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14. November 2012 3 14 /11 /November /2012 19:27

Holland 209

„Ich bin ein richtig glücklicher, ausgeglichener und zufriedener Mensch“, meinte Marianne Behrs im Februar dieses Jahres in einem langen Gespräch. Wenig zuvor hatte sie eine schwere Krebserkrankung mit großen Operationen überstanden und galt als tumorfrei. Heute Morgen, um 10 Uhr hat sie den Kampf gegen neue Tumore verloren. Ihr größter Wunsch ging jedoch in Erfüllung: Sie starb nicht einsam; ihre Assistentinnen hielten ihr die erkaltenden Hände bis zum letzten Herzschlag.

Glückliche Momente erlebte sie nur wenige in ihrem Leben. Das wussten nur ihre engsten Wegbegleiter. Schon ihre ständigen Hüftschmerzen wegen der orthopädischen Falschversorgung in ihrer Kindheit beeinträchtigten sie im täglichen Leben.

Um Mitternacht, am 17. Januar 1950, wurde sie in einer Straßenbahn geboren. Man brachte sie in das Aachener Klinikum. Marianne erzählte Jahrzehnte später: „Im Taufregister stand, dass ich am 19.03.1950 notgetauft wurde. Meine Paten waren zwei Schwestern, die im Klinikum Aachen arbeiteten. Eine davon habe ich später einmal aufgesucht. Über meinen Besuch war sie sehr erbost Sie hätte nichts mit mir zu tun und ich sollte mich bloß nicht noch einmal bei ihr melden.“

Kurz nach ihrem ersten Geburtstag wurde sie in ein Waisenhaus und im Januar 1956 ins Johanna-Helenen-Heim der Orthopädischen Anstalten Volmarstein, bei Hagen, verlegt. Marianne über den Tag der Einweisung: „Mein einziger Stolz und Besitz war eine kleine braune Handtasche. Den Pullover und auch die Hose nahm man mir gleich am ersten Tag ab. Hosen waren für Mädchen in dieser christlichen Einrichtung streng verboten. Ich durfte diese Sachen nie wieder tragen und war sehr traurig darüber. Statt dessen bekam ich alte, gebrauchte Anstaltskleidung. Selbst die schöne Unterwäsche nahm man mir ab. Noch mehr schmerzte es mich, dass man mir meine Handtasche abnahm. Auch diese habe ich nie wiederbekommen. Schnell machte man mir klar: „Du bist nichts, du hast nichts, und du kannst nichts!“ Und in einem Interview meinte sie über ihre Schulzeit: “Es waren die schlimmsten Jahre meines Lebens.“ 

Unter dem Lehrerpult musste sie kauern und wurde von schweren Füßen in orthopädischen Schuhen zusammengetreten, wenn sie sich regte. Meist stand sie in der Ecke links neben der Schultafel. Stockhiebe waren ihr tägliches Brot. Mittags der Schule entronnen, wurde sie von den frommen Schwestern malträtiert. Ihr Schamgefühl mit Füßen getreten, ihre geliebte Puppe auseinandergerissen. Der Tod ihrer kleinen Freundin Bärbel wurde ihr unbarmherzig brutal mitgeteilt: „Bärbel ist tot! Man musste ihr die Beine brechen, damit sie in den Sarg passt. Glaub ja nicht, dass du mit zur Beerdigung gehen darfst! Du kannst dich sowieso nicht benehmen!“ Das hat Spuren hinterlassen, wie auch die Zwangsarbeiten schon mit sieben bis zehn Jahren. Fünfzehn Nachttöpfchen musste sie zusammenschütten und zum Klo tragen. Ihr dabei besudeltes Kleidchen wurde nur alle vierzehn Tage ausgewechselt. Mit elf Jahren säuberte sie eine menstruierende junge Frau. „Jedesmal, wenn ich C. gewaschen und fertig angezogen hatte, spuckte sie mir zum Dank dafür ins Gesicht.“ Liebe und Sexualität wurden ihr als Schweinerei vermittelt: „Sieh dir nur die Schweine da unten an, wie die sich küssen! Mit spätestens 15 Jahren hast ein Kind und bist genau so eine Hure wie deine Mutter!!“ Ich könnte fortfahren, aber Marianne hat schon 1986 all diese Verbrechen und Boshaftigkeiten aufgeschrieben, als Beitrag zur Selbsttherapie. Auf der Homepage der „Freien Arbeitsgruppe JHH 2006“ sind diese und andere physische und psychische Vergewaltigungen nachzulesen.

Aus der Hölle entronnen, begann sie eine Ausbildung zur Schneiderin und sollte „in die Gesellschaft integriert“ werden. Ein unfähiger Psychologe meinte, die Gunst ihrer zukünftigen Arbeitskolleginnen für Marianne durch die Offenlegung ihrer Heimkindheit zu erreichen. Für Marianne ging der Schuss nach hinten los. Sie lernte, was Mobbing heißt. Eine Arbeitskollegin in ihrer Gegenwart: „Alle, die im Heim groß geworden sind, das sind sowieso Verbrecher. Zu Adolfs Zeiten hätte man so was wie die vergast.“ Als man sie dann noch für eine mögliche Erkrankung eines Ungeborenen verantwortlich machte, weil eine schwangere Arbeitskollegin sie berührte, schmiss sie das Bügeleisen durch den Raum und betrat ihn fortan nie wieder.

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Danach arbeitete sie in einem Autohaus in Gevelsberg, verursachte einen schweren  Unfall und musste dann auch darum ihre beruflichen Aktivitäten beenden, weil die orthopädischen Fehlbehandlungen im Johanna-Helenen-Heim sie immer mehr behinderten.

Nach ihrer kleinen Freundin Bärbel verlor sie ihre große Freundin Brigitte, die selbst mit ihrer Behinderung nicht fertig wurde und sich umbrachte. Ihr väterlicher holländischer Freund Theodor Pardoen, in dessen Ferienanlage sie manche Urlaubstage erlebte und zum ersten Mal Pommes mit Mayonnaise genoss, verstarb an Krebs und verkleinerte damit ihren Bekanntenkreis. Sie zog nach Gevelsberg, fand dort eine Wohnung direkt an einem Hang zum Friedhof. Ihre Nachbarin, zwanzig Jahre älter als sie und stark behindert, wurde ihr eine neue Freundin. Aber auch sie erkrankte an Krebs und bedurfte Mariannes pflegerischen Einsatz. Auch diesen Tod galt es zu verkraften. Neue Nachbarn zogen ein, die wohl Behinderte als Übel empfanden. Erneut wurde Marianne gemobbt und sie musste sich nach einer neuen Wohnung umschauen.

Anfang 2006 wurde Marianne erneut mit ihrer Kindheit konfrontiert. Ein Leserbrief eines Mitschülers stand in einer Kirchenzeitung. Sie las ihn in einer Arztpraxis und brach zusammen. Ulrich Bach, ihr Konfirmations-Pfarrer, stellte einen Kontakt zum Verfasser des Leserbriefes her und initiierte eine Arbeitsgruppe von Heimopfern und ehemaligen Mitarbeitern.

Und plötzlich hatte Marianne eine große „Familie“. Ehemalige Schulfreunde saßen mit ihr am großen Tisch, Kontakte zu ehemaligen Diakonenschülern und zu einer diakonischen Helferin wurden neu belebt und sie selbst in den Prozess der Aufarbeitung der Verbrechen im Johanna-Helenen-Heim eingebunden. Neue persönliche Freundschaften entstanden. 

Marianne Behrs und Schulfreund Wolfgang Möckel.

Mit Schulfreund und Arbeitskreismitglied Wolfgang Möckel

In der Siedlung „Am Hagebölling“, einer Häuseransammlung mit Wohnungen für Behinderte und Nichtbehinderte, fand sie ihre Traumwohnung, die ihr allerdings nicht bezahlbar erschien. Sie stellte beim Versorgungsamt für Westfalen einen Antrag auf Opferrente nach dem Opferentschädigungsgesetz. Zwei Jahre später erhielt sie den erlösenden Bescheid: 221 Euro Grundrente monatlich bis zum Lebensende und eine Nachzahlung für den Zeitraum ab Antragsstellung über 5900 Euro. Das Schicksal schien sich ihr freundlich zuzuneigen. „Endlich kann ich mir die Wohnung leisten“. Sie begann, schöne Möbel zu bestellen. Auf ihrem kleinen Tisch lag ein Prospekt mit „Käthe-Kruse-Puppen“ und in einer, nämlich in „Mimerle“, erkannte sie ihre zertrampelte Puppe wieder. Diese Puppe wollte sie bestellen.

Bescheid 051208 S2

Wieder wurde Marianne bitter enttäuscht. Nach einem gemütlichen Weihnachtsabend bei Freunden fand sie einen Brief im Postkasten: Der „Irrtumsbescheid“ des Versorgungsamtes. Plötzlich sollte sie keine Opferrente mehr erhalten. Heimlich versuchte der Landschaftsverband, die Nachzahlung zurückzubuchen. Neun Stunden wollte ihre Sparkasse ihr für eine Stellungnahme zu dieser Forderung einräumen. Gute Freunde verhinderten diese Rückbuchung und legten Protest beim Landschaftsverband ein. So durfte sie die Nachzahlung behalten.

Im Juli 2009, ein Filmteam des WDR drehte in der Wohnung des Gruppensprechers, stand ein Termin mit der Evangelischen Stiftung Volmarstein an. Der Arbeitskreis sollte über die Beschlüsse der Stiftung informiert werden und war beeindruckt: Ein neues Kinderheim soll den Namen eines Opfers tragen, den von Marianne Behrs. Als Verbindungsfrau zwischen ihren ehemaligen Mitschülern und der Stiftung sprach man ihr eine monatliche Aufwandsentschädigung zu.

„Nun wird alles gut; die Mietkosten sind gedeckt.“ Und trotzdem drückte eine Last auf Mariannes Schultern: Sie als Namensgeberin eines solchen Hauses, wo doch andere Kinder ebenso gelitten haben? Wochenlang beriet sie sich, schwankte zwischen Zustimmung und Ablehnung. Erst als sie spürte, dass die gesamte Arbeitsgruppe und viele neue Freunde diese Entscheidung begrüßen, stimmte sie zu und war zuletzt stolz auf „ihr Haus“.

Haus Ausschnitt

Ihr Verhältnis zur Institution Kirche war gestört. Im Zuge der Aufarbeitung der Gewalt unter kirchlichen Dächern verfolgte sie das Verhalten der evangelischen Kirchenspitze und der Diakonie. Zwar verehrte sie ihren inzwischen verstorbenen Konfirmations-Pfarrer, bewunderte den Mut eines anderen Pfarrers, der sich im Internet für die Heimopfer einsetzt, - aber den Umgang ihrer Kirche mit den Opfern empfand sie als abstoßend. So verweigerte sie noch in den letzten Tagen kategorisch Leistungen aus dem Opferfonds.

Im Herbst 2010 wieder ein Schlag: Eine Krebserkrankung wurde diagnostiziert. Der Fall schien das Ende ihres Lebens zu bedeuten. Und doch wagte man Anfang 2011 in Düsseldorf-Kaiserswerth einen operativen Eingriff, Bestrahlungen und eine Chemo-Therapie. Im Januar 2012 die gute Nachricht: Geheilt! Krebszellenfrei! Jetzt endlich wollte sie leben. Junge Assistentinnen wurden ihr zur Seite gestellt. Jetzt konnte sie ihren Haushalt bewältigen, Ausflüge genießen und ihren Erlebnis- und Erfahrungshorizont erweitern. In diesen Monaten sprach sie oft über ihre Glücksgefühle, ihre Ausgeglichenheit und Zufriedenheit. Eine Schiffsreise zum Nordpol wurde geplant, an Tagen, an denen die Sonne nicht untergeht. Ihre schweizer Freundinnen standen auf ihrem Fahrplan und die Lebensfreude eroberte sie zurück. Im September, im Urlaub mit Freunden, spürte sie eine große Erschöpfung nach jedem kurzen Spaziergang. Vier Wochen später traf sie der nächste schwere Schlag: Die Metastasen sind wieder da, in anderen Körperregionen und größer als je zuvor. Ende Oktober wurde sie ins Krankenhaus eingewiesen und die Ärzteschaft schwankte zwischen Therapieplan und dem Befund: austherapiert.

Zuletzt ahnte auch Marianne, dass sie den Kampf verloren hat. Jetzt trieb sie die Frage um, ob sie schmerzfrei und in ihrer Wohnung sterben dürfe. Zwei Assistentinnen haben sich liebevoll um sie gekümmert. An ihrem Krankenbett klingelte unentwegt das Telefon, und gute Freunde munterten sie auf. Noch wichtiger waren die Gespräche direkt am Krankenbett: Du stirbst nicht einsam. Deine Assistentinnen halten dir die Hand. Und so schlummerte sie zuletzt schmerzlos in den Tod hinein.

Marianne Behrs - Lebenslust

Wie soll ich Mariannes Lebensweg zusammenfassend beschreiben? Soeben rief ihre Schulfreundin Roswitha an: „Marianne war immer vom Schicksal gebeutelt.“

Helmut Jacob

13. November 2012

http://gewalt-im-jhh.de/Erinnerungen_MB/erinnerungen_mb.html

http://www.readers-edition.de/2012/02/14/%E2%80%9Eich-habe-gott-sei-dank-die-leute-nicht-hassen-mussen-die-mir-das-angetan-haben%E2%80%9C-%E2%80%93-marianne-behrs-im-interview-teil-1/

http://www.readers-edition.de/2012/02/14/%E2%80%9Eich-bin-ein-richtig-glucklicher-ausgeglichener-und-zufriedener-mensch-%E2%80%9C-%E2%80%93-marianne-behrs-im-interview-teil-2/

http://www.gewalt-im-jhh.de/hp2/Aktion_KK_-_kuscheliges_Kinder/aktion_kk_-_kuscheliges_kinder.html

Heimkinder, Gewalt, Johanna-Helenen-Heim, Marianne Behrs, Volmarstein, Evangelische Stiftung Volmarstein, Evangelische Kirche, Diakonie

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