt mich im Moor malochen lassen und es zum Hohn Arbeitstherapie genannt. Seid verflucht!

Genug, genug, sagte die Stimme. Gibt es niemanden, der für diese Verfluchten eintritt.

Da sagte jemand: Doch, ich. Was all diese berichten, habe ich in meiner eigenen Familie erlitten. Sie haben mich dort rausgeholt, mir eine einfache Ausbildung ermöglicht und zeitweise hatte ich eine Nonne, die mich mochte, so wie ich es von meiner Mutter gewollt hätte.

 

Nimm und lies! Was sagt die Schrift?

 

Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf. Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer, da es am tiefsten ist.

So steht es beim Evangelisten Matthäus.

 

Ihr hättet es wissen können und müssen, sagte die Stimme.

Da erhob sich wieder ein Gemurmel, klagend-trotzig. Einige Stimmen stachen hervor.

Es tut uns in der Seele leid. – Wir haben uns öffentlich geschämt. – Wir haben uns vor Dir, HErr an Deinem Altar niedergeworfen und um Entschuldigung gebeten. – Wir haben Wiedergutmachung geleistet. – Eine von uns hat eine Versöhnungskommission geleitet und Vorschläge gemacht zu unserer Entlastung. – Wir haben immer wieder darauf verwiesen, vorher, und uns nachher dafür eingesetzt. – Wir haben alle auch dafür bezahlt. – Wir sind entschuldigt und also schuldlos.

Wie war das denn wirklich? fragte die Stimme.

Und wieder die anderen:

Ihr habt uns erst mißhandelt und dann betrogen. – Ihr habt nur an euren Geldbeutel gedacht, aber nicht an uns. – Ihr habt erst unser Leid nicht wahrhaben wollen, dann Betroffenheit gestammelt, aber unser Leid nicht gemindert. – Ihr habt euch an einem Runden Tisch die Mehrheit gesichert und uns über den Tisch gezogen. – Ihr habt uns unter Druck gesetzt. – Ihr habt die Reichen geschützt, die von unserer Zwangsarbeit profitiert haben. – Ihr habt euch geschützt, indem ihr das Verbrecherische Eurer gottlosen Taten nicht anerkennen wolltet. – Ihr habt auf Verjährung gepocht, doch unser Leid ist nicht verjährt. – Ihr habt uns das Leben vergällt bis hinein in den Lebensabend. – Den wir dann wieder in einer eurer am Profit ausgerichteten Einrichtungen verbringen dürfen.

Halt, halt, sagte die Stimme. Es langt.

Gibt es jemanden, der dieses vergibt?

Niemanden?

Dann nimm und lies, was ich Jesaja verkündigen ließ.

Der Text war mit gelbem Filzstift markiert, und ich las:

Gott hoffte auf Rechtsspruch, doch siehe da: Rechtsbruch, und auf Gerechtigkeit, doch siehe da: Der Rechtlose schreit.

 

Und donnernd fuhr die Stimme fort:

Wie des Feuers Zunge die Stoppeln frißt und wie das Heu in der Flamme zusammensinkt, so soll eure Wurzel verfaulen und eure Blüte wie Staub aufgewirbelt werden. Denn ihr habt die Weisung des Herrn der Heere von euch gewiesen.

Jemand rüttelte mich wach. Was ist mit dir, hast du geträumt?

O ja, muß ich wohl, sagte ich und dachte: Ausgerechnet mir muß das passieren, mir als liberalem Theologen.

Ich hielt meinen Kopf unter den Wasserhahn und war wieder in dieser Welt.

Nach dem Frühstück ein Mail: Soll und kann ich da mitmachen, schreibt ein ehemaliges Heimkind: Eine Veranstaltung der Evangelischen Kirche Deutschland. Der Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider und der Diakoniepräsidenten Johannes Stockmeier laden ein. Sie wollen die ehemaligen Heimkinder um Verzeihung bitten.

Na, so was.

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