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13. Oktober 2009 2 13 /10 /Oktober /2009 16:44

Prof Dr. Manfred Kappeler

Vortrag auf der Tagung der Diakonie in Niedersachsen: "Verantwortung fürdas Schicksal früherer Heimkinder übernehmen" am 7. Oktober 2009

Die Erziehungspraxis in Heimen der Jugendhilfe in der Nachkriegszeit oder zum Verhältnis von struktureller und personaler Gewalt in der Heimerziehung

Die Binnenorganisation der meisten Heime - vom Säuglings- bis zumFürsorgeerziehungs-heim - kann man mit Goffman als "Totale Institution" beschreiben, die ein System struktureller Gewalt ist. Dieses System drängt die in ihm Lebenden - das Personal und die Kinder und Jugendlichen - zu gewaltförmigem Handeln. Es entsteht eine Hierarchie von Stärkeren und Schwächeren, die die sozialen Beziehungen bis ins Detail regelt. Goffmans Befund, dass das Leben der "Insassen" in den Totalen Institutionen hauptsächlich von der Aufrechterhaltung der fremdbestimmten Binnenorganisation dieser Institutionen bestimmt wird, trifft für den Erziehungsalltag in den meisten Heimen der Jugendhilfe der vierziger bis siebziger Jahre in jeder Hinsicht zu:

Die Verantwortung für die strukturelle Gewalt in Heimen lag beim Träger der Einrichtung, bei der Heimleitung und bei der staatlichen Heimaufsicht.
Für den einzelnen Erzieher/die einzelne Erzieherin ist es schwer, dieses System, zu dem sie selbst gehören, zu durchschauen und den von ihm ausgehenden Druck auf das eigene pädagogische Handeln zu widerstehen. Dazu einige Bespiele: In einer Sendung des Deutschlandfunks am 22. Januar 2009 (Hintergrund Politik, 18.40 Uhr bis 19 Uhr) wurde auch auf die Situation der Erzieherinnen in den Heimen eingegangen. Ich zitiere:
"Das System Heimerziehung funktionierte nur, indem auch Mitarbeiter, die andere Vorstellungen von, Fürsorge’ hatten, gebrochen wurden. Dietmar Krone erzählt, wie junge freundliche Erzieher sehr schnell, von heute auf morgen, verschwanden. Und Hans Bauer hat in seinen Ermittlungen auch mit ehemaligen Mitarbeitern in Heimen gesprochen, unter anderem mit einer heute Siebzigjährigen, die Anfang der sechziger Jahre in einem Heim für Mädchen tätig war. Sie erzählt, dass sie morgens, Unruhe in der Gruppe hatte und dann kam der Pastor, der der Leiter dieser Einrichtung war, und hat das moniert und hat dann ihre Hand genommen und gesagt: Und diese Hand kann hier keine Ruhe schaffen? Dann hat er dem Mädchen, das da ein bisschen laut war, einen Pantoffel ausgezogen und es kräftig zusammengeschlagen, dass das Mädchen wimmernd auf dem Boden lag, hat einem anderen Kind befohlen, einen Eimer kaltes Wasser zu holen, hat das Wasser über das Kind gekippt und hat die junge Erzieherin angeguckt und gesagt: Und das konnten Sie nicht?"

Ehemalige Erzieherinnen und Erzieher haben mir berichtet, dass sie gegen ihre pädagogische Überzeugung und ihre ethischen Norme bereits nach wenigen Monaten ihrer Arbeit im Heim angefangen haben, Kinder zu schlagen. Ich zitiere aus dem Bericht einer Ordensschwester:
"Ich habe als junge Nonne Heime gesehen, in denen kleine Kinder untergebracht waren, ausgestoßen und allein gelassen. Ich war damals erschüttert, und ich schwor bei Gott, dass ich diesen Kindern helfen wollte. Sie sollten sich im Heim wohl fühlen, das Heim sollte für sie ein Zuhause sein. Ich wollte ihnen helfen, im Namen Gottes, im Namen der christlichen Nächstenliebe. Bei meinen Besuchen in Katholischen Heimen habe ich Nonnen und weltliche Erzieher erlebt ( ... ) Ich sprach damals mit ihnen, bevor ich selbst im Heim arbeitete. Sie redeten alle von Nächstenliebe, aber ich hatte den Eindruck, dass sie davon nur redeten und gerade das Gegenteil von dem praktizierten: Sie schlugen aus nichtigen Anlässen auf kleine Kinder ein oder verhängten Strafen. Sie waren einfach sehr autoritär, und was mir besonders auffiel:
Sie waren alle fast nicht in der Lage, Kinder wirklich zu lieben!
Als ich dann selbst im Heim arbeitete, wollte ich nicht dieselben Fehler machen. ( ... ) Doch schon bald hatte ich meinen Vorsatz aufgegeben Ich verhielt mich den Kindern gegenüber ebenso wie die anderen Nonnen. Auch ich fing an, Kinder zu schlagen, zu bestrafen, sie mit Sanktionen zu belegen. Und ich wusste - wie alle Nonnen und Erzieher auch - dass die Kinder sich nicht wehren konnten. Sie waren uns, unseren Launen, unserer Macht hilflos ausgeliefert. Wir haben alle bei den Kindern eine große Angst verbreitet. Die Angst beherrschte ihre Seele und ihren kleinen Körper und ihr junges Leben. Ich hatte geglaubt, diese Mittel einsetzen zu dürfen, weil ich mit der ganzen Situation nicht mehr fertig wurde. Wir konnten nicht anders; wir hatten einfach keine anderen Möglichkeiten, ihnen zu helfen, wir hatten ja auch keine pädagogische Ausbildung. Wir dachten: Wenn wir die Kinder einer strengen religiösen Erziehung unterwerfen, so wäre das tatsächlich die beste Hilfe, die man ihnen zuteil werden lassen kann. Doch ich muss sagen: Ich war wie alle anderen Nonnen und Erzieher einem großen Irrglauben, ja einem Wahnsinn verfallen. Wir alle glaubten, dass das die beste Erziehung ist. Wir dachten uns nichts dabei, die Kinder streng anzufassen, auch mal zuzuschlagen, sie zu irgendetwas zu zwingen. Wir haben den Kindern immer wieder gesagt, dass wir sie im Namen von Jesus Christus erziehen und ihnen helfen wollen. Doch in Wirklichkeit haben wir - auch wenn diese Erkenntnis schmerzlich ist! - gegen diese christlichen Grundsätze verstoßen. Wir sind nicht auf die Kinder zugegangen wie Menschen, sondern wir haben sie innerlich irgendwie abgelehnt ( ... )
Das Heim, in dem ich arbeitete, war ein katholisches Heim. Gott war das Fundament der Erziehung! ( ... ) Durch die Drohung mit Gott hatten wir die Kinder unter Kontrolle, auch ihre Gedanken und Gefühle. Ist das nicht das Ziel jeder konfessionellen Erziehung, jedes konfessionellen Heimes? (. .. )

Erst vor kurzem hatte ich wieder einen dieser Träume: Ich sah wieder, wie ich einen etwa sieben Jahre alten Jungen bei der Selbstbefriedigung erwischte. Ich war außer mir und stellte ihn zur Rede. Doch das Kind begriff nichts. Meine Wut wurde immer größer, und ich zog ihn an den Haaren in den Duschraum. Dort habe ich kaltes Wasser in eine Wanne einlaufen lassen und den Jungen mit Gewalt dort hinein gezerrt und ihn viele Male untergetaucht (.) Ich erinnere mich an einen anderen Traum, der ebenfalls ein wirkliches Erlebnis in Form von schrecklichen Bildern für mich lebendig werden ließ. Ein Kind schrie, weil es von einem anderen Kind geschlagen wurde Ich konnte dieses Schreien nicht mehr ertragen, brüllte es an. Doch das Kind schrie weiter. Ich fasste ihn am Kopf und schlug ihn mehrmals gegen die Wand. Auf einmal hatte ich Blut an den Händen, und ich erschrak. Ich sah das Kind an. Das Kind zitterte am ganzen Körper und lief davon. Es sind schreckliche Szenen, ich weiß. Doch was hilft das denn heute noch den Betroffenen - nichts! ( ... ) Wir haben viele Fehler gemacht. Es war für die Kinder teilweise eine furchtbare, grauenhafte Zeit; es war ein großes Vergehen ihnen und Gott gegenüber. Ein Kind sagte einmal zu mir: Der liebe Gott wird Sie für alles, was Sie uns angetan haben, sehr schwer bestrafen.' Damals ballte ich meine Hand zu einer Faust zusammen und schlug dem Kind ins Gesicht. Heute weiß ich, was das Kind mir mitteilen wollte! ( ... ) Ich bin nicht sicher, ob ich wirklich weiß, was es für ein Kind bedeutet, überhaupt in einem Heim leben zu müssen und dann noch unter solchen schlimmen Bedingungen. Ich kann es, wenn überhaupt, nur erahnen. Dass wir die Kinder zu keinem Zeitpunkt geliebt, sondern gehasst haben, stimmt so nicht ganz. Ich jedenfalls habe sie trotz allem geliebt. Ich habe versucht, in christlicher Nächstenliebe zu handeln. Ich kann mir nicht anderes vorwerfen als das, überhaupt in einem Heim gearbeitet zu haben. Vielleicht war das aber keine Liebe, sondern doch Hass. Und wenn mir heute Kinder von damals in meinen Träumen begegnen, weiß ich: Sie müssen sehr viel unter unserer Gewalt gelitten haben!" (aus: Homes, Alexander Markus [1984]. Frankfurt am Main)
Wie dieser Nonne geht es anderen Erzieherinnen und Erziehern, die mir berichtet haben, dass sie noch heute, nach Jahrzehnten, in Albträumen von den Bildern ihrer Gewalttätigkeit gegenüber Kindern und Jugendlichen gepeinigt werden. In der Anhörung des Petitionsausschusses berichtete ein Petent über ein Gespräch mit einem seiner ehemaligen Erzieher. Dieser hatte ihm gesagt:
"Die Gesamtheit musste ja funktionieren, sonst waren da sehr schnell chaotische Zustände, die man zu verhindern hatte. Wenn man als Erzieher einen Ruf hatte, bei dem geht es drunter und drüber, das war ein schlechtes Image für einen selber, von daher stand man schon unter dem Zwang, in seiner Gruppe Ordnung zu haben, und das ließ sich bei der Masse von Kindern oft nur mit Gewalt durchsetzen. ( ... ) Ich sage heute, ich habe mich schuldig gemacht, das tut mir heute noch weh, die Jahre, die man da Menschen misshandelt hat, aber als eigene Entlastung kann man sagen:
Es war damals in der Zeit noch so, und die Zustände waren einfach heillos. Was da für Deformierungen von jungen Menschen passiert ist, das kann man nicht wieder gutmachen, das ist schuldhaft, nur dass man es nicht als Schuld einsieht von den Mitarbeitern, die dieses System verkörpert haben, das wird heute noch nicht als Schuld gesehen, ich persönlich muss sagen Ich sage mir manchmal, was sind wir doch für erbärmliche Leute gewesen, dass wir so reagieren mussten. Man hätte ja auch auf die Barrikaden gehen können"
Dieser Erzieher bezeichnet die Erziehungspraxis in den Heimen als "Kasernenhof-Pädagogik".

Das pädagogische Personal in den Heimen war, wie diese Beispiele zeigen, von dem System der strukturellen Gewalt selbst betroffen. Dennoch wird die ethisch-moralisch begründete Verantwortung für das eigene Handeln gegenüber den Kindern und Jugendlichen durch die strukturelle Gewalt der Heimorganisation nicht aufgehoben. Dr. Carlo Burschel, selbst ein ehemaliges Heimkind, schreibt in einem unveröffentlichten Positionspapier "Kinderheime in der Nachkriegszeit" (August 2009): "Es geht um zwei Kategorien des Versagens und der Schuld: einerseits um das persönliche Versagen, die persönliche Schuld einzelner Pflegekräfte und sogenannter Erzieher. Andrerseits um ein Versagen der von Staat und Kirche konzertiert implementierten Organisationsstrukturen der Jugendhilfe in der Nachkriegszeit. ( ... ) Beide Kategorien hängen unzweifelhaft zusammen, sind aber nicht nur aus analytischen Gründen zuerst getrennt zu betrachten. Die simple ,Gleichung': Struktur (der Jugendhilfe, der Heime) bestimmt Verhalten (der Pfleger, Erzieher) ( ... ) abstrahiert völlig von den individuellen Handlungsspielräume der Erzieher, die gerade bei kirchlicher Trägerschaft von besonderer Empathie, das heißt christlicher Moral und Ethik im Einzelfall hätten geprägt sein müssen."
Dafür, dass aus den Kindern und Jugendlichen statt Anvertrauten Ausgelieferte wurden, bleibt jeder Erziehende in ungeteilter Verantwortung. Den "Befehlsnotstand" gibt es nicht. Aus der Sicht und den Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder sind ihre ehemaligen Erzieherinnen diejenigen, die sie demütigen, strafen und in vielen Fällen misshandelt und missbraucht haben. Sie haben sich schuldig gemacht und müssen die Verantwortung dafür übernehmen, obwohl sie selbst auch Opfer des Systems struktureller Gewalt wurden, in dem sie gearbeitet haben. Aber im entscheidenden Unterschied zu den Kindern und Jugendlichen waren sie freiwillig im Heim, hätten sich, auch wenn das sehr schwer war und Demut beziehungsweise Zivilcourage erforderte, den Nötigungen zu einer gewaltförmigen Erziehungspraxis widersetzen können. Sie hätten versuchen können, diese Praxis zu ändern und ¬wenn dies angesichts der übermächtigen strukturellen Gewalt aussichtslos erschien - gehen können und ihre Erfahrungen öffentlich machen können. Dass dies möglich war, haben Einzelne zu jedem Zeitpunkt der Geschichte der Heimerziehung bewiesen.

Welche Auswirkungen die Binnenorganisation der Heime auf die in ihnen lebenden Kinder und Jugendlichen hatte, habe ich 1970 in einer Studien zur Reform der Heimerziehung untersucht, die unter anderem auf meinen eigenen Erfahrungen als junger Sozialpädagoge in der Heimerziehung der Jahre von 1960 bis 1968 beruhte:
"In den Heimen der Bundesrepublik ist das ,Disziplinarsystem' am weitesten verbreitet. Fast alle Fürsorgeerziehungsheime fallen unter diese Kategorie. Das Disziplinarsystem zeichnet sich durch eine offen autoritäre Struktur aus, die auch den Erziehungsstil des einzelnen Erziehers dominiert ( ... ). Starre, festgelegte Ordnungsprinzipien und ein hierarchisch gegliedertes Beziehungssystem, angefangen bei den Kindern und Jugendlichen in den Gruppen bis hin zum Direktor, bestimmen den Rahmen des Heimlebens und alle zwischenmenschlichen Beziehungen. In der Regel handelt es sich um geschlossene Einrichtungen. In den totalen Zwangsgruppen - hier ist den ,Zöglingen' die Entscheidung über Eintritt und Verlassen sowie die Selbstbestimmung über den Bewegungsraum im Inneren des Heims genommen - führt der blinde, nicht bewusst geleitete Gruppenprozess zwangsläufig zur Etablierung der berühmten ,Hackordnung', das heißt zur Durchsetzung des Rechts des Stärkeren. Die Gruppendynamik erzeugt regelmäßig die Herausdifferenzierung von Sündenböcken und anderen problematischen Rollen (z.B. Prügelknabe, Versager, Gruppenclown, Dienstmädchen, Hilfssheriff etc.) mit stellvertretenden Entlastungsfunktionen. Die in dieser Gruppenstruktur verstärkt entstehenden Aggressionen können nicht an die autoritäre Leitung, durch deren Führungsstil sie zum Teil provoziert werden, zurückgegeben werden. Zwangsläufig breiten sich diese Aggressionen auf der horizontalen Ebene unter den, Zöglingen’ aus, mit einer die Gruppenatmosphäre vergiftenden Intensität. Ständige Gereiztheit der Gruppenmitglieder, feindselige Haltungen gegeneinander, ausgeprägte Unlustgefühle und depressive Verstimmungen sind Symptome und Folgen dieser Situation ( ... ). Nur selten gelingt es den Jugendlichen, aus dem Zwang zur horizontalen Aggressionsverteilung auszubrechen. Wenn der Druck unerträglich wird (vor allem in geschlossenen Heimen), kann es geschehen, dass es einem oder mehreren Zöglingen gelingt, die Aggression zu organisieren beziehungsweise zu kanalisieren und sie dort zu lokalisieren, wo sie nach dem Empfinden der Eingeschlossenen entsteht. Vor einiger Zeit wurde zum Beispiel in einem Heim des Landschaftsverbands Rheinland ein Erzieher erschlagen; zuvor war es in diesem Heim schon zum Totschlag eines Jungen durch andere Zöglinge gekommen. Jahrelanger praktischer Umgang mit diesen Jugendlichen hat bewiesen, dass sie nicht einfach von sich aus ein größeres, hochexplosives Aggressionspotential' haben, sondern eher besonders sensibel in solchen Gruppensituationen reagierten, in denen sich ja nur konsequent die Struktur der ganzen Einrichtung widerspiegelt. Den, Rädelsführern’ solcher, Bambulen’ wird dann von den Jugendgerichten der Prozess gemacht und sie werden verurteilt, weil hier ein Exempel statuiert werden soll. Sie werden zu Sündenböcken, stellvertretend für das unmenschliche System, das es eigentlich anzuklagen gilt. In vielen Berichten von Erziehern aus der Heimpraxis werden solche Vorgänge in Erziehungsgruppen beschrieben ( ... ), an denen die Erzieher mehr oder weniger bewusst beteiligt waren." (Kappeier 1971)
Die kritisierten Verhältnisse/Zustände in der Heim- und Fürsorgeerziehung der Nachkriegszeit waren der Fachöffentlichkeit, den Gesamtverantwortlichen und für die Fachaufsicht zuständigen Länderministerien beziehungsweise den Landesjugendämtern und dem für die jugendpolitischen Rahmenbedingungen zuständigen Bundesministerium allerdings von Anfang an bekannt.
1950 schrieb Hanns Eyferth, Reformpädagoge und Mitbegründer der "Gilde Soziale Arbeit", das Erziehungsziel der Heimpädagogik sei ein "durch Gehorsam erzwungenes vorschriftsmäßiges Verhalten Dominant seien ältere traditionelle Erziehungsauffassungen von selbstverständlicher Gehorsamspflicht, konfessionelle Vorstellungen und militärische Vorbilder". Die Pädagoginnen und Pädagogen bezeichnete er als "Aufseher". In den Kinderheimen, so Eyferth, müssen "schulpflichtige Kinder die ganze Hausreinigung, die grobe Küchenarbeit, das Holzhauen, die Botengänge und den größten Teil der Ackerarbeit bewältigen". Durch die Arbeit der Kinder und Jugendlichen sparen die Träger der Heime Personalkosten ein. Die Kinderarbeit in den Heimen und die Verweigerung von freier Zeit für selbstbestimmtes Spielen bezeichnet Eyferth als gesetzwidrige Ausnutzung und eine Gefährdung der schulischen Entwicklung der Kinder. Er fordert - 1950 - den .Neuaufbau des Systems der öffentlichen Erziehung, um den noch immer stark spürbaren Zwangscharakter der Anstaltserziehung, die Diffamierung der, Zöglinge’ und die gesetzliche Sonderstellung der Fürsorgeerziehung abzuschaffen". An ihre Stelle müsse eine systematisch an demokratischen Grundsätzen orientierte Erziehung treten: "Die Heimerziehung muss ihrem Sonderdasein entrissen werden ( ... ). Entscheidend bleibt freilich, mögen die Gesetze noch so freiheitlich gestaltet sein, dass die Menschen und Einrichtungen gefunden und entwickelt werden, die solche Gedanken zur Erziehungswirklichkeit werden lassen." Sie fanden sich in den folgenden fünfundzwanzig Jahren nicht oder blieben Modelleinrichtungen, die nicht in der Fläche umgesetzt wurden. Ein an freiheitlichen und demokratischen Grundsätzen orientiertes Gesetz trat mit dem jetzt geltenden Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG/SGB VIII) erst am 1.1.1991 in Kraft.
In einer 1952 an der Universität Münster eingereichten Dissertation „Über den Lebenserfolg ehemaliger schulentlassener weiblicher Fürsorgezöglinge", in der die Verfasserin den Lebensweg von dreihundert jungen Frauen untersuchte, heißt es zur Berufsausbildung, dass eine berufliche Qualifizierung, die eine Verbesserung des Status gegenüber der Zeit vor der Anordnung der Fürsorgeerziehung bedeutet hätte, in keinem der Heime und bei keinem der dreihundert Mädchen erreicht worden sei:
"Die Mädchen wurden in allen Heimen ziemlich gleichartig mit Garten-, Haus-, Land-, Wäsche-, Bügel- oder Näharbeiten beschäftigt. Es ist heute noch allgemein üblich, die weiblichen Zöglinge zu ländlichen oder städtischen Dienstboten auszubilden." Es sei ein Irrtum zu glauben, "die Verwahrlosten gerade mit der primitivsten Arbeit kurieren zu können."
In dem Standardwerk "Handbuch der Heimerziehung" werden in dem Stichwort-Artikel "Grundlagen der Heimerziehung 11" als Hauptprinzipien der Erziehung das „Ertüchtigungsprinzip" und das "Besserungs- und Korrektionsprinzip" kritisiert:
"Wie die Fürsorgeerziehung beweist, schließt die Ertüchtigung den Zwangscharakter des Erziehungssystems nicht aus. Sie erfordert eine rationale Durchgestaltung der Erziehung ( ... ). Die Methode herrscht. Die Ordnung des Zusammenlebens erstrebt die erhöhte Brauchbarkeit des Zöglings. Das Erzieher-Zöglingsverhältnis ist autoritär. Selbst Einflüsse der Jugendbewegung konnten diese, in der Sache liegende Zuordnung, nicht überwinden. Lehrer, Meister und Erzieher fordern als Vertreter objektiver Ansprüche Gehorsam Deshalb gilt die gehorsame Unterordnung unter den Anspruch von Ordnung als Erziehungserfolg. Die menschliche Zuordnung dient den Ordnungs-, Lehr- und Arbeitsansprüchen. Das Besserungs- und Korrektionsprinzip entspringt einer Auffassung, die den Rechtsbrecher als schlecht oder verdorben behandelt: Er lebt ein nichtswürdiges Leben Das Besserungsprinzip will im Interesse der Rechtsordnung die Verderbnis bekämpfen und mit den Mitteln einer zwingenden Gewöhnung den Verderbten in die Gesellschaftsordnung zurück führen.
Unerbittlich hart werden Ordnungs- und Arbeitsgewöhnung organisiert. Die Dressur überwiegt das Bedürfnis, Einsicht zu wecken, die Entschlossenheit der Macht, die das Ordnungssystem schützt. lässt überall den Strafcharakter noch durchschimmern. Die eindeutige Ausrichtung auf ein geordnetes und arbeitshartes Leben macht die Anstalt einfach, klar und durchsichtig. Der Apparat garantiert die Ordnung, die Leitung ordnet die Arbeit an, überwacht sie und bricht den Widerstand mit Gewalt. Drill, blinder Gehorsam und die Entpersönlichung des Verkehrs werden auf die Spitze getrieben. Der Anstaltsapparat mit seinem pädagogisch unvorgebildeten Aufseherstab bildet den äußeren Rahmen des versachlichten Lebens. Es wird unentwegt gearbeitet, um die Kraft der anderen Triebe zu schwächen: den Genusstrieb, den Spieltrieb, den Beharrungstrieb und den Kampftrieb. Die Arbeit richtet sich gegen körperliche Verweichlichung. Schwere körperliche Arbeit wird bevorzugt. Die Ausbildung in spezialisierte Arbeit von Lehr- und Anlernberufen wird als seltene Vergünstigung und als Arbeitsantrieb benutzt."

1958 fordert die Kinder- und Jugendpsychiaterin und Psychoanalytikerin Annemarie Dührssen in ihrem Klassiker "Heimkinder und Pflegekinder in ihrer Entwicklung" ein "großzügig angelegtes Doppelprogramm", um dem Elend der Kinder in öffentlicher Erziehung abzuhelfen. Die notwendige Vermehrung des Personalbestands müsse "mit sorgfältiger fachlicher Ausbildung" verbunden sein. Dührssen glaubt aber nicht, dass die dafür erforderlichen umfangreichen finanziellen Mittel von der Politik und den Trägern der Kinder- und Jugendhilfe zur Verfügung gestellt werden. Dann aber sollte "eine solche Situation als das anerkannt werden, was sie in Wirklichkeit ist: nämlich eine Härte des Lebens" für die Kinder. "Womit wir unbedingt aufhören müssen, das ist die Beschwichtigung unseres Verantwortungsgefühls mit der Vorstellung, dass die Schäden, die bei der bisherigen Form entstehen, nicht so schlimm' seien, dass sie sich auswachsen, oder dass sie letzten Endes doch konstitutionsbedingt seien. Es ist sachlich besser und menschlich aufrichtiger, wenn man ein erstrebtes Ziel für unerreichbar erklärt, als wenn man sich, um das eigene Unvermögen nicht zugeben zu müssen, mit Hilfe von nebelhaften Vorstellungen über wissenschaftliche Einsichten hinweg setzt, die mindestens seit einem halben Jahrhundert zum Kenntnisbestand der Medizin, der Psychologie (und der Reformpädagogik, M.K.) gehören."
Bereits 1956 befasste sich der AGJJ-Fachausschuss "Erziehung im frühen Kindesalter" mit der Lage der "Säuglinge und Kleinstkinder in Heimen":
"Die Zahl der Pflegerinnen in den Heimen ist überall zu gering. Wenn zum Beispiel zwei Pflegerinnen für 35 Kinder eingesetzt werden, so zeigt das, wie wenig die menschliche Aufgabe, die bei der Pflege von kleinsten Kindern zu leisten ist, gesehen wird. Kinder aus solchen Heimen bleiben in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung weit zurück, so dass sie nicht selten wie Schwachsinnige wirken. Grundlegende menschliche Erfahrungen, die das Kind zunächst nur im Umgang mit den vertrauten Erwachsenen macht und die es erst danach in der Auseinandersetzung mit den Dingen vertieft, fehlen ihm. Das junge Kind ,sollte' von einem liebenden Du aufgenommen und umfasst sich in der Welt finden - geborgen in einem Raum, den das Wissen der Mutter erhellt, der in der Wärme ihrer sorgenden Liebe zum Raum der Heimat wird. Stattdessen findet es in den Heimen eine Vielzahl von Menschen, die sich abwechseln und die zu erfassen ihm die seelische Kraft fehlt. ( ... ) Der ganze Umfang des Mangels, von dem das Heimkind betroffen wird, wird auf diesem Hintergrund erst deutlich. Nicht nur in der äußeren Entwicklung nimmt es Schaden, es entbehrt entscheidende, die Person des Menschen prägende Erfahrungen Die Auswirkungen dieser menschlichen Verkümmerung, zum Beispiel Kontaktmangel, Misstrauen, vermindertes Selbstbewusstsein, Abwehrreaktionen, reichen tief und weit in das spätere Leben hinein. Wir wissen heute, dass die Gesamthaltung zum Leben von diesen ersten Erfahrungen abhängt. Aus solchen Erkenntnis ergibt sich zwingend, dass das Problem der Heimerziehung der Säuglinge und kleinen Kinder neu gesehen werden muss und nach neuartigen, besseren Lösungen verlangt."
In Heft 3/1957 der Zeitschrift "Unsere Jugend" berichten Schülerinnen einer Wohlfahrtsschule von ihren Erfahrungen aus der Praktikumszeit in Säuglings- und Kleinkinderheimen, Säuglingskrankenhäusern und Krippen:
"Die meiste Arbeit wurde von Schwesternschülerinnen gemacht. Wir waren zu wenig Kräfte, konnten uns deshalb nicht mit den Kindern beschäftigen. Ja, es war geradezu verpönt, wenn eine von uns an einem Bettchen saß und mit so einem Kleinen spielte. ( ... ) Aß ein Kind nicht richtig und rasch genug, so hatten wir keine Zeit, uns länger damit zu befassen. In der Nachwache war für dreißig schwerkranke Kleinkinder nur eine Schwester da. Da mussten immer zwei Kinder auf einmal gewickelt werden. Ich sah, wie die Kleinen oft erschraken, wann sie so gepackt, ausgewickelt und trocken gelegt wurden. Man konnte kein Wort mit so einem kleinen Würmchen reden. Ich hatte das Gefühl, dass sie dies notwendig gebraucht hätten. Es hieß nur immer: Wie schaffe ich es bis sechs Uhr? Schrie ein Kind nach der Besuchszeit, bekam es ein Beruhigungsmittel. Mit Beruhigungsmitteln ging man sehr großzügig um. Bei einer Visite hieß es oft: „Schwester, die Kinder sind unruhig, geben Sie ein Beruhigungsmittel!"
Auf dem 2. Deutschen Jugendhilfetag 1966 befasste sich eine Arbeitsgruppe mit dem Thema "Das Erziehungsheim als Bildungsstätte". In ihrem Bericht wird beklagt, dass die Heimerziehung bezogen auf Kleinkinder und Säuglinge versage: "Der immer noch blühende Säuglingshospitalismus ist eine der stärksten Wurzeln für Erfolglosigkeit im Bildungsbemühen der Heimerziehung." Die Arbeitsgruppe kritisiert, dass "bei dem bestehenden Erziehermangel (keine ausgebildeten Kräfte!)" die Heimerziehung ihre wachsenden Aufgaben immer weniger erfüllen könne. Die Heimerziehung könne die Kinder und Jugendlichen "nicht genügend auf das Leben vorbereiten, wenn sie nur im Heim, also insular" erzogen würden.
In den "Mitteilungen" der AGJ 70/1974 sind "Forderungen der Deutschen Sozialpädiatrie zur Heimpflege von Säuglingen und Kleinkindern" abgedruckt. Darin heißt es:
"Trotz einer Flut von Veröffentlichungen über die Gefahren einer Heimpflege in der frühen Kindheit ist auch aus neuesten Untersuchungen zu entnehmen, dass diese auch in modernen Heimen nicht gebannt sind. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich diese Schäden für die Betroffenen, damit aber auch für die Gesellschaft, lebenslänglich auswirken werden. ( ... ) Der fernere Lebenslauf eines großen Teils ehemaliger Heimkinder bedeutet eine ständige Anklage gegen die Gesellschaft."
1971 führte Klaus Mollenhauer mit Assistenten und Studierenden des Pädagogischen Seminars der Universität von Frankfurt am Main im Auftrag des Hessischen Sozialministeriums eine Untersuchung in sechs Hessischen Kinder- und Jugendheimen durch. Das Resümee dieser Studie:
"Eine Erziehung, die an den spezifischen Erziehungsbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert wäre, konnte in keinem der untersuchten Heime beobachtet werden. Die ermittelten Zielvorstellungen und die beobachteten, ihnen zugeordneten () Methoden sind zugeschnitten auf abstrakte Normen, Einstellungs- und Verhaltensmuster, ohne dass deren Gültigkeit problematisiert würde, weder generell, noch in Bezug auf die Population, auf die sie gemünzt sind. In diesem institutionellen und personellen Organisationszusammenhang werden die Kinder und Jugendlichen als Störfaktoren definiert In diesen Strukturen kann die ihnen abverlangte Anpassung selbst ihrer, ganz normalen Bedürfnisse' an die vorgegebene Organisation nicht erreicht werden. Wenn Anpassung der Kinder und Jugendlichen an die Erfordernisse der Organisation somit de facto als der Erziehungszweck des Heimes ausgemacht werden kann, so entspricht dem, dass eine im eigentlichen Sinn pädagogische Konzeption entweder gar nicht oder nur in unzulänglichen Ansätzen vorhanden ist."
Einen wesentlichen Beitrag zur Kritik der Heimerziehung und zur Ausweitung der Heimkampagne auf das ganze Bundesgebiet leistete die Journalistin Ulrike Meinhof. Vor allem mit ihren Rundfunk-Reportagen hatte sie eine große Wirkung. Zum Beispiel mit dem Bericht "Mädchen in Fürsorgeerziehung" , der im November 1969 vom Hessischen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Ich zitiere aus dem Manuskript zu dieser Sendung:
"Es ist verboten, zu rauchen. Es gibt keine Ausnahme. ( ... ) Es ist verboten, bei der Arbeit zu reden. Es ist verboten, eigene Sachen zu verschenken oder zu tauschen. Nur an Sonn- und Festtagen und an Besuchstagen dürfen eigene Kleider - allerdings keine langen Hosen - getragen werden. Offenbar, damit die Eltern die Heimkleidung nicht sehen. Es ist verboten, einen Pony ohne Klammer zu tragen. Schminkverbot. Schreibverbot. Nur alle vierzehn Tage an die nächsten Verwandten - Eltern und Großeltern. Es ist verboten, zu pfeifen. Tanzverbot. Bei Radiomusik muss gehandarbeitet oder gebastelt werden. Laut reden ist verboten. Freundschaften sind verboten. Nachts im Bett heulen ist verboten. Außerdem: Haare toupieren, nicht aufessen, Beat-Musik, Illustrierten lesen"
Unter der Überschrift "Strafmittel" schreibt Ulrike Meinhof:

Unter der Überschrift „Erziehunqsziel und -methode" schreibt Ulrike Meinhof:
"Der Erziehungsprozess, der mit den beschriebenen Maßnahmen in Gang gesetzt werden soll, zielt darauf, dass das Verhalten, das im Heim durch Gewalt, durch totale Kontrolle, durch Strafen und Verbote erzwungen wird, mit der Zeit verinnerlicht wird. Wird die Fügsamkeit des Zöglings zunächst durch Gewalt und Zwang hergestellt, so soll am Ende der Heimzeit sich eben diese Fügsamkeit verselbständigt haben ( ... ) Als ErzIehungserfolg wird die Verinnerlichung der Zwange verbucht."
Weiter heißt es in ihrem Bericht: "Und dann hauen natürlich viele und immer wieder ab. Sie springen aus den Fenstern, sie lassen sich die Dachrinnen runter:
Beckenbrüche, Rückgrat-Verletzungen, Arm- und Beinbrüche sind an der Tagesordnung. ( ... )

Konsequent autoritäre Erziehung setzt insofern die Isolation der Zöglinge voraus. In dem Maße, in dem sie isoliert sind, sind sie auch wehrlos, das heißt beeinflussbar. Die Mädchen in dem Heim, von denen diese Sendung handelt, sind radikal isoliert. Nicht nur gegenüber der Außenwelt, auch die Gruppen leben voneinander isoliert. Wenn Mädchen aus verschiedenen Gruppen, nämlich bei der Arbeit, zusammenkommen, dürfen sie nicht miteinander reden. Das Gruppenleben wird von der Gruppen-Erzieherin bestimmt. ( ... ) Die Zeit vom Aufstehen bis zum Schlafengehen ist kontrollierte Zeit. Autoritäre Erziehung ist Erziehung rund um die Uhr."
Dieses Fürsorgeerziehungsheim für Mädchen in Guxhagen bei Kassel wurde schließlich 1973 geschlossen. In dem alten Kloster, in dem es untergebracht war, befand sich im neunzehnten Jahrhundert eine sogenannte Korrektur-Anstalt für sogenannte Arbeitsscheue, die nach 1900 als "Arbeitshaus" weitergeführt wurde. In den vierziger Jahren machten die Nationalsozialisten ein Konzentrationslager für Frauen daraus, und nach dem 8. Mai 1945 wurde daraus, mit zum Teil identischem Personal, eine Fürsorgeerziehungsanstalt für sogenannte verwahrloste Mädchen. In den Jahren 1969/70 arbeitete Ulrike Meinhof in einem Berliner Fürsorgeerziehungsheim für Mädchen an dem Drehbuch zu einem Film "Bambule - Fürsorge - Sorge für wen?', der im April 1970 gedreht wurde. ( ... ) Der Wagenbach-Verlag veröffentliche den Text des Drehbuchs 1971. Das Buch hatte viele Ausgaben mit einer Auflagenzahl von ungefähr siebzigtausend Exemplaren.
Dem Drehbuch-Text sind Vorbemerkungen vorangestellt, die Klaus Wagenbach aus Rundfunk-Sendungen von Ulrike Marie Meinhof entnommen hat. Ich zitiere aus diesen Vorbemerkungen
"Weil Fürsorgeerziehung dazu dient, den Jugendlichen zu disziplinieren, hat sie Strafcharakter, kann damit gedroht werden, wenn Du nicht artig bist, kommst du ins Heim'. , Wenn sich das Schule schwänzen Ihrer Tochter wiederholt, werden wir nicht umhin kommen, Heimeinweisung zu beantragen!' In bürgerlichen Familien sind das leere Drohungen. In proletarischen Familien sind sie realistisch, ernst zu nehmen.
Da vom Heim der Vollzug der Drohungen erwartet wird, nimmt es nicht Wunder, dass das Heim der Vollzug der Drohungen ist.
Heimerziehung, das ist der Büttel des Systems, der Rohrstock, mit dem den proletarischen Jugendlichen eingebläut wird, dass es keinen Zweck hat, sich zu wehren, keinen Zweck, etwas anderes zu wollen, als lebenslänglich am Fließband zu stehen, an untergeordneter Stelle zu arbeiten, Befehlsempfänger zu sein und zu bleiben, das Maul zu halten.
Fürsorgeerziehung ist öffentliche Erziehung, da können die Eltern nicht mehr reinreden, da macht der Staat, was er für richtig hält. Heimerziehung ist insofern ein exemplarischer Fall von Erziehung - an der Situation von Fürsorgezöglingen ist ablesbar, welche Erziehungsvorstellungen in einem Staat herrschend sind.
Der äußere Zwang im Heim soll jenes Wohlverhalten erzwingen, von dem man offenbar glaubt, dass es - lange genug erzwungen - verinnerlicht und zur Gewohnheit wird. ( ... )
Mädchen im Heim bekommen keine Ausbildung. Sie arbeiten für 20 Pfennig die Stunde in der Wäscherei, in der Heißmangel, in der Küche, im Garten, in der Nähstube. Industriearbeit im Heim besteht aus Tüten kleben, Lampenschirme montieren, Besteck-Kästen mit Seidenstoff füttern, Puppen anziehen - ideotisierende, ungelernte Industriearbeit. Nicht einmal für den Haushalt werden sie ausgebildet im Heim: Nähte von Weißwäsche rauf und runter nähen, Nähte von Brauereischürzen, Laken heiß mangeln, den Hof fegen - davon lernt man nicht, Wirtschaftsgeld einteilen, Einkaufen, Kochen ( .. )
Zu Diskriminierung dieser Jugendlichen gehört ihre Unglaubwürdigmachung. Das betrifft nicht nur sie, auch ihre Eltern und Freunde. In der Klassengesellschaft ist Armut Schande, der Kriminalität benachbart. Arme sind unglaubwürdig. Also wird man sagen, was hier berichtet werde, das sei unglaubwürdig. Dabei wird von Seiten der Fachleute und Beamten mit dem Wahrheitsbegriff der Akten- und Behördeneintragungen hantiert werden."

Einer der wichtigsten Zeugen für die Verhältnisse in Kinder- und Fürsorgeerziehungsheimen bis weit in die siebziger Jahre war Martin Bonhoeffer:
Erziehungswissenschaftler, Sozialpädagoge, Leiter der Heimaufsicht des West-Berliner Jungendministeriums im Range eines Regierungsdirektors von 1969-1975. Leiter der "Kommission Heimerziehung", die 1973 von den Obersten Landesjugendbehörden eingesetzt wurde, um "Strategien zur Verwirklichung der sozialpädagogischen Ziele" zu erarbeiten, die in Folge der .Heimkampagne" fachlich und jugendpolitisch definiert worden waren.
Bonhoeffer war seit 1973 auch im Vorstand der IGfH (Internationale Gesellschaft für Heimerziehung) Der von ihm vorgelegte "Zwischenbericht der Kommission Heimerziehung" gilt heute als einer der Meilensteine auf dem langen Weg der Reform der Jugendhilfe.
Bonhoeffer sagte 1973 in einer Rede an lässlich der Verleihung eines Jugendhilfepreises an ihn:
„Erzieherwechsel - Kameradenwechsel - Gruppenwechsel - Wechsel von Heim zu Heim - vom Heim zur Pflegestelle und wieder ins Heim ( ... ) Wer noch nicht schwierig ist. der wird es. Ja, wer gesund ist und sich einen Rest eigener Person bewahrt hat, muss böse werden. Dann kommt es zur sogenannten Verlegung. ( ... ) Die Verlegungsangst ist das letzte und latent wirksame Disziplinierungsmittel eines jeden Heims ( ... ). Abschieben, bestenfalls in ein Spezialheim zuvor noch in ein Beobachtungsheim und schließlich in die Endstationen mit Gittern. Die Selektion wird fachlich verbrämt mit dem Schwindel der sogenannten Heimdifferenzierung." Heimerziehung organisiert umfassend das gesamte Lebens- und Lernfeld der Kinder und hat "sich ihrer total bemächtigt. (...)“
"Was bedeutet es für ein Kind, wenn es erfährt:
- Meine Eltern geben mich auf;
- Meine Eltern betreiben, dass ich ins Heim komme;
- Meine Eltern sind gleichgültig oder zu schwach, das zu verhindern?
Hier geht die Welt kaputt. Worauf kann ein Kind sich noch verlassen nach dieser Erfahrung? Mit Urmisstrauen geht es ins Heim, wo ihm in der Regel mit Misstrauen begegnet wird, wo
- fremde Erwachsene beanspruchen, alles zu erfahren über mich und alles für mich zu regeln,
- fremde Erwachsene bestenfalls sich anmaßen, mich lieben zu wollen.
Kein Kind kann sich dem entziehen und verrät zugleich sich selbst und alles, was ihm wert ist.
Was folgt nach diesem Anfang? Es folgt das hundertfache hoffungsvoll-hoffnungslose Knüpfen und Abreißen aller menschlichen Beziehungen. Die Erzieher wechseln ( ... ) Auch die anderen Kinder kommen und gehen. (... )"
Bonhoeffers Stellvertreter in der Heimaufsicht des Berliner Landesjugendamtes, Peter Wiedemann, erinnerte sich 1989 auf einem Symposion der Universität Tübingen an die Berliner senatseigenen Erziehungsheime:
Ich erinnere mich an große Festungen, an Mauern und Stacheldraht, Gitter, die regelmäßig nachzusehen waren, ob sie noch haltbar sind, in allen Heimen gab es Pförtner, die ohne Nachweis keinen rein oder raus ließen, da waren die Zellen, .Bunker', die zum Teil keine Toiletten hatten, die Kinder und Jugendlichen mussten sich durch Klingeln bemerkbar machen Manche Heime waren in Baracken untergebracht, schlimmer noch empfanden wir aber diesen riesigen Neubau des Hauptkinderheims, wo mehr als vierhundert Kinder, auch Säuglinge untergebracht waren. Ein klinischer Bau, ein Labyrinth, wo man nicht so recht den Ein- und Ausgang fand, wo Sachbeschädigungen, Bambulen der Kinder keine seltenen Ereignisse waren. ( ... ) Fast überall waren die Bauten und Räume in einem furchtbaren Zustand ( ... ). Es gab kaum Wohneinheiten, die Versorgung war weitestgehend zentralisiert. Ich erinnere mich an die antiquierten Werkstätten, den Zwanzig-Pfennig-Stundenlohn, an die Macht der Diagnostiker und Gutachter, die tatsächlich glaubten, man könne die Kinder in eingesperrter Situation authentisch erleben, ihnen näher kommen Ich sehe vor mir unsichere, devote, distanzierte Erzieher im Büro sitzen, die vielen Schlüssel, das Auf- und Zusperren, die Dienstbücher, Wäschebucher, Entweichungsbücher, die Bücher für ,besondere Vorkommnisse'. Es gab auch blau-grüne Anstaltskleidung. Exemplarisch für dieses Zurichten in den Heimen waren Strafen wie Einsperren, Lohnentzug, Taschengeldentzug, Ausgangssperre, zwangsweises Haarschneiden, Bartschneiden, auch aus hygienischen Gründen. Der morgendliche Appell. Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre nahmen die Sachbeschädigungen in den Heimen und tätliche Angriffen der Jugendlichen und Kinder auf Erwachsene zu. Ein furchtbares Kapitel waren die zwangsweisen Untersuchungen der entwichenen Mädchen auf Geschlechtskrankheiten; im Hauptpflegeheim stürzten sich verzweifelte Mädchen aus dem Fenster. Unsere Arbeitsbelastung war unbeschreiblich." (Wiedemann in Fromann/Becker 1996, S. 119f)

1970 veröffentlicht der renommierte Klett-Verlag eine von Herrmann Wenzel im Auftrag des Landeswohlfahrtsverbandes Süd-Württemberg durchgeführte Untersuchung in drei Fürsorgeerziehungsheimen für männliche Jugendliche: einem staatlichen, einem katholischen und einem evangelischen (Wenzel 1970). Die Zugangswege in die Fürsorgeerziehung und die Bereiche des Heimalltags von dreihundertneunzehn Jugendlichen werden minutiös dargestellt und sozialpädagogisch und jugendhilferechtlich bewertet. Die Befunde sind erschütternd. Aus dem Resümee:
"Deutsche Fürsorgeheime wurden schon 1947 von einer Delegation scharf kritisiert, die vom britischen Innenministerium entsendet worden war. Inzwischen sind mehr als zwei Jahrzehnte verflossen: die Kritik der britischen Delegation hat aber ( ... ) nichts an ihrer Aktualität eingebüßt."

Die Befunde seiner Untersuchung, so Wenzel, seien lediglich eine Bestätigung seit langem bekannter Tatbestände. Je mehr Untersuchungen gleiche Missstände und Mängel aufzeigen, desto gültiger und dringender werde das Postulat "in der Erziehungshilfe neue Wege zu gehen. ( ... ) Der Misserfolg der Heimerziehung liegt weitgehend im Versagen der Heime und Behörden gegenüber ihren Aufgaben begründet. Dieses Versagen ist nicht nur ( ... ) mit der großen äußeren Not der Heime zu begründen und zu entschuldigen. In starkem Maße begründen dieses Versagen auch organisatorische, methodische und inhaltliche Mängel der Heimerziehung."

Aus alledem folgt für die aktuelle Debatte über die Heimerziehung der vierziger bis siebziger Jahre: Die öffentlichen und freien Träger der Jugendhilfe stehen in der Verantwortung für die Organisation der Heime als Systeme struktureller Gewalt. Als Arbeitgeber mit Fürsorgepflicht für die Angestellten tragen sie Verantwortung für die Arbeitsbedingungen, die sie dem erzieherischen Personal zugemutet haben. Als Heimaufsicht- und Dienstaufsichtführende tragen sie Verantwortung für das Handeln des Personals an den Kindern und Jugendlichen.

Die öffentlichen Träger der Jugendhilfe - Jugendämter, Landesjugendämter, Landschaftsverbände, Landeswohlfahrtsverbände - und das gesamte Vormundschaftswesen vom Einzelvormund über die Amtsvormundschaft und Vereinsvormundschaft bis hin zu den Vormundschaftsgerichten und schließlich die Jugendgerichte, die Fürsorgeerziehung anordneten, haben die Verantwortung dafür, dass und wie Kinder und Jugendliche in die Heime kamen und dafür, wie sie sie weiter begleitet beziehungsweise nicht begleitet haben. Der Erziehungspraxis im Heim ist die Beurteilungs- und Entscheidungspraxis im sogenannten Vorfeld der Heimerziehung, also der gesamte "Weg ins Heim" vorgeschaltet. Er ist untrennbar mit der Praxis der Heimerziehung verbunden.

Für das direkte unmittelbare Handeln an den Kindern und Jugendlichen müssen die Erzieher und Erzieherinnen und die Heimleitungen, die die Schaltstelle zwischen dem System beziehungsweise der Organisation und dem Heimalltag bildeten, die Verantwortung übernehmen.
Auf allen angesprochenen Ebenen handelt es sich um öffentlich zu diskutierende und zu regelnde Verantwortung mit dem Ziel von Rehabilitation und Entschädigung ehemaliger Heimkinder.

Was Heimkinder und Jugendliche, die in diesem System leben mussten, sich untereinander angetan haben, soll nicht verschwiegen werden und gehört zur Aufklärung des Gesamtgeschehens. Diese Verantwortung bleibt auf der Ebene der individuellen Gewissensprüfung im Prozess der biografischen Selbstreflexion. Die öffentliche Verantwortung für die Leiden, die sich die "Insassen", um hier den Ausdruck Goffmans zu gebrauchen, untereinander zugefügt haben, fallen zuletzt auf die Verantwortlichen für das System zurück, das soziale Beziehungen in der Relation von Macht und Ohn-Macht produziert hat.

Grundlagen meiner Ausführungen:

Literatur

Einige Zahlen zur Situation der Heimerziehung in den fünfziger bis siebziger Jahren. Quellen: Jahresstatistiken des Statistischen Bundesamtes und andere Veröffentlichungen und Forschungsberichte.

1969 waren auf der Grundlage

FEH und FE waren unterschiedliche Rechtsgrundlagen. Die Unterbringung und Erziehung erfolgte in denselben Einrichtungen und unterschied sich in der Praxis nicht.
Eine Auswertung der statistischen Angaben zur Heimunterbringung in den dreißig Jahren von 1950-1980 ergibt eine Zahl von circa vier Millionen (zusammengerechnete Jahreszahlen). Wenn man diese Zahl in Beziehung setzt zu einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von etwa dreieinhalb Jahren, kommt man auf ca 800000 bis 900.000 Kinder und Jugendliche, die in den fraglichen dreißig Jahren in stationärer öffentlicher Erziehung waren
Im Einzelfall konnte der Heimaufenthalt wenige Monate dauern, aber auch einundzwanzig Jahre, also von der Geburt bis zur Volljährigkeit. Circa 22% der Kinder und Jugendlichen waren länger als drei Jahre im Heim. Wie viele Ehemalige heute noch leben, wird nicht feststellbar sein Bekannt ist, dass einige nach der Entlassung aus der Heimerziehung ausgewandert sind, weil sie mit dem Stigma "Heimkind" beziehungsweise "Fürsorgezögling" in Deutschland nicht mehr leben wollten.
Für wie viele Menschen ein Ausgleich für entgangene Rentenanwartschaften und andere Formen der Entschädigung gefunden werden müsste, kann derzeit niemand sagen. Bisher haben sich circa fünfhundert Frauen und Männer beim "Verein der ehemaligen Heimkinder ev ", bei Journalistinnen, bei Trägern der Jugendhilfe und bei Hochschullehrerinnen gemeldet. Aufgrund der öffentlichen Diskussion, vor allem in den Medien, wächst die Zahl langsam aber stetig.

Zahlen zum Qualifikationsniveau des Fachpersonals in den Heimen:
1969 ca. 100.000 "Angestellte in der Tätigkeit eines Erziehers" (offizieller Terminus). Davon 17.000 mit pädagogischer Berufsausbildung und 73.000 unzureichend oder gar nicht qualifiziert.
Es gab in der Bundesrepublik 21 Fachschulen für Erzieherinnen, die zusammen jährlich ca. 500 Absolventinnen entließen Bei gleichbleibendem Bedarf wäre bei dieser Kapazität der Fehlbedarf im Jahre 2106 gedeckt gewesen.

Eine differenzierte Fehlbedarfsberechnung legte der Hessische Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen vor. Demnach wäre der Bedarf an
ausgebildeten
- Kinderpflegerinnen in 15 Jahren
- Heimerzieherinnen in 96 Jahren
- Kindergärtnerinnen in 135 Jahren
- Sozialarbeiterinnen in 36 Jahren
behoben gewesen.

Zu den baulichen Verhältnissen:
Nach einer Erhebung des AFET (Allgemeiner Fürsorgeerziehungstag ¬Dachorganisation der Träger der Heim- und Fürsorgeerziehung) von 1964:
Bei 73% der Heime bestand ein hoher Erneuerungsbedarf, der auf 900 Millionen DM geschätzt wurde.
Zum Vergleich: Der Jahresetat für die gesamte Heimerziehung betrug 1967 290 Millionen DM. Das waren 46% des gesamten Etats für die Jugendhilfe 1967 betrug der Etat des Verteidigungsministeriums 20 Milliarden DM.

Eine letzte Zahl:
Nach Berechnungen von Martin Bonhoeffer aus 1973 besuchten 1 % der Kinder und Jugendlichen in öffentlicher Erziehung eine weiterführende Schule.
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