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22. August 2013 4 22 /08 /August /2013 22:35

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Wie „Mimerle“ zu Marianne kam

Das Versagen des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe in Münster
Kapitel 1: Zerplatzte Träume

Es waren drei bewegende Monate, der November und Dezember 2008 und der Januar 2009. Fangen wir ganz von vorne an. Im August 2006 bildete sich die „Freie Arbeitsgruppe Johanna-Helenen-Heim 2006“ (FAG JHH 2006). In dieser Gruppe fanden ehemalige Heimkinder der Orthopädischen Anstalten Volmarstein und ehemalige Mitarbeiter zueinander, um die zwei grausamen Nachkriegsjahrzehnte, die körperbehinderte Klein- und Schuldkinder als wahre Hölle empfanden, aufzuarbeiten. Verbrechen in allen Facetten erlebten die Jungen und Mädchen und Marianne Behrs in besonderer Intensität. Das Ergebnis der Aufarbeitung ist auf der Homepage der Arbeitsgruppe dokumentiert.

Marianne stellte sofort nach Gründung der Arbeitsgruppe einen Antrag auf Opferrente nach dem Opferentschädigungsgesetz. Darin schilderte sie all das Leid und die vielen Verbrechen, unter denen sie leiden musste, weil sie als Waisenkind völlig hilflos sadistischen Schwestern und Lehrerinnen ausgeliefert war. Ihre Erlebnisse hat sie für die Homepage ausführlich geschildert.

Eine Ärztin des Versorgungsamtes - die zuständige Behörde für die Umsetzung des Opferentschädigungsgesetzes, die beim Landschaftsverband Westfahlen-Lippe in Münster angesiedelt ist - besuchte Marianne zuhause und befragte sie nach ihren Kindheitserlebnissen. Zwei Jahre nach Antragsstellung hatte Marianne Grund zum Jubeln: Ihr Antrag wurde genehmigt. Welch ein schöner Tag für sie! Sie flehte mich geradezu an, sie sofort in Gevelsberg zu besuchen und das Glück mit ihr zu teilen. Es war auf drei Seiten dokumentiert: „Ich gewähre Ihnen ab 01.11.2006 Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz ...“ steht es da und Marianne bekam Schwarz auf Weiss bestätigt: „Sie sind Opfer von Gewalttaten geworden.“

Ab 01. Januar 2009 sollte sie 221,00 € monatliche Grundrente erhalten und als Nachzahlung 5.700,00 €. Während wir uns gemeinsam freuten, sah ich auf ihrer Anrichte im Wohnzimmer einen kleinen Katalog mit Puppen von Käthe Kruse. Marianne zeigte mir die vielen Fotos und tippte mit dem Finger aufgeregt auf die Puppe mit der Bezeichnung „Mimerle“. „Diese Puppe werde ich mir von der Nachzahlung kaufen“, strahlte Marianne „sie sieht aus wie meine Beate, die von Schwester Elise zertreten wurde.“ Damals hielt sie eine Puppe im Bett versteckt, die sie in einem Weihnachtspaket, an sie, dem Waisenkind adressiert, erhielt. Diese Puppe wollte sie nicht hergeben, auch nicht für Kinder in der DDR. Üblicherweise kassierten die Schwestern jedes Jahr die Geschenke ein und schickten sie als Spende in die damalige „Ostzone“.

Also versteckte Marianne ihre neue Puppe, in die sie sich augenblicklich verliebte, unter ihrer Bettdecke, um in der Nacht mit ihr zu kuscheln. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, Marianne die Bettdecke vom Leib gerissen, ihr die geliebte Puppe entrissen und an den Beinen auseinander gerissen. Der Kopf blieb zunächst unverletzt, und so schmiss die Diakonisse Elise die Puppe auf den Fussboden und trampelte so lange auf dem Kopf herum, bis er in viele Stücke zerbrach.

Diese neue Puppe „Mimerle“ sollte ein Stück Therapiewerkzeug für sie sein. Sie war wegen der „Hölle von Volmarstein“ in psychologischer Behandlung. So erlebte Marianne eine glückliche Adventszeit. Sie rief ihre Freundinnen an und erzählte von ihrem großen Sieg.

Zerplatzte Träume

Heiligabend und Weihnachten verbrachte Marianne bei guten Freunden, die sie mit Gründung der Arbeitsgruppe kennengelernt hatte. Es waren für sie besonders schöne Tage, weil sie vorher oft nur mit ihrer behinderten Freundin, einer alten Dame aus der Nachbarswohnung, zusammen sein konnte und ihr offensichtlich so etwas wie eine Ersatzfamilie, wenigstens aber Ersatzgeschwister fehlten. Die hatte sie nun gefunden und sie genoß jede Stunde in vollen Zügen.

Abends brachte ihre neue Schwester Anette sie heim und schon eine halbe Stunde später klingelte das Telefon. Eine völlig aufgelöste Marianne erzählte von einem Brief, der erst unter ihrer alten Adresse zugestellt war, dort aber keinen Empfänger fand. So landete der Brief – wahrscheinlich von ihrer ehemaligen Nachbarin über Weihnachten eingeworfen – in ihrem aktuellen Briefkasten. Im Laufe des Antragsverfahrens hatte Marianne nämlich eine neue „Traumwohnung“ gefunden.

„Stellt euch vor, die wollen wirklich das Geld wiederhaben“, rief Marianne, „und sie wollen es direkt vom Konto zurückbuchen!“ Sie dachte zunächst, das alles wäre ein Irrtum.

Schon Tage vorher meldete sich ihr Gevelsberger Geldinstitut: Binnen neun Stunden solle Marianne entscheiden, ob sie mit dem Abbuchungsversuch des Landschaftsverbandes einverstanden sei. Dieser wolle 1.887,00 € rückbuchen. Schon dieser Anruf hatte sie zunächst völlig fertiggemacht. Aber das Problem schien behoben. Ich schrieb in ihrem Namen einen ziemlich ernsten Brief an ihr Geldinstitut: „Gegen diese Überweisung protestiere ich hiermit auf das Schärfste. Gelder, die auf meinem Konto liegen, sind mein Eigentum. Ich verwehre mich dagegen, daß von meinem Konto ohne meinen Auftrag Geld abgebucht wird. Ich habe keinerlei Benachrichtigung von dem LWL erhalten, die Sie berechtigt, das Geld abzubuchen.“

Ihr Konfirmator Ulrich Bach telefonierte sofort mit der Bank und legte Protest ein. Der Brief wurde noch am gleichen Abend des Anrufes der Bank etwa jede Stunde per Telefax und per E-Mail zugesendet. Niemand sollte behaupten können, von dem Widerspruch nichts erfahren zu haben. Die Rückbuchung unterblieb. Zwar stand immer noch im Raum, was mit den 1.887,00 € wird, aber immerhin waren ja bereits fast 6.000,00 € auf dem Konto und darum der Verlust nicht zu schmerzhaft. Marianne hatte nämlich schon neue Möbel bestellt und kam mit der Nachzahlung so gut aus, dass noch etwas Geld für „Mimerle“ übrig war.

Wie schon erzählt, verbrachte sie den Heiligabend und ersten Weihnachtstag bei ihrem alten Schulfreund und seiner Freundin Anette. Nach ihrer ersten Begegnung mit Anette nahm diese sie unter ihre Fittiche und gliederte sie in ihre Familie ein. Diese war dann auch am ersten Weihnachtstag dabei; drei Neffen, ihr Bruder mit Ehefrau und die Tante aus Iserlohn. Und so saßen wir um einen großen Tisch herum. Marianne genoß das lange Frühstück und das schöne Festmahl, das auch ein wenig auf ihre Bedürfnisse und Wünsche zusammengestellt war. Speck- und Fettränder waren absolut tabu. Davon mussten die Kinder, denen dieses ekelig zubereitete Fleisch bei zugedrückter Nase hereingeschaufelt wurde, immer erbrechen. Und das Erbrochene mussten sie, egal, ob vom Tisch oder vom Fußboden, erneut essen. So gab es zartes Fleisch, denn auch Fisch in allen Variationen war ihr ein Gräuel. Abends wurde sie heimgebracht und ihr erster Weg war der zu ihrem Briefkasten.

Dieser Brief war ein „Änderungsbescheid“: “Der Verwaltungsakt vom 05.12.2008 war jedoch bereits im Zeitpunkt seines Erlasses insoweit rechtswidrig im Sinne von § 45 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X), als bei seiner Erteilung das Recht unrichtig angewandt und die Härteregelung des § 10a OEG nicht beachtet wurde.“ ... „Die in der Zeit vom 01.11.2006 bis zum 31.12.2008 zuviel bezahlten Versorgungsbezüge in Höhe von 5.301,22 Euro (5901,22€ ./. 600,00€) sind von Ihnen gemäß §50 ... SGB X zu erstatten. Zur Vermeidung einer Überzahlung der Versorgungsbezüge wurde dieser Betrag von Ihrem Konto zurückgefordert.“ Es wurde Marianne klar: Jetzt will der Landschaftsverband fast die gesamte Nachzahlung zurückkassieren.

Es wäre zu ausschweifend, zu schildern, wie Marianne letztendlich nach monatelangem Schriftwechsel mit dem Landschaftsverband diese Nachzahlung doch noch behalten durfte. Professor Hans-Walter Schmuhl, der sie interviewte, D. Ulrich Bach, ihr Konfirmator und ich als Sprecher der „Freien Arbeitsgruppe JHH 2006“ haben sofort reagiert.

Im Dezember war allerdings zunächst klar: Das Geld geht wieder weg. Und was wird aus den vielen Bestellungen? Aus ihren neuen Möbeln für die schöne neue Wohnung? Kann sie die Kaufverträge stornieren? In dieser Zeit brauchte Marianne viel Beistand und ihre Puppe Mimerle verschwand in weite Ferne.

Am 19. Januar des Folgejahres stand ihr Geburtstag an. „Kümmere dich um die Puppe“, meinte Anette zu mir, „egal, wie.“

Demnächst Kapitel 2: Mimerles Weg zu Marianne

 

Heimkinder, Heimopfer, Johanna-Helenen-Heim, Orthopädische Anstalten Volmarstein, physische Gewalt, psychische Gewalt, sexueller Missbrauch, Landschaftsverband Westfalen Lippe

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